Busfahren in Neuruppin

Der Ortsfremde, Berliner und Anfang siebzig, erreicht den Südrand von Neuruppin. Er ist zwanzig Kilometer zu Fuß gegangen und will den Bus zum Bahnhof nehmen. Und er hat Glück: Schon in ein paar Minuten geht der nächste. Die Endhaltestelle liegt vor einem Wohnheim in einem Gewerbegebiet. Es gibt einen Stopp zum Aussteigen wie für die Pause und einen zum Einsteigen. Sonst wartet noch keiner hier.

Der Bus nähert sich zwei Minuten vor der Zeit. Er hat nicht beim Ausstieg gehalten, an seiner Stirnseite schon der Name der kommenden Endstation. Die Vordertür öffnet sich, der Fremde will einsteigen, die Chipkarte gezückt. Der Fahrer verwehrt es ihm: Es sei zu früh, es müsse noch etwas umgestellt werden. Der Fremde stellt sich vor der Tür rechts an. Links verlässt gerade eine junge Frau als Letzte den Bus. Der Fahrer steigt ihr rasch nach und beginnt ein Gespräch mit ihr, wohl nicht zum ersten Mal. Sie reden Englisch, es geht um den Alltag der jungen Frau. Der Kopf des Fahrers kommt ihrem sehr nahe. Er wird sie doch nicht küssen wollen? Stattdessen streckt er die Rechte vor, scheint an etwas herumzufummeln.

Jetzt trittt ein älterer Mann hinzu, jünger als der aus Berlin. Der Fahrer begrüßt ihn wie einen alten Bekannten und fragt nach Ziel und Wünschen. Es heißt: Da werden wir uns doch gleich drum kümmern … Der Fahrer kehrt in den Bus zurück, den weiteren Fahrgast im Schlepptau, auf ihn einredend. Der Berliner besteigt die kleine Treppe und bleibt weiter wartend auf der unteren Stufe stehen. Nicht schlimm, wenn einer vorgezogen wird.

Der Fahrer kennt den weiteren Ablauf schon. Der Kunde soll wieder die Münzen in die Mulde legen. Es handelt sich um achtzehn Euro sechzig, die nur in kleinen Messingmünzen bezahlt werden, lauter Zehn- und Zwanzig-Cent-Stücke. Es wird genau nachgezählt und dauert vier Minuten, bis alles erledigt ist. Inzwischen hat sich ein Jungmänner-Trio vorbeigequetscht, ihre Handys mit Apps bloß von weitem vorzeigend. Zum Auslesen werden sie zurückgerufen. Dann erst kann der noch immer Geduldige seine Chipkarte auf die Platte legen und ist in drei Sekunden durch. Der Fahrer ignoriert ihn dabei weiter. Auf dem Weg in die Mitte kommt dem Berliner noch der mit den Münzen entgegen. Weiter hinten hat es ihm nicht behagt, er sucht wieder die Fahrernähe. Man zwängt sich aneinander vorbei.

Endlich darf auch der Ortsfremde niedersinken. Muss Busfahren so anstrengend sein? In Neuruppin?
 
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Rachel

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@Muss Busfahren so anstrengend sein? In Neuruppin?

Hallo Arno, ist die Frage rhetorisch oder als Scherz gemeint? Ich gehe mal davon aus und sage:

Ja, Busfahren sollte für alle (und besonders für alle Schriftsteller) überall auf der Welt anstrengend sein; sinnig, wenn der Betrachter müde ist, und deshalb halbbewusst bissel Stoff zum Absacken oder Nacharbeiten sucht.

Und der Leser draußen darf annehmen, dass der (an sich harmlose) Ärger wie der Schriftsteller, sich bereits auf der untersten Busstufe heimlich freut, weil sich auf der höheren - der achtsamen Beobachtungsstufe - immer irgend etwas bewegt, ohne dass der Betrachter sich einer weiteren Anstrengung unterziehen müsste, außer der, Platz zu nehmen und auszuatmen. :)


Kleine Änderungen/Vorschläge:

Der Fahrer begrüßt den jüngeren älteren Mann – „jüngeren älteren“ kann weg, da rüberkommt, wer gemeint ist.

Jetzt tritt ein älterer Mann hinzu, jünger noch als der aus Berlin – „noch“ kann auch weg.

Dass er ignoriert wird vom Fahrer – das würde ich auch streichen.

Dass ein Bus zur Wechselstube fürs Kleingeld wird, ist echt lustig.

Liebe Grüße
 
Danke, Rachel, für deine Gedanken und Tipps. Zuerst zum Praktischen: Die Änderungsvorschläge Nr. 1 und 2 leuchten mir ein, ich werde sie im Anschluss umsetzen. Dass der Fahrer die Fahrgäste nach privatem Gusto sehr ungleich behandelt, ist Kern des Ablaufs. Es wird noch einmal deutlich, als die Karte ausgelesen wird. Es ist üblich, dass der Fahrer auf irgendeine Weise dem Fahrgast zu erkennen gibt, dass der Vorgang erfolgreich abgeschlossen wurde (Handbewegung, Kopfnicken oder ein kurzes Wort). Der Hinweis auf fortgesetztes Ignorieren soll daher bleiben.

Zur Motivation: Ich fand das Verhalten des Fahrers stark abweichend von allem, was ich sonst in Berlin oder auch in Brandenburg erlebe, und habe überlegt, ob ich mich bei seinem Arbeitgeber beschwere. Aus praktischen Gründen habe ich darauf verzichtet und stattdessen aus dem Stoff einen kurzen Prosatext gemacht. Willkommen sind mir solche Anlässe aber überhaupt nicht.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

Rachel

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Danke für deine Worte, Arno. Mir ist jetzt einiges klarer. Ich fahre nie Bus und kaufe Fahrscheine am Bahnsteig vorab, S-Bahn, und kann dann an mehreren Stellen problemlos einsteigen. Falls ich mich benachteiligt fühle, sage ich an Ort und Stelle etwas. Aber dazu braucht es einiges.

Die obige Geschichte ist für meine Begriffe vor allem unfertig, bisher nicht dramatisiert, Richtung Tagebuch, sie entsteht gerade. In diesem frühen Stadium kann sie keinen echten Kern oder eine erstrebenswerte Motivation haben – das ist der Weg. Oder Poesie, Literarisierung. Der Kern kommt durch die Oberfläche (Überbau, Welthaltigkeit) ans Licht. Das fehlt noch. Fällt mir Rosa Parks in Montgomery ein, die sich dereinst weigerte hinten im Bus Platz zu nehmen. Da würde ich andocken.

Und schließlich, durch vielfache Überarbeitung, falls dir überhaupt danach ist … ich zitier dich mal:

Dann erst kann der noch immer Geduldige seine Chipkarte auf die Platte legen.

Gute Zeit und liebe Grüße
 
Rachel, du hast des Pudels Kern schon recht erkannt und bezeichnet. In der Tat entspricht der Text eher einem Tagebucheintrag, weniger dem Genre Kurzprosa. All das, was du noch vermisst - Dramatisierung, Poesie, Literarisierung -, habe ich sehr bewusst vermieden. Grund: der ganz reale Hintergrund. Da scheute ich mich, etwas von meinem eigenen Kopfinhalt beizumischen. Ja, ich hätte das Ergebnis besser unter Tagebuch einstellen sollen.

Stichwort Motivation. Mir war schon beim Schreiben bewusst, dass ich mangels genügendem Einblick die Motivationen der auftretenden Figuren nicht würde aufhellen können. Es gab außerdem einen speziellen Grund für meinen Verzicht, insoweit Vermutungen anzustellen. Ich hätte dann auch die Herkunft der anderen Fahrgäste thematisieren müssen. Das wollte ich nicht, da es den Fokus zumindest für manche Leser vom äußeren Verhalten des Fahrers hin zu etwas anderem verschieben könnte. Hier kann ich es doch angeben, nicht um den Text abzurunden, sondern meine Zurückhaltung zu begründen. Die junge Frau war eine Schwarze, der ältere Mann wahrscheinlich Flüchtling aus der Region zwischen Mittelmeer und Hindukusch und die drei jungen Männer dem Anschein nach auch orientalischer Abstammung. Das alles ließ ich weg, da am Verhalten der Fahrgäste nichts Auffälliges oder Kritikwürdiges war. Kann natürlich sein, dass die mir verborgene Motivation des Fahrers hiermit zusammenhing. Kann aber auch sein, dass er evtl. Vorbehalte dieser oder jener Art gegen mich hatte.

Nein, der Text ist keine Geschichte und wird auch nicht dazu umgearbeitet. Er ist an der Oberfläche sprachlich bearbeitetes authentisches Material.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

Rachel

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Hallo Arno, eine interessante reale Hintergrundgeschichte, die sich da auftut.

Ruck zuck entsteht ein komplexes vielgestaltiges Spielfeld, das, falls narrativ ins Visier genommen, sicher breitgefächert zu beackern gewesen wäre. Ich hätte eine Menge Respekt davor und verstehe dein Zögern.

Du müsstest mehr Plot erfinden, Lebensläufe mindestens andeuten und und und ... mit gut und gerne sechs, sieben Menschen an Bord, die mehr werden müssen als Passanten. Du wolltest aber gerade nicht Lücken fiktionalisieren, sondern authentisch schreiben, was dich vor Ort ad hoc beschäftigt hat. Okay. Keine Geschichte deinerseits. Du hast nachvollziehbare Gründe genannt.


Was bleibt, ist die unvollständige, bereits umrissene, nichtsdestotrotz verdammt gute, weil authentische Geschichte, der Geschichte, die du aus Scheu nicht erzählt hast. :)

Liebe Grüße
 



 
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