Caged Bird

Yui

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„Es mag unglaublich scheinen, doch es gab mal eine Zeit, da lebten wir Nomaden unter den Wolken. Unsere Vorfahren waren wirklich erstaunlich. Sie bauten Städte, gut 40 Mal so groß wie unsere Hauptwalstadt. Und auch ihre Nahrungsbeschaffung war außerordentlich. Unzählige Felder mit den verschiedensten Erzeugnissen standen unter ihrer Beobachtung. Zudem gab es auch ganze Farmen von irdischen Tieren. Etwas, das wir uns gar nicht vorstellen können. Sehen Sie sich diese Skizzen an. Einer unserer Vorfahren hat sie für uns zurück gelassen, damit wir trotz der langen Zeit noch einen Blick auf das haben können, was mal war.“

Gähnend hörte Istra den Erzählungen des Gelehrten zu. Wie an jedem Vollmondtag wurde den Schülern an der Himmelsakademie diese Geschichte eingetrichtert. Er konnte sie auswendig. Und auch die Bilder kannte er auswendig. Schön war daran nun wirklich nichts. Laienhaft gezogene, krakelige Linien von einem Tier, bei dem man nicht einmal richtig die Beinanzahl feststellen konnte. Selbst ein Säugling hätte das besser hinbekommen.

„Aber auch technisch gesehen waren unsere Vorfahren wahre Genies! Sie hatten Maschinen, mit denen sie in kürzester Zeit eine unglaubliche Strecke zurücklegen konnten. Sie hatten immerhin nicht die Astralis, die Himmelswale, wie wir. Und neben diesen Maschinen hatten sie auch Maschinen, mit denen sie in Kontakt treten konnten, auch wenn sie Tausende von Kilometern voneinander entfernt waren. Bis heute können wir diese Technologie noch nicht replizieren. Sie ist zu komplex!“

Das stimmte nicht. Im Prinzip waren diese Technologien sehr einfach und verständlich aufgebaut, fand Istra. Was ihnen fehlte waren die benötigten Ressourcen. Über den Wolken gab es nicht viel. Nur das, was sie selbst auf den Walfeldern anbauen konnten. Istra bastelte tagtäglich an den verschiedensten Dingen, doch seine Fantasie und sein Einfallsreichtum wurden immerzu von den mangelnden Materialien vor eine Probe gestellt.

„Doch wie Sie mittlerweile alle wissen, wendete sich das Schicksal unserer Zivilisation an jenem Tag schlagartig. Unsere Vorfahren zogen den Zorn der Götter auf sich und besiegelten damit den Untergang der Irdischen Welt. Wo früher Berge und saftige Wiesen, tiefgrüne Wälder und horizontweite Ozeane waren, hinterließen die Götter nichts weiter als Tot und Verwesung. Der Gewittersturm, den sie sandten, löschte alles aus. Auch den Großteil unserer Vorfahren. Nur einige wenige, die auch vor der Katastrophe ihren Glauben an die Götter nicht verloren und stets gebetet hatten, erhielten eine zweite Chance. Die Götter entsandten die Astralis. Dankbar und unsagbar froh bevölkerten unsere Vorfahren ihre Rücken und erbauten das, was wir heute Stolz unser Zuhause nennen dürfen. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass jeder von Ihnen sich seiner Verantwortung bewusst wird. Wir müssen dafür sorgen, dass die Arbeit unserer Vorfahren und die Gnade der Götter nicht umsonst gewesen ist und auch unsere Nachfolger in diesem Paradies leben können!“

Ein leises Seufzen entglitt dem jungen Schüler. Er mochte seine Heimat zwar, aber noch viel mehr interessierte ihn, was es noch gab. Das Unbekannte. Das Riskante. Jeder nannte ihr Zuhause das Paradies. Aber woher wollten sie denn wissen, ob es das wirklich war? Sie kannten immerhin nichts anderes. Und wer konnte denn mit Bestimmtheit sagen, dass die Irdische Welt nicht mehr existierte? Niemand hier hatte gesehen, wie es dort aussah. Und er wollte der Erste sein, der einen Blick riskierte. Als es endlich zum Unterrichtsschluss klingelte, verabschiedete sich der Gelehrte und entließ seine Schüler.

Istra sprang förmlich auf und flitzte fluchtartig zu seinem Internatszimmer. Heute Abend würde es ein Fest geben. Ein großes, das es nur alle paar Sonnenwenden gab. Bisher war ihm immer jemand dazwischen gekommen, aber heute würde er es erneut riskieren. Er wollte unbedingt sehen, was wirklich unter der Wolkendecke war. Die Anderen würden wohl alle mit den Festvorbereitungen beschäftigt sein. Es war also die Gelegenheit. So hatte er es sich jedenfalls gedacht.

Weit kam er allerdings nicht. Hana, eine eifrige Schülerin und seine Klassenkameradin, hielt ihn auf. „Hey Istra, wo willst du denn so schnell hin? Hatte Alfred dich nicht gebeten, bei den Festvorbereitungen zu helfen?“ Sie lächelte ihn an. Er sah sie an und kratzte sich an der Wange. Das hatte er tatsächlich schon wieder vollkommen vergessen. „Ja, du hast recht. Genau deshalb will ich ja zu meinem Zimmer. Da liegt noch mein Werkzeugkasten. Alfred hat mich gebeten ihn mitzubringen und zum Unterricht wollte ich ihn nicht mitnehmen. Das Teil ist verdammt schwer und sperrig“, versuchte er es mit einer Ausrede. Seine Hände wurden schwitzig und seine Wangen wurden zusehends roter. „Istra, du bist echt ein schlechter Lügner.. Wo willst du wirklich hin? So wie ich dich kenne, hast du wieder irgendeinen Unsinn vor“, entgegnete Hana jedoch und lehnte sich ein Stück weiter in seine Richtung. „Du willst schon wieder versuchen, dich davonzustehlen, oder?“

In Istras Hals bildete sich ein Kloß, welchen er verzweifelt versuchte, hinunter zu schlucken. „Und wenn es so wäre?“ Seine Stimme zitterte etwas. Er musste es irgendwie schaffen, Hana abzuwimmeln, sonst würde ihm diese einmalige Gelegenheit entgehen. „Du weißt genau, dass das verboten ist. Wir dürfen die Astralis nur verlassen, wenn wir eine Genehmigung haben und zu einem anderen Astralis wollen. Die Wolkendecke ist tabu. Hast du eben etwa nicht aufgepasst?“, rief sie ihm in Erinnerung.

„Das weiß ich doch alles. Aber was, wenn das, was die Gelehrten uns immer predigen, gar nicht wahr ist? Willst du denn gar nicht wissen, was sich da unten befindet?“ Seine Augen trafen auf ihre. Sie erkannte nahezu das Feuer, die Leidenschaft, die in Istra brannte. „Nein. Ehrlich gesagt will ich es nicht wissen. Was bringt es uns auch. Wie haben hier alles, was wir brauchen. Wir sind glücklich. Fang an, zu akzeptieren, wie wir leben, dann wird es auch für dich einfacher. Glaub mir. Den Wächtern macht es auch keinen Spaß, ständig deinen Aufpasser zu spielen, wenn du mal wieder in Schutzhaft bist.“ Er seufzte frustriert. „Du verstehst das nicht. Für dich sind die Regeln heilig. Ich dagegen finde, dass sie wie ein Käfig sind. Wie soll man da je glücklich werden? Ich werde mit eigenen Augen sehen, was da unten ist. Und du wirst mich nicht aufhalten.“ Istra verschränkte die Arme vor der Brust. „Komm doch endlich zur Vernunft“, versuchte Hana es erneut, allerdings musste sie feststellen, dass es zwecklos war. Ohne ein weiteres Wort drehte Istra sich um und setzte seinen Weg fort.

Er musste sich jetzt wirklich beeilen, denn so wie er Hana kannte, würde sie direkt die Wächter informieren. Eilig hastete er die Treppen hinauf, nahm immer zwei Stufen auf einmal, und gelangte nach kurzer Zeit an seiner Zimmertür an. Schwungvoll öffnete er sie, sodass sie fast von selbst wieder zuflog, als er sie losließ. Istra nahm seinen selbstgebauten Gleiter, welcher direkt neben der Tür hing, und seine Reisetasche, die er immer für solche Fälle bereit hielt, und stürmte erneut aus der Tür. Dieses Mal flog sie mit einem lauten Knall zu. Zu seinem Leidwesen bestätigte sich seine Vermutung. Hana hatte die Wächter informiert. Schon von oben konnte er sie hören, wie sie die Treppen hinaufgingen und ihre Schritte im Treppenhaus widerhallten. Sein Blick flog nach links und nach rechts, suchte nach dem besten Ausgang. Schließlich fiel seine Wahl auf das Fenster im rechten Korridor. Es war näher an ihm und weiter von der Treppe weg. Während er auf das bunte Fenster zulief, schulterte er seinen Rucksack und legte den Gleiter an. Er hatte es schon so oft getan, dass es ihm ohne Probleme gelang. Mit einem Surren zog er die Gurte um sich fest.

„Bleib stehen Istra! Mach es uns doch allen nicht so schwer und sei wenigstens einmal in deinem Leben ein braver Junge!“, hörte er einen der Wächter rufen. Sie hatten die Treppen bereits hinter sich gelassen und waren ihm dicht auf den Fersen. Aber aufgeben würde er sicher nicht. „Wenn ihr mich aufhalten wollt, müsst ihr mich schon fangen!“, rief er grinsend, öffnete das Fenster und kletterte hinaus aufs Dach. Eine kalte Windböe empfing ihn, riss an seinen braunen Haaren und wehte ihn fast von den Füßen. Taumelnd ging Istra weiter, während er versuchte, sein Gleichgewicht zu halten und dem Wind zu trotzen. Das Dach war hier wirklich schmal, sodass er einige Male fast abgestürzt wäre. Behutsam schob er sich weiter vor, als auch schon eine Hand nach ihm Griff. Er war gerade weit genug entfernt, sodass sie ihn lediglich an der Schulter streifte. „Bist du wahnsinnig geworden? Komm sofort zurück Junge! Du stürzt noch in deinen sicheren Tod!“, rief der Wächter, bemüht Istras Schulter zu greifen. Dieser dachte jedoch nicht einmal daran, jetzt kehrt zu machen. Immer weiter schob er sich voran, einen Fuß vor den anderen setzend. Die Wächter beobachteten ihn ratlos. Sollten sie ihm auf das Dach folgen? Nein, es war viel zu schmal für sie.

Plötzlich erklang ein lautes Knacken. Die Augen der Wächter weiteten sich, als sie zusehen mussten, wie das Dach unter Istra nachgab. Er taumelte, verlor sein Gleichgewicht und stürzte zur Seite. „Istra!“ Die entsetzten Stimmen der Erwachsenen schallten in die Tiefe. Dort, wo der Junge abgestürzt war, wartete kein Boden auf ihn. Nur ein Segel oder eine Flosse, wenn er Glück hatte. Ein leises zischen riss die Wächter aus ihrer Erstarrung und zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Direkt vor ihnen sauste ein Schatten vorbei, direkt in die Höhe. Istra hatte seinen Gleiter gespannt und somit seinen Fall beendet. Er streckte ihnen breit grinsend die Zunge raus. Er hatte gewonnen. Jetzt konnten sie ihn nicht mehr aufhalten. Endlich würde er sehen, was unter den Wolken war. Geschmeidig flog er über das Internat hinweg, ließ sich von den Windströmen tragen und leiten. Bald schon hatte er den gesamten Astralis überflogen und hinter sich gelassen. Kaum hatte er genug Abstand, ließ er sich in den Sinkflug gleiten. Der eisige Wind peitschte ihm ins Gesicht und hinterließ eine Gänsehaut auf seinem gesamten Körper. Tränen trieben ihm in die Augen, doch die Vorfreude auf das, was er jetzt sehen würde, ließ den Schmerz in den Hintergrund rücken. Heute war es endlich so weit. Nur noch wenige Minuten. Er war seinem Ziel so nahe. Und dann erreichte er endlich die verfluchte Wolkendecke. Sie verschluckte ihn vollends, raubte ihm die Sicht. Blitze zuckten Wild umher. Der vorher so gradlinige Wind rüttelte ihn durch. Es war, als würden sie eine Warnung an ihn aussprechen. Doch auch davon ließ er sich nicht abbringen. Er würde es schaffen!

Es dauerte etwas, ehe die Wolkendecke endlich lichter wurde. Auf die Dunkelheit folgte ein helles Licht. Istra musste für einen Moment die Augen schließen. Sein Atem stockte, als er sie wieder öffnete und sein Herz beschleunigte sich. Vor ihm tat sich kein Gebiet des Todes oder der Verwesung auf. Statt der schwarzen, trostlosen Landschaft erstreckte sich das reinste Paradies vor ihm. Grün bewachsene Berge, weitläufige Wiesen und Land, soweit das Auge reichte. Durch einige kleine Risse drang die Sonne durch die Wolkendecke, brachte die Flüsse und Seen unter ihnen zum Glitzern. Es war wie ein wunderschöner Traum und doch wusste Istra, dass es die Wirklichkeit war. Er hatte recht gehabt. Die Erzählungen stimmten nicht. Jedenfalls nicht mehr. Falls es hier wirklich einmal nichts als Tod und Verderben gegeben hatte, so hatte sich die Irdische Welt wieder davon erholt. Und es war das Schönste, was er je zu Gesicht bekommen hatte. Für ihn war eins direkt klar: Hier würde er von heute an Leben. Zurück wollte er auf gar keinen Fall. Hier war sein Paradies. Der Vogel hatte seinen Käfig verlassen und die Freiheit für sich entdeckt.
 
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Chandrian

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Hallo @Yui
Da mir niemand zuvorgekommen ist - willkommen in der Leselupe! Nette Ersteinstellung :) Da dies, nach meinem Verständnis, eine dystopische Geschichte ist, würde ich sie jedoch in Science Fiction verschieben lassen.
 

Yui

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Hallo @Chandrian !
Vielen dank fürs Willkommen heißen :3 Wie kann ich meine Geschichte denn verschieben lassen? Ich hatte mir tatsächlich gar keine richtigen Gedanken darüber gemacht, ob es dystopisch oder nicht ist. Ehrlich gesagt bin ich mit den Begriffen noch nicht vertraut haha ^^' Ich dachte mir, da es ja fliegende Wale gar nicht gibt, würde Fantasy ganz gut passen :eek: Wieder was gelernt, danke dafür ^^
 

Chandrian

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Hallo @Chandrian !
Vielen dank fürs Willkommen heißen :3 Wie kann ich meine Geschichte denn verschieben lassen? Ich hatte mir tatsächlich gar keine richtigen Gedanken darüber gemacht, ob es dystopisch oder nicht ist. Ehrlich gesagt bin ich mit den Begriffen noch nicht vertraut haha ^^' Ich dachte mir, da es ja fliegende Wale gar nicht gibt, würde Fantasy ganz gut passen :eek: Wieder was gelernt, danke dafür ^^
Ja, das wäre wohl auch möglich. Sobald du einen Text eingestellt hast, können ihn nur Forenredakteure verschieben. Du kannst den/die zuständigen Forenredakteur/in fragen. Aber @DocSchneider hats jetzt ja schon gesehen; ich habe mich da ein wenig vertan. Wobei, meines Erachtens, gerade die ersten drei Abschnitte stark darauf hiweisen.

LG
 



 
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