Calypso

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Calypso



“C’est que les dieux supérieurs cachent aux inférieurs tout ce qu’il leur plaît; et Minerve, qui accompagnait Télémaque sous la figure de Mentor, ne voulait pas ȇtre connue de Calypso”


F. Fénelon


Joachim nahm eine Haarnadelkurve der Stichstraße zu scharf. Die Fußleiste des Motorollers kratzte über den Asphalt. Markus sah die Funken fliegen. Als guter Beifahrer presste er sich eng an Joachim und verlagerte sein Gewicht mit in die Kurve, obwohl er Angst hatte, dass es seinem Knie gleich genauso ergehen würde wie der Fußleiste. Gerad noch rechtzeitig gewann Joachim die Kontrolle über den Roller zurück.

Aus der kahlen Flanke des Hügels ragten die Betongerippe einiger halbfertiger Häuser wie die Überreste einer vergangenen Katastrophe in den makellos blauen Himmel und kündigten die Nähe einer Siedlung an. Unweit der Straße grasten einige herrenlose Ziegen, die nicht einmal aufschauten, als der Roller an ihnen vorbeiknatterte.

Hinter der nächsten Biegung hatte man die Straße verbreitert, um Gegenverkehr zu ermöglichen. Dadurch blieb genug Platz, um den Roller am Rand abzustellen und an der steil abfallenden Böschung, die durch keine Leitplanke gesichert war, die Aussicht zu genießen.

Unter ihnen lag eine Ansammlung von vielleicht dreißig eingeschossigen Häusern, viele mit Dachterassen, auf denen Wäsche trocknete. Dahinter schimmerte die Ägäis. Wie der Panzer einer mythischen Schildkröte hob sich nahe der Küstenlinie ein kahler Felsbuckel aus dem Meer.

Joachim brachte den Roller am Straßenrand zum Stehen. Sie nahmen die Helme ab. Der Wind wehte von meerwärts über ihre verschwitzten Gesichter. Es roch nach Salzwasser und Thymian.

„Alles in Ordnung?“, fragte Joachim. „Tut mir leid mit der Kurve gerade.“

„Nix passiert.“

Joachim seufzte. "Erhebend, oder?"

„War es das, was du mir zeigen wolltest?", fragte Markus.

Joachim lächelte. "Es wird noch besser." Er strich sich durch die plattgedrückten Haare, zog den Helm über und schwang sich wieder auf den Roller.

Die Sonne brannte jetzt senkrecht auf sie herab. Sie fuhren an geschlossenen Fensterläden vorbei durch leere Gassen. Jasminduft drängte durch die Eisengitter der Vorgärten.

Erst im letzten Moment sahen sie den Hund, der am Dorfplatz mitten auf der Straße im Schatten eines gefährlich tief hängenden Platanenastes lag und beinahe die gleiche Farbe hatte wie der allgegenwärtige Staub. Joachim bremste scharf. Der Hund blieb liegen. Er schaute sie fragend an. Erst als Joachim abstieg und mit ausgestreckter Hand auf ihn zuging, erhob er sich und trottete zur nächsten Schatteninsel in dem Lichtmeer, in das sich der weiß gepflasterte Dorfplatz in der Mittagssonne verwandelt hatte.

Sie erreichten den kleinen Fischerhafen. Das Meer leckte an den Betonstegen, die als Fremdkörper in ihm staken, gerade so, wie ein Löwe am Stachel in seiner Tatze leckt. Ein paar tausend Jahre würde das Meer wohl noch brauchen, um mit dieser Taktik Erfolg zu haben. Aber diese Zeit hat das Meer, dachte Markus, anders als wir. Dieses Meer war schon da, als sie den Minotaurus in sein Labyrinth gesperrt haben, und es wird auch noch da sein, wenn irgendwer mal unsere Ruinen ausgräbt.

Fischerboote - die meisten, wie der Roller, in den blauweißen Nationalfarben gestrichen - schaukelten entlang der Stege. Auf dem Kiesstrand daneben trockneten die Netze.

Im Schatten des Eukalyptusbaums, der sich neben dem einzigen Kafenion erhob, saßen, über einen Plastiktisch gebeugt, zwei alte Männer und spielten Tavli. Alle anderen Dorfbewohner hatten sich vor der sengenden Sonne verkrochen. Die beiden Alten sahen nicht auf, als der Roller neben ihnen hielt.
Schon wieder Eukalyptus, dachte Markus, die können hier bald Koalabären auswildern, soviel wächst davon auf dieser Insel. Er dachte daran, was Esther ihm erzählt hatte, damals, als sie noch zusammen über den Peloponnes tingelten. Eukalyptusbäume wuchsen schnell, wusste er seitdem, sie gaben bald den heiß ersehnten Schatten, aber dafür trockneten sie die ohnehin schon dürre Erde immer weiter aus. Kein gutes Geschäft, auf die Dauer.

Joachim lehnte den Roller an einen Strommasten. Das Kabelgewirr, das diesen Mast krönte, erfüllte Markus mit Ehrfurcht vor den örtlichen Elektrikern.

"Hast du auch solchen Durst?", fragte Joachim.

Markus nickte.

"Komm, wir schauen, dass wir was zu trinken kriegen!", sagte Joachim.

Auf der Brust und unter den Achseln zeichneten sich Schweißflecken auf Joachims Hemd ab. Markus amüsierte es, dass Joachim mit diesem Hemd, den Stoffhosen und den Slippern die Einheimischen imitieren zu wollen schien. Markus selbst war froh über sein luftiges Chicago Bulls-Trikot mit der Nummer 23 und über seine Shorts. Sollte ruhig jeder sehen, dass er Tourist war.

"Ha, offen!", rief Joachim, der ein paar Schritte vorausgeeilt war.

Markus musste sich unter dem Türsturz bücken, als sie das Kafenion betraten. Im ersten Augenblick konnte er nur Umrisse erkennen. Licht kam nur durch die Spalten der Fensterläden, aus dem stumm geschalteten Fernseher über der Theke und aus dem riesigen Kühlschrank, der sofort Markus’ Blick fing. Markus bedauerte sehr, dass Joachim es nicht gutheißen würde, wenn er sich aus diesem Kühlschrank, der ausschließlich den Produkten einer einzigen Marke vorbehalten war, bediente. Er wusste, er würde Joachim damit einen Vorwand für einen von dessen gefürchteten Vorträgen über globale Ungerechtigkeiten bieten. Hitze und Durst hin oder her, für Joachim wäre das keine Entschuldigung, die miesen Praktiken der globalen Großkonzerne noch weiter zu unterstützen.

Zum Glück brachte schon die kühle Luft im Innern des hohen Schankraums etwas Erleichterung. Die kreisenden Flügel eines Ventilators, der wie ein urzeitliches Rieseninsekt an der Decke hing, sorgten für einen angenehmen Luftstrom.

Markus wandte sich unwillkürlich dem farbigen Flimmern über der Theke zu. Fernseher hatten schon immer eine magnetische Wirkung auf ihn gehabt. Das hat man davon, wenn man als Kind nie Fernsehen schauen durfte, dachte er. Es erstaunte ihn immer, wie viele Leute das konnten: mit einem laufenden Fernseher in einem Raum sein und ihn nicht beachten.
Der ERT-Nachrichtensprecher bewegte stumm die Lippen. Hinter ihm wurde schon wieder die seit Tagen allgegenwärtige Bildfolge von Lady Di, Dodi, dem Pariser Tunnel und dem erstarrten Gesicht der Queen eingeblendet.

Joachim bestellte auf Griechisch. Wahrscheinlich spricht er wieder Altgriechisch, dachte Markus. Der Wirt schien jedoch zu verstehen, auch wenn er dabei keine Miene verzog. Markus fragte sich, ob sie ihn geweckt hatten. Die kleinen geröteten Augen des Wirts sahen durch die beiden Fremden, die die Mittagsruhe störten, hindurch. Er füllte eine Karaffe Wasser ab und schob sie mit zwei Gläsern über die Theke, dann wandte er sich dem Gasherd zu – und war verwandelt: wie ein Magier auf der Bühne zelebrierte er jeden Handgriff der Kaffeezubereitung. Der Duft von Kardamom mischte sich in den des Kaffees. Joachim schloss die Augen und schnupperte - etwas zu demonstrativ, wenn es nach Markus ging. Markus schüttete sich ein Glas nach dem anderen aus der Wasserkaraffe ein. Am liebsten hätte er die Karaffe direkt zum Mund geführt und ausgetrunken. Er konnte nicht verstehen, wie Joachim es fertig brachte, nur ab und zu an seinem Glas nippen, während er aufmerksam den Handbewegungen des Wirts folgte. Nichts an seinem Körperbau ließ einen Hungerkünstler vermuten, und doch konnte Markus sich an keine Gelegenheit erinnern, bei der er Joachim tagsüber mit viel anderem als seiner Pfeife im Mund gesehen hatte.

Markus sah vor sich auf den Betonboden, dann wieder zum Fernseher, wo jetzt Wellblechsiedlungen zu sehen waren, die bis zum Horizont reichten. Im Vordergrund schaute der Fernsehkommentator sehr ernst drein. Es folgte das Gesicht einer alten Frau, umrahmt von blau gestreifter Ordenstracht. Markus musste länger überlegen, wer das sein konnte. Schließlich fiel es ihm ein:

„Sag mal, kann es sein, dass nach Lady Di jetzt auch noch Mutter Teresa gestorben ist?" Markus deutete mit dem Kopf zum Fernseher hinüber.

„Lux aeterna luceat eis", sagte Joachim, ohne seinen Blick von dem Kaffeeritual abzuwenden. Dann wandte er sich auf einmal doch Markus zu und sah ihn ganz verträumt an.

"Lustig, du hast dich an den gleichen Platz gesetzt wie Esther, als ich mit ihr hier war."

Markus starrte intensiv den Fernseher an. "Warum erzählst du mir das?", fragte er schließlich.

"Ich weiß auch nicht, sie fehlt mir einfach, seit sie von zuhause ausgezogen ist."

"Besuch sie doch. So weit weg ist Hamburg jetzt auch nicht von euch."

"Ich war ja ein paar Mal da, aber es ist schon sehr seltsam, auf einmal bei der eigenen Tochter zu Gast zu sein. Und dann ihre ganzen lässigen neuen Freunde, und ich alter Sack dazwischen, da habe ich immer das Gefühl zu stören. Wenn ich mit Euch beiden unterwegs war, war das ganz anders.“

„Wann warst du denn mit Esther hier?“, fragte Markus. Er versuchte, unbeteiligt zu klingen, aber die Erinnerung an die ungewollte Trennung von Joachims Tochter tat immer noch so weh, dass er sich sicher war, dass seine Stimme ihn verriet.

„Lange her, da kanntet ihr euch noch nicht. Da war sie noch ein neunmalkluger Backfisch. Wollte mir den Unterschied zwischen ionischen und korinthischen Kapitelen erklären.“

„Ja, den hat sie mir auch mal erklärt…“

Es war kurz, als säße sie wieder zwischen ihnen, hier den Vater, dort den Freund um jeweils einen ihrer kleinen Finger gewickelt. Wann hatte das aufgehört? Wann war es schiefgegangen, zwischen ihnen? War es nicht doch nur die räumliche Trennung gewesen, erst sie nach Hamburg, an die Schauspielschule, dann er, nach dem Ende des Zivildienstes, von der ZVS nach Marburg verbannt? Nein, es hatte schon früher angefangen. Ein Streit, große Versöhnung, wieder Streit, wieder Versöhnung, mit Blumen und allem, dann doch wieder Streit –um was eigentlich? – traurige Waldspaziergänge ohne Umarmung, dann doch wieder im Bett gelandet. Aber die Kluft war immer tiefer geworden, und Markus hatte sich immer unfähiger gefühlt, das Ende ihres Zusammenseins zu verhindern.

Die Mokkatassen klirrten leise, als der Wirt sie auf dem Tresen abstellte. Das reichte, um Markus in die Gegenwart zurückzuholen. Wie immer fiel es ihm schwer zu warten, bis das absinkende Kaffeepulver den Grund erreicht hatte. Es gierte ihn nach etwas Süßem im Mund.

„Und - placet aut non placet?“, fragte Joachim.

„Was?“, Markus zog die Brauen zusammen.

„Na komm“, sagte Joachim, „so viel Latein sollte doch jeder Medizinstudent drauf haben.“

„Ich meine, was gefällt mir oder nicht?“, antwortete Markus.

Joachim machte eine ausladende Geste, wie ein Zirkusdirektor, der die nächste Sensation präsentiert.

„Na, das alles hier, das Dorf, die Bucht, das Meer, das Kafenion. Ich war schon so oft hier, alleine, mit Freunden, mit meiner Tochter, jetzt mit dir, aber ich bin jedes Mal wieder überrascht, dass es diesen Ort wirklich gibt, und dass er immer noch so aussieht wie in meiner Erinnerung. Das ist das Griechenland meiner Jugend; so sahen früher ganz viele Orte an der Küste aus, bevor die Hotelbunker kamen.“

„Ja, hat schon was“, sagte Markus. „Meinst du, hier gibt es auch was zu essen?“

„Um diese Uhrzeit sicher nicht, aber nachher, wenn die Fischer vom Meer zurückkommen, wirst du hier den besten Fisch serviert kriegen, den du jemals gegessen hast.“ Joachim nippte mit halb geschlossenen Lidern an seinem Kaffee.

„Besser als gestern bei euch geht eigentlich kaum noch“, sagte Markus. Er dachte an den vergangenen Abend, den sie gemeinsam mit seiner neuen Freundin Anna und Joachims zweiter Frau Susanne verbracht hatten. Im Innenhof des Ferienhauses, das die beiden Älteren für mehrere Wochen gemietet hatte, hatte Susanne sie mit allen Köstlichkeiten, die der örtliche Markt hergab, bewirtet. Zur Beleuchtung dieses Festmahls hatte sie Lampions aufgehängt, um die immer größere Falter kreisten, je später es wurde. Darüber war der Ausschnitt eines Nachthimmels zu sehen gewesen, von dem man in Deutschland nur träumen konnte. Für die beiden Jüngeren war es erst der dritte Tag seit ihrer Ankunft auf Kreta gewesen. Sie waren noch ganz überwältigt von den vielen Sinneseindrücken. Am Tag zuvor waren sie noch staunend durch die mit viel künstlerischer Freiheit restaurierten Ruinen von Knossos spaziert. Jetzt schwelgten sie in Tintenfisch und Sardinen vom Grill, kretischen Oliven, Ziegenkäse, und am Ende kapousi, Wassermelonenstücke, so süß und saftig, wie sie in Deutschland nirgends zu finden waren.
Als sie unter dem Einfluss von mehreren Flaschen Retsyna schließlich auf dem Ausziehsofa im Wohnzimmer ausgestreckt lagen, hatte Anna ihm gesagt, wie glücklich sie sei, mit ihm diese Reise zu machen.

Joachim lächelte. „Wart‘s ab.“

Draußen blendete sie das Sonnenlicht, das vom Meer und von den weißen Hauswänden zurückgeworfen wurde.

„Und jetzt?“ fragte Markus.

„Baden?“ fragte Joachim.

„Wo? Hier vor dem Kafenion“, fragte Markus, „zwischen den Booten, und alle schauen uns von ihren Fenstern aus zu? Lieber nicht.“

„Ich hab dir ja noch nicht alles gezeigt“, sagte Joachim. „Komm wir fahren noch ein Stück weiter.“

Außer der Serpentinenstraße, über die sie gekommen waren, führte nur noch eine Schotterpiste aus dem Dorf heraus auf die gezackten Kalkfelsen zu, die sich links der Bucht erhoben. Kiesel sprangen unter den Reifen weg; der Roller zog eine Staubwolke hinter sich her. Die Piste führte durch eine schmale Schlucht. Das Knattern des Zweitakters hallte von den Felswänden zurück.

Die Schlucht mündete in einen langen wilden Kiesstrand. Über seine ganze Länge lagen, wie von riesiger Hand ausgestreut, Gesteinsbrocken, die Meer und Wind zu manchmal bizarren Formen umgearbeitet hatten. Die vorgelagerte Felseninsel, die sie bereits von der Anhöhe aus gesehen hatten, schien jetzt ganz nah.

Sie breiteten ihre Handtücher auf dem einzigen schmalen Schattenstreifen am Fuß der Felsen aus.

„Was meinst du“, fragte Markus, „brauchen wir hier Badehosen?“

„Siehst du irgendjemanden außer uns?“, fragte Joachim.

Er behielt seine Badehose, die er die ganze Zeit unter der langen Stoffhose getragen hatte, trotzdem an. Markus grinste.

„Was?“, fragte Joachim.

„Entschuldige bitte die Frage“, sagte Markus, „aber woher hast du diese abgefahrenen Badehosen? Solche hatte mein Opa früher an, als er uns schwimmen beigebracht hat.“

Joachim stemmte die Hände in seinen Hüftspeck. „Ach, und du meinst, nur weil alle heute diese komischen Schlabberhosen aus Amerika anhaben, ist die gute alte Dreiecksbadehose passé, ja?“

„Schon gut, trag ruhig weiter dein Opa-Badehose…“

Gerade noch hatte Markus gedacht, wie gealtert Joachim ihm nach dem Jahr schien, in dem sie sich nicht gesehen hatten, wie grau sein Brusthaar geworden war, da sah er ihn wie den Minotaurus persönlich mit gesenktem Kopf auf sich zustürmen. Er hatte gerade noch Zeit die Bauchmuskeln anzuspannen da traf ihn die volle Wucht von Joachims Schulter am Bauch und er fühlte sich hochgehoben. Er musste lachen, der vermeintlich alte Joachim schaffte es tatsächlich, ihn langen Lulatsch auf die Schulter zu hieven, wie einen ungezogenen kleinen Jungen. Trotz Markus‘ Gezappel, gelang es Joachim, ihn die paar Schritte über den steinigen Boden ins Wasser zu tragen, obwohl er dabei gefährlich wankte. Kaum war es tief genug, ließ er Markus rücklings fallen. Es klatschte ordentlich, Markus prustete; trotzdem tat das kalte Wasser, das ihn plötzlich umgab, unendlich gut nach all der Hitze. Er dachte gar nicht daran wieder rauszukommen.

„Komm, Joachim, es ist herrlich!“ Er versuchte Joachim zu sich ins Wasser zu ziehen, aber der entwand sich seinem Griff und blieb im knietiefen Wasser stehen.

„Nee, lass mal, ich mach lieber langsam.“

„Ach, aber mich einfach reinwerfen?“

„Das hast du absolut verdient. Kein Respekt mehr, die Jugend von heute“ ,sagte Joachim mit gespieltem Ärger.

Markus wandte sich dem Meer zu. Ein paar Kraulzüge, und er fühlte sich in seinem Reich. Er war ein Küstenkind, nahe der Nordsee aufgewachsen. „Leben, wo andere Urlaub machen“, hatte sein Vater immer den Satz aus der Stellenanzeige im Ärzteblatt zitiert, wenn er seine Entscheidung, eine Hausarztpraxis bei Glückstadt an der Elbe zu übernehmen, rechtfertigen wollte. Markus hätte sich keine bessere Jugend wünschen können, erste Küsse auf der Rückbank des roten DLRG-Boots, jeden Sommer den gleichen Ferienjob bei der Strandaufsicht, jedes Mal ein neues Mädchen kennengelernt, Baywatch am Wattenmeer. Dass es ihn danach zum Zivildienst ausgerechnet in ein Behindertenheim im Ruhrgebiet, in diese postindustrielle Ruinenlandschaft, verschlagen hatte, war schon ein Hohn. Aber was wäre gewesen, wenn er nicht dorthin gegangen wäre? Er hätte Esther nie kennengelernt, geschweige denn Joachim. Vielleicht hätte er auch nicht Medizin studiert. Auf diese Idee hatte ihn auch erst Esther gebracht. Vielleicht hätte ihn die ZVS dann auch nicht nach Marburg geschickt, und er hätte auch Anna nie kennengelernt.

Er kehrte noch einmal um, um seine Schnorchelbrille zu holen. Joachim watete etwas abseits wie ein Storch durchs flache Wasser.

Markus spuckte in die Brille und verrieb seinen Speichel innen am Glas, damit es nicht gleich beschlug. Beim Überziehen verfingen sich seine langen Haare schmerzhaft im Gummiriemen und ließen sich nur strähnenweise befreien.

Er blies das Wasser mit einem Stoß aus dem Schnorchel. Als Kind hatte er immer gespielt, er sei ein Pottwal, und die Walfänger mit ihren Harpunen schon hinter ihm her. Er liebte den Salzgeschmack im Mund, das Brennen hinten im Hals, die Säule aus verbrauchter Luft im Schnorchel, die bei jedem Atemzug überwunden werden musste, und den Blick hinab zum immer tiefer werdenden Grund. Die ersten Fische flohen vor ihm ins Seegras. Er holte tief Luft. In einer auch von den Walen abgeschauten Bewegung krümmte er den Rücken, brachte seinen Oberkörper nach unten, streckte sich dann, so dass die Füße einen kurzen Moment aus dem Wasser ragten, und tauchte hinab zum Meeresboden. Der Wasserdruck presste die Luft im Mittelohr zusammen, er presste mit zugehaltener Nase dagegen, bis es nacheinander in beiden Ohren ploppte. Unten hob er ein paar Steine an: nirgends ein Oktopus, nur eine Krabbe floh vor ihm. Beim Auftauchen atmete er langsam aus, behielt gerade noch genug Luft zurück, um oben den Schnorchel wieder frei pusten zu können. Beim dritten Tauchgang wurde er fündig. Der Oktopus hatte sich so an die Farbe des Sands angepasst, dass Markus erst nur seine Augen sah. Als er näherkam, schien dem Tier seine Tarnung nicht mehr sicher genug. Es stieß eine Tintenwolke aus und schoss davon.

Joachim saß schon wieder am Strand und rauchte Pfeife. Markus konnte es vom Wasser aus riechen. Am Strand brannten ihm die heißen Kiesel unter den Füßen. Selbst im Schatten brauchte er sich nicht abzutrocknen. Die Tropfen verdunsteten einfach. Das zurückgebliebene Salz spannte auf der Haut.

„Was meinst du, wie weit ist es rüber zur Insel?“ fragte Markus.

Joachim zog an seiner Pfeife. „Einen Kilometer, vielleicht, oder ein bisschen weniger.“

„Meinst du, man kann da rüber schwimmen?“

„Klar, habe ich schon gemacht, als ich noch so alt war wie du.“

„So lange kommst du schon hierher?“

„Für mich gibt es keinen besseren Ort auf ganz Kreta.“

Joachim klopfte die Pfeife in ein Papiertaschentuch aus, das er säuberlich in der Tasche der neben ihm liegenden Stoffhose verstaute. Er streckte sich auf seinem Handtuch aus.

„Lohnt es sich denn rüber zu schwimmen?“, fing Markus wieder.

„Kommt drauf an. Viel gibt es nicht zu sehen. Ein Paar Fischerhütten, eine Kapelle. Oben auf dem Hügel stehen natürlich auch ein paar minoische Ruinen, wie überall hier. Was ungewöhnlich ist, ist nur, dass es sich nicht um irgendwelche Paläste oder Gräber handelt, sondern um ganz normale Wohnhäuser, wo Menschen wie du und ich gelebt haben.“

Markus sprang auf. „Komm, lass uns rüber schwimmen!“

Er lief zurück zum Ufer.

„Du solltest dir lieber eine Badehose anziehen. Da drüben wohnen ein paar Menschen“, rief Joachim ihm hinterher.

Markus streifte seine Shorts über. Sie schwammen los.

„Ich wusste gar nicht, dass man so langsam schwimmen kann, ohne unterzugehen“ rief Markus, als sie die ersten zweihundert Meter zurückgelegt hatten. Er musste sich immer wieder umdrehen und Wasser treten, um Joachim aufholen zu lassen.

„Lach du nur, ich war schon immer der langsamste, aber im Gegensatz zu anderen bin ich immer angekommen.“

Joachim hatte seinen Blick starr auf das gegenüberliegende Ufer gerichtet. Sein Schwimmstil erschien Markus wenig überzeugend: den Kopf weit aus dem Wasser gereckt, die Füße tief unten, fast als laufe er aufrecht im Wasser. Markus überlegte kurz, ob er anbieten sollte, Joachim zu ziehen, schwieg dann aber und schwamm, auf dem Rücken kraulend, ein Stück vor. Der Roller und die Handtücher verschwammen zu Flecken am Strand.

Etwas Weiches berührte Markus‘ linken Unterschenkel. Er sah nach unten. Ein eigenartiges Muster waberte direkt vor ihm im Wasser. Es sah aus wie ein Spinnennetz, das ein Kind mit dicken Buntstiften gemalt hatte. Seine Haut fing an zu brennen, als bohrten sich lauter Nadeln in seine Wade. Markus schrie, fing an zu strampeln, und versuchte mit den Händen das Ding von sich fortzuschieben. Sofort fingen auch seine Handflächen an zu brennen. „Was ist los, hast du einen Krampf?“ rief Joachim, der auf einmal richtig schnell zu schwimmen schien und trotzdem nicht näher kam. Markus spürte, dass er in eine Strömung geraten war. Gleichzeitig wurden die Schmerzen immer heftiger. Er wand sich immer Wasser und schaffte es kaum den Kopf oben zu halten, während er immer weiter aus der Meerenge heraus auf die offene See zu getrieben wurde. Er hörte Joachim rufen, aber er verstand die Worte nicht mehr. Panik stieg in ihm auf. Er fing wieder an, richtig zu schwimmen, trotz der Schmerzen, er stemmte sich mit aller Kraft gegen die Strömung, versuchte es erst mit Brust-, dann mit Kraulbewegungen. Über ihm dehnte sich die weiße Sonnenscheibe immer weiter aus, und ein Schatten schmelzender Flügel ging über ihn hinweg. Auf einmal war er selbst dort oben am Himmel und sah sich tief unten verzweifelt durch das Wasser pflügen. Depersonalisierung. Das Wort tauchte in seinem Kopf auf, und er versuchte, sich daran festzuhalten. Depersonalisierung, das ist nicht gut, hör auf damit! Er versuchte zurückzukehren in den kleinen Körper weit dort unten, in dieses hilflos strampelnde Insekt in einem viel zu großen Planschbecken.

Ein klatschendes Geräusch direkt neben seinem Ohr brachte Markus endlich dazu, zurückzukehren in diese lächerliche Hülle, die da im Wasser trieb. Etwas leuchtete orange vor ihm. Er griff danach, obwohl alles Gefühl aus seinen Händen gewichen war. Er spürte einen Ruck und klammerte sich noch fester an das orangene Etwas. Jetzt stemmte sich die Strömung gegen ihn und war doch zu schwach. Er teilte sie. Zu seinen beiden Seiten hoben sich Bugwellen, so wie damals, als sie sich verbotenerweise gegenseitig mit dem DLRG-Boot durchs Wasser gezogen hatten. Jetzt nur nicht loslassen, dachte er. Nie wieder loslassen.

Erst als der Zug nachließ, sah er nach oben. Vor ihm erhob sich eine glatte weiße Wand, über die ein blaurotes Band lief. Etwas Gelbes hing von oben herab. Allmählich begriff Markus, dass es sich um ein Boot handelte. An der Reling tauchte eine mächtige bärtige Gestalt auf. Als sei Poseidon persönlich erschienen, wenn auch ohne Dreizack. Poseidon zog ihn mit seinen gewaltigen Armen ohne sichtbare Anstrengung so weit heran, dass er nach der Leiter am Bootsrumpf greifen konnte. Neben Poseidon tauchte Joachims vertrautes Gesicht auf.

Das Boot glich jenen Fischerbooten, die sie am Hafen gesehen hatten. Viel Platz war nicht darauf. Vorne am Bug gab es ein Führerhäuschen mit Fenstern nach allen Seiten. An einem der Fenster war eine Marienminiatur befestigt, um die ein Rosenkranz geschlungen war.
Über dem hinteren Teil des Bootes war ein Sonnendach aus Stoff gespannt. Dorthin hievten Joachim und der Fischer Markus, der kaum in der Lage war, sich auf den Beinen zu halten. Joachim legte ihm ein ölverschmiertes löchriges Handtuch über die schon ziemlich verbrannten Schultern. Markus zitterte. Er starrte auf die leuchtend roten Muster auf seiner Wade und an seinen Händen.

„Krass, was zur Hölle war das?“, fragte er Joachim, der neben ihm kniete und die Stellen untersuchte.

„Sieht nach einer Qualle aus. Man sieht sogar noch die Umrisse von Tentakeln.“

Poseidon thronte über ihnen und sprach mit donnernder Stimme. Dabei hielt er seine mächtigen Arme über seinem nicht minder mächtigen Bauch verschränkt. Von unten sah Markus vor allem den Teil des Bauches, der braungebrannt und haarig unter dem Unterhemd hervorlugte.

„Was sagt er?“, fragte Markus.

Joachim hob die Schultern. „Ich verstehe ihn kaum. Ich glaube er hat irgendwas mit Herakles gesagt, aber vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet. Es hörte sich auf jeden Fall nicht besonders liebenswürdig an.“

Poseidon schüttelte den Kopf und machte keine weiteren Anstalten, sich verständlich zu machen.

Markus lugte über den Rand des Bottichs neben ihm. Auf dessen Boden stapelten sich ein paar Fische. Obenauf lag eine fast halbmeterlange Meerbarbe. Ihr noch klares goldumrandetes Auge blickte ihn traurig an. Markus wandte sich rasch wieder dem Boden vor ihm zu.

Poseidon kehrte in sein Führerhäuschen zurück und wendete das Boot. Er lenkte es aber nicht in Richtung Hafen, sondern fuhr auf die kleine Insel zu. Sie legten direkt vor einer der wenigen Hütten am Ufer an einem verwitterten Holzsteg an.

Im Eingang der Hütte zeigte sich eine Gestalt. Sie trat auf den Steg hinaus ins Licht. Ihr mähnenartiges rot getöntes Haar leuchtete auf. Sie trug ein violettes Kleid mit einem breiten Gürtel. Mit der linken Hand schützte sie ihre Augen vor dem Sonnenlicht. Sie rief Poseidon etwas zu. Ihre Stimme klang fast so rau und tief wie seine. Poseidon antwortete mürrisch. So ging es ein paar Mal hin und her.

Poseidon forderte die beiden mit einer scheuchenden Handbewegung auf auszusteigen. Sie folgten seiner Aufforderung mit schwankenden Schritten und wiederholten immer wieder:

„Danke, vielen Dank, efcharisto, efcharisto poli!“

„Nai, nai, endaxi“, antwortete Poseidon.

Kaum waren sie auf dem Steg, machte er das Boot wieder los und wendete.

Die beiden standen in ihren Badehosen auf den heißen Planken und sahen sich ratlos um. Markus fühlte sich immer elender. Er fragte sich, warum der Fischer sie nicht zurück zum Dorf gebracht, sondern sie auf diesem öden Eiland abgesetzt hatte. Sein Forschergeist war komplett erloschen. Er wollte irgendwo hin, wo er sich sicher fühlte, am besten zurück zu Anna. Was wollten sie hier? Was sollte dieser ganze Ausflug, bei dem er gerade fast draufgegangen wäre?

Die Frau trat lachend auf sie zu.

„Amerikí? Anglía? Gallía? Germanía?“ fragte sie.

Markus sah, dass Joachim Mühe hatte, den Blick von ihren Brüsten zu heben, die der breite Gürtel aus dem engen Kleid herauszuschieben schien. Das Gesicht darüber blickte freundlich durch eine dicke Maske aus Make-up.

„Germanía“, antwortete Joachim heiser.

„Deutschland, das habe ich mir gedacht. Kommen Sie, kommen Sie aus der Sonne. Hier gibt es genug Schatten für alle.“

Ihre verwunderten Blicke trafen sich. Markus fragte sich, ob er das am Ende alles nur träumte, ob sein Körper nicht längst leblos über den Grund des Mittelmeers trieb, und nur noch ein paar erstickende Synapsen in seinem Kopf letzte tröstende Bilder sendeten. Aber er tat es Joachim gleich und folgte brav der unwirklichen Erscheinung, die sie in zwar akzentbehaftetem, aber völlig korrektem Deutsch begrüßt hatte. Durch einen Vorhang aus türkisen Plastikstreifen ins traten sie ins Innere der Hütte.

Drinnen war es so viel kühler, dass es Markus schauderte. Auch dieser bescheidene Raum, der nur zwei kleine verschlossene Fenster hatte, wurde von einem großen Fernseher beherrscht, der immer noch nichts als Lady Di und Mutter Teresa zeigte. Die Heilige und der gefallene Engel, dachte Markus, ein glückliches Zusammentreffen zweier prominenter Todesfälle, geeignet, das mediale Erregungsniveau für Wochen hochzuhalten. Und schon meldete sich wieder ungefragt der Elton John-Ohrwurm in seinem Hinterkopf. Es wurde ihm auf einmal klar, dass auch sein eigenes Lebenslicht gerade heftig geflackert hatte. Ihm wurde flau, er musste sich an der mit einer Spitzendecke bedeckten Lehne eines der Polstersessel, die auf den Fernseher gerichtet waren, festhalten. Sein Blick wanderte von den gedrechselten Füßen einer Kommode zu einer Ikone der heiligen Jungfrau mit ihrem Kind, deren Blattgold-Hintergrund das Flimmern des Fernsehers reflektierte.

„Bitte, nehmen Sie Platz!“

Die Frau deutete auf die Sessel. Ihr Nagellack schimmerte im Zwielicht der „guten Stube“. Ob es dafür einen Ausdruck auf Griechisch gab? Markus schätzte sie auf irgendwas über 50, gestand sich aber ein, dass seine Schätzungen jenseits der 30 meistens sehr ungenau waren. Ihre vom schwarzen Cajal vergrößerten Augen traten etwas hervor. Morbus Basedow, dachte Markus. Er suchte und fand die feine Linie einer Schilddrüsen-Operation an ihrem Hals.

Joachim schien den Blick gar nicht mehr von ihrer üppigen Erscheinung abwenden zu können. Joachim, Joachim, dachte Markus, ob Susanne das gutheißen würde?

Sie bemühten sich beide nach Kräften, ihre Dankbarkeit auszudrücken. Joachim konnte aber auch seine Neugier nicht länger zügeln.

„Darf ich fragen, warum sie so gut Deutsch sprechen?“

„Dreißig Jahre Sekretärin in der deutschen Botschaft in Athen, da schnappt man ein bisschen was auf, kann man wohl sagen. Und Sie? Von wo aus Deutschland kommen Sie?“

Joachim strahlte sie an.

„Aus Witten, das werden sie nicht kennen.“

„Ah, nein, wo ist das?“

Joachim versuchte zu helfen: „Bochum? Dortmund?“

Die Frau lächelte ihn ratlos an.

„Köln? Bonn?“

„Ja, Bonn, natürlich, die Hauptstadt. Ich war leider nie dort. Mein Mann und ich, wir waren mal in München, Oktoberfest, das war das einzige, was er auch sehen wollte, in Deutschland. München ist eine sehr schöne Stadt.“

„Ja, schon, aber…“ fing Joachim an.

Bitte jetzt nichts darüber, dass das Ruhrgebiet viel schöner ist als sein Ruf, dachte Markus. Er machte sich lieber nicht die Mühe richtigzustellen, dass er gar nicht mehr in Witten wohnte, ja, dass er überhaupt nur zwei Jahre dort gewohnt hatte, dass er eigentlich aus dem Norden kam, und jetzt in der hessischen Pampa studierte, und eigentlich auch gar nicht recht wusste, was er auf die Frage, wo er herkam, antworten sollte. Was hätte diese Frau, die nur München kannte, auch mit all diesen Informationen anfangen sollen? Stattdessen fiel er Joachim ins Wort:

„Wissen Sie eigentlich, dass Ihr Mann uns gerade das Leben gerettet hat, also, mir jedenfalls?“

„Keine Sorge, das macht er öfter. Wir hatten schon alle hier, Amerikaner, Franzosen, Engländer, einmal sogar einen Schweden. Ihr wolltet doch bestimmt auch zu uns rüber schwimmen. Habt ihr denn die Schilder nicht gesehen?“

Joachim schüttelte den Kopf.

„Aber ich bin früher öfter rüber geschwommen. Das war nie ein Problem.“

„Da haben Sie wohl immer Glück gehabt. An manchen Tagen gibt es hier starke Strömungen.“

Da war es wieder, dieses Gefühl, fortgerissen zu werden, nichts mehr tun zu können. Markus schloss kurz die Augen. Sein Bein fing wieder an zu brennen.

„Die Strömung war erst gar nicht so das Problem“, sagte er, „ ich bin gegen eine Qualle geschwommen.“

„Eine was?“

„Eine Qualle.“ Markus machte eine wabernde Bewegung mit den Händen.

„Ah, Medousa, ja, die werden hier immer mehr zum Problem. Armer Junge, sie hat dich richtig erwischt. Da hilft nur eins.“

Sie verschwand in der angrenzenden Kochnische und kehrte mit einer riesigen Zwiebel, einem Schneidebrett und einem langen Küchenmesser wieder. Markus ahnte Böses. Noch bevor er protestieren konnte, traf die halbierte Zwiebel auf seine Wade, die sich mittlerweile anfühlte, als läge das rohe Fleisch offen. Er zog Luft durch die aufeinandergepressten Zähne. Die Frau kniete neben ihm. Chanel No. 5, Haarspray und kalter Rauch mischten sich mit dem beißenden Zwiebelgeruch. Sie rieb ihn unbeeindruckt von seinen Schmerzensäußerungen weiter ein. Es fühlte sich wirklich schon etwas kühler an. Sie merkte, dass er sich entspannte, und lächelte ihn an:

„Zwiebeln helfen immer. Das wusste schon meine Großmutter. Ich heiße übrigens Eleni, und Sie?“

Eleni. Markus dachte sofort an das schmachtende Lied, das in den drei Tagen seit seiner Ankunft auf Kreta fast immer irgendwann gespielt wurde, wenn irgendwo ein Radio lief. Eleni kannte es natürlich. Anna Vissi. Schönes Lied, fand sie, nur ein bisschen traurig. Auch sie selbst sah kurz etwas trauriger drein, aber im nächsten Moment strahlte sie die beiden wieder an. Sie schien sich wirklich über die unerwarteten Gäste zu freuen.

Eleni wollte noch ganz viel wissen und war von jeder Antwort begeistert. Ein Lehrer für Latein, Altgriechisch und Hebräisch? Toll. Ein Medizinstudent? Noch besser. Den Trick mit der Zwiebel, den müsse er unbedingt auch an seine Patienten weitergeben. Viele kennten ja die alten Hausmittel gar nicht mehr. Dabei seien die oft viel besser als die ganze Chemie, wobei letztes Jahr, da sei sie ja fast an einer Lungenentzündung gestorben, aber zum Glück gebe es ja Antibiotika. Im Reden tischte ihnen Eleni dabei Wasser und Oliven auf und fing nebenbei an zu kochen.

Irgendwann schien sie soviel nackte männliche Haut um sie her doch anstößig zu finden. Sie steckte die beiden kurzerhand in ein Paar Hemden ihres Mannes. Selbst der nicht mehr ganz schlanke Joachim sah in dem viel zu weiten Hemd wie eine Vogelscheuche aus.

Eleni fand, sie sähen beide so mitgenommen aus, sie bräuchten unbedingt noch etwas anderes als Wasser zu trinken. Sie holte eine Flasche ohne Etikett aus dem Schrank und schenkte jedem ein großes Glas davon ein. Markus fragte sich, ob er blind werden würde, wenn er das jetzt trank. Es brannte auch fürchterlich im Hals, aber der Schmerz am Bein und an den Händen ließ dafür weiter nach. Die Welt wurde immer freundlicher, die Hütte immer gemütlicher.
Joachim übernahm zunehmend das Sprechen für Markus, der nicht aufhören konnte zu lächeln und dabei immer weiter abdriftete. Er dachte an Marburg, wo er erst seit wenigen Monaten im ausgebauten Dachstuhl eines Fachwerkhauses, an dessen niedrigen Balken er sich ständig stieß, wohnte. Er teilte sich winzige Wohnung mit einem anderen Medizinstudenten. Unten wohnte eine Professorin für Religionswissenschaft, die ihre vier Kinder alleine großzog. Wohnraum war knapp in diesem Städtchen, in dem jeder, den er zunächst kennengelernt hatte, irgendetwas mit der Uni zu tun hatte. Anna war die erste Nichtakademikerin die er dort kennenlernte. Sie machte eine Ausbildung zur Hebamme. Sie hatte sich bei der Theo Angelopoulos-Retrospektive im Capitol-Kino angesprochen. Anna war mit einer Freundin aus der Hebammenschule dort. Nach dem Film waren sie zusammen durch die Altstadtkneipen gezogen und am Ende, nur noch zu zweit, mit einer Flasche Ballantines auf einem Spielplatzgerüst mit Blick auf die Stadt gelandet. So hatte es angefangen.

Nach diesem Auftakt war eine Griechenland-Reise irgendwie als logische Folge erschienen. Aber war es wirklich eine gute Idee gewesen, mit Anna die Eltern seiner Exfreundin Esther in deren Ferienhaus auf Kreta zu besuchen? Nur weil er sich immer noch mit ihnen verstand, war es doch naiv zu glauben, dass die Vergangenheit an diesem Ort keine Rolle spielen würde. Er war zunächst erleichtert gewesen, dass Anna und Susanne sich so gut zu verstehen schienen. Nach dem lustigen Abend, den sie zu viert verbracht hatten, schien es ihm in Ordnung zu sein, dass die beiden Frauen zusammen zum Strand gingen, während Joachim und er einen Ausflug mit dem Roller machten. Aber jetzt fragte er sich, was Susanne Anna über ihn und Esther erzählen würde, wenn die beiden Frauen unter sich waren. Würde Anna es ihm überhaupt verzeihen, dass er sie so weit in sein vergangenes Leben hineingezogen hatte?

Dann fiel ihm wieder ein, wie sie in diese Hütte auf der kleinen Insel gekommen waren. Wäre er wirklich gerade fast ertrunken? - Und Joachim, erzählte der gerade wirklich Eleni davon, dass seine Tochter und er, Markus, ein Paar gewesen seien? Was ging das diese fremde Frau an, auf die Joachim so offensichtlich stand, dass Markus sich zu fragen begann, was passieren würde, wenn ihr Mann irgendwann wiederkäme. Er wollte Joachim zurechtweisen, aber da füllte Eleni schon wieder sein Glas.

Eleni schimpfte über ihren Mann, der nicht Poseidon sondern Georgos hieß. Er habe seinen anständig bezahlten Job als Bauleiter in Athen, dieser immer weiter in angrenzenden Berge wachsenden Stadt, aufgegeben und sie genötigt, mit ihm in diese Einöde zu ziehen, wo schon sein Vater und Großvater Fische aus dem Meer gezogen hätten. Als ob man heutzutage noch von der Fischerei leben könne! Sie hätten so ein schönes Leben in Athen gehabt, ein Häuschen in Anafiotika, direkt unter der Akropolis, da hätten ihre Kollegen sie immer drum beneidet.
Ob sie Athen kennten, wollte Eleni wissen. Joachim bejahte, er sei schon oft dort gewesen, und Anafiotika sei wirklich der schönste Teil der Altstadt. Eleni strahlte über ihr ganzes rundes Gesicht. Sie wusste – und erzählte es den beiden auch bereitwillig - dass Georgos die Touristen, die er manchmal für ein paar Drachmen zu der kleinen Insel übersetzte, und hin und wieder auch, wie heute, direkt aus dem Wasser fischte, immer direkt zu ihr brachte, um sie in ihrer unfreiwilligen Einsamkeit bei Laune zu halten. Das habe ihr auch schon sehr unangenehme Begegnungen eingebracht, aber diesmal, das müsse sie wirklich sagen, habe er einen richtig guten Fang gemacht.

Als die Sonne tiefer stand, zogen sie auf eine Terrasse um, die oberhalb der Hütte in die Felsen gehauen und durch eine Steintreppe mit ihr verbunden war. Markus musste sich an dem Eisengeländer festhalten, um die Stufen hochzukommen. Er war dankbar für die niedrig gehaltene Oleanderbüsche, die in großen Bottichen die Terrasse begrenzten, wohl um zu verhindern, dass einer in seinem Zustand über den steilen Rand ins Wasser stürzte.

Die Aussicht auf die Meerenge und das Dorf auf der anderen Seite erfüllte Markus mit Verständnis für Georgos‘ Projekt, aber Eleni wurde nicht müde, ihre Verachtung für ihr jetziges abgeschiedenes Leben auszudrücken. Dabei rauchte sie ununterbrochen Marlboro light. Markus sah Joachim an, dass der seine Pfeife vermisste.

Eleni prüfte weiter Joachims Athener Ortskenntnis. Der erinnerte sich bereitwillig, wenn auch mit immer schwererer Zunge.

Sie sahen Georgos‘ Boot vom Fischmarkt im Dorf zurückkehren.

Eleni begann Mezedes aufzutischen, kleine Schalen mit Riesenbohnen, Oktopusstücken und Sardellen.

Das Boot legte an. Georgos setzte sich schweigend zu ihnen. Elenis Fröhlichkeit schwand. Joachim und Markus rutschten auf ihren Plastikstühlen herum. Sie bemühten sich erneut, Georgos ihren Dank auszudrücken, aber der winkte müde ab. Beim Essen wurde wenig gesprochen. Eleni machte sich nur ab und zu die Mühe, etwas von Georgos‘ hingebrummten Worten zu übersetzen. Wie immer hatte er, auch nachdem er die beiden abgesetzt hatte, nicht viel gefangen. Schuld daran seien die Großen, die mit ihren Riesennetzen weit draußen schon alles wegfischten. Elenis sicher nicht zum ersten Mal geäußerten Vorschlag, doch ins Touristengeschäft einzusteigen, wischte er mit einer Bewegung seiner Pranke weg.

Erst als es um die Qualle ging, interessierte Georgos sich plötzlich. Er ließ sich von Markus beschreiben, was dieser gesehen hatte. Markus musste sich sehr zusammenreißen, um noch verständliche Worte hervorzubringen, die Eleni übersetzen konnte. Als er das Spinnennetzmuster im Wasser beschrieb, zogen sich Georgos‘ weiße Brauen zusammen. Kompassquallen! Die habe es hier früher nie gegeben. Schuld seien die vielen Riesenschiffe, die heute in der Ägäis kreuzten und lauter fremde Tiere mitbrächten. Seit einiger Zeit fange er auch immer häufiger die giftigen Feuerfische, eine Pest sei das.

Als Eleni am Ende noch mit Honig übergossene Halva brachte und die Rakigläser erneut auffüllte, wusste Markus, dass gleich das nächste Unglück passieren würde, wenn er noch einen Schluck nähme. Der Schmerz war von seiner Haut in die Knochen gewandert. Er fühlte sich immer jämmerlicher.

Georgos beäugte mit sichtlich zunehmendem Unmut Joachim und Eleni, die ihr Gespräch auf Deutsch wieder aufgenommen hatten, und ihn ganz vergessen zu haben schienen. Gleich haut er ihm eine rein, dachte Markus, sah sich aber nicht mehr in der Lage, irgendetwas zu unternehmen.

Zum Glück stand Georgos einfach nur auf und gab den beiden durch eine eindeutige Handbewegung zu verstehen, dass er sie jetzt zurück ins Dorf bringen werde.

Eleni sah ihnen vom Steg aus nach und hob dabei kaum die Hand zum Abschied. Ihr Gesicht schien unter der vielen Schminke erstarrt. In ihrer jetzigen Erscheinung erinnerte sie Markus an das, was Esther ihm über antike Schauspieler erzählt hatte: dass diese immer nur hinter Masken aufgetreten waren. Allerdings, meinte er sich zu erinnern, waren es dabei auch hinter den Frauenmasken ausschließlich Männer gewesen, die im Theater auftraten.

Auf dem Boot krallte sich Markus an der Reling fest. Er schwitzte, obwohl er im kühlen Fahrtwind stand. In seinem Mund sammelte sich immer wieder Speichel, den er runterschlucken musste, während sein Mageninhalt in Wellen gegen den oberen Schließmuskel brandete. Er sah sein verzerrtes Gesicht im Aluminium der Reling gespiegelt, erkannte sogar, wie klein seine Pupillen geworden waren. „Scheiß-Parasympathikus!“ dachte er. Er hoffte, dass die anderen beiden nicht mitbekamen, wie er das ganze schöne Essen den Fischen zurückgab.

Tatsächlich war Joachim ganz damit beschäftigt, Georgos klarzumachen, dass sie nicht zum Dorf mussten, sondern zu dem Strand mit ihrem Roller und ihrer Kleidung. Schließlich verstand Georgos und änderte den Kurs.

Als sie sich dem Strand näherten, war dieser nicht mehr so leer wie sie ihn verlassen hatten. Neben Roller stand ein großes Motorrad. Weiter hinten, wo die Schotterpiste in den Strand mündete, parkte ein Kleinwagen, der dem Twingo, den Joachim und Susanne sich am Flughafen von Iraklion gemietet hatten, verdächtig ähnlich sah. Vorne am Ufer waren drei scherenschnittartige Gestalten zu erkennen, von den zwei heftig gestikulierten. Eine trug eine Schirmmütze. Bei der anderen tanzte ein Pferdeschwanz hinter dem Kopf. Kein Zweifel, es war Susanne, die da mit einem Polizisten diskutierte. Neben den beiden spähte Anna über das Meer, das sich in der Abendsonne rosa färbte. Sie schien die beiden auf dem Boot zu erkennen und erwiderte Joachims überschwängliches Winken mit einem lässigen Gruß. Sie fasste Susanne an der Schulter und deutete hinüber. Susanne fasste sich an die Stirn. Sie rief etwas Unverständliches hinüber.

Als das Boot nah genug war, entspann sich über das Wasser hinweg eine Diskussion zwischen Georgos und dem Polizisten. Es klang auf beiden Seiten wütend, so dass Markus sich wunderte, als Georgos irgendwann den Daumen nach oben reckte, so als sei doch alles in Ordnung. Der Polizist schien das nicht zu finden, denn er brüllte noch lauter. Jahre später erinnerte sich Markus an Georgos‘ Geste, als er einen Artikel über Handzeichen im internationalen Vergleich las: demnach zu urteilen, war es eine Aufforderung gewesen, sich als passiver Partner beim analen Geschlechtsverkehr zur Verfügung zu stellen.

Es gab keine Landemöglichkeit an dem Strand. Sie mussten sich auf dem Boot von Georgos Hemden trennen und zurück ins Wasser. Sofort kam es Markus wieder vor, als schäle sich seine versehrte Haut ab. Zum Glück waren es nur ein paar Schwimmzüge, bis sie wieder Boden unter den Füßen hatten. Sie wankten an Land und blieben triefend und erbärmlich vor ihren Frauen stehen.

Georgos wendete das Boot ohne sich noch einmal umzudrehen.

Der junge Polizist und Susanne schienen sich gut verstanden zu haben. Sie schenkte ihm zum Abschied ein vielsagendes Lächeln. Sieh an, dachte Markus, sie ist auch nicht viel besser.
Der Polizist verabschiedete sich mit einem Griff an die Schirmmütze, schwang sich gekonnt auf sein Motorrad und donnerte davon.

Die beiden Frauen sahen sich an und lachten. Dann erbarmten sie sich ihrer gebeutelten Männer. „Ihr müsstet euch sehen“, rief Susanne, „ihr Süßwasser-Matrosen!“ Markus musste sich auf Annas Schulter stützen, um zu den Handtüchern zu kommen. Er war sich seines Geruchs nach Zwiebeln, Schnaps und Erbrochenem wohl bewusst. Beim Anziehen strauchelte er und konnte sich gerade noch an der Felswand abfangen.

Sie diskutierten, was mit dem Roller geschehen sollte. Joachim fand, er könne ihn zurück zum Ferienhaus bringen, es sei ja nicht weit. Das sahen Susanne und Anna anders. Markus hielt sich raus. Sie würden sich schon einigen. Hauptsache, er musste sich nicht mehr groß bewegen.

Am Ende fuhr Susanne den Twingo. Auf dem Beifahrersitz beteuerte Joachim weiter, dass er noch hätte fahren können. Hinter ihnen hing schräg auf der für ihn viel zu kleinen Rückbank Markus. Hinter dem Twingo fuhr, in sicherem Abstand, Anna auf dem Roller.

Durch die halb geöffneten Lider sah Markus Anna an seinem Bett sitzen.Ihre kühle Hand auf seinem verbrannten Nacken tröstete ihn wie die seiner Mutter damals, als seine Mandeln so dick geschwollen waren, dass er nur noch ganz langsam an ihnen vorbei hatte Luft holen können, während die Panik ihm immer wieder zurief, dass er jetzt ganz schnell ganz viel Luft holen müsse. Während er einschlief, dachte er: wir können hier nicht bleiben, wir müssen dringend weiter, weg aus diesem Haus, weg aus meinem alten Leben, ans andere Ende der Insel, nur wir zwei, am besten noch vor dem Frühstück. Wir schreiben einfach einen Zettel mit einem Dankeschön, und dann nichts wie weg!
 
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Languedoc

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Hallo Felix Bartholmes,

Guter Stoff, doch holprig zu Papier gebracht. Die auktoriale Erzählweise (die Außenperspektive eines Allwissenden) funktioniert nicht recht. In meinen Augen ist offensichtlich, dass in diesem Text eigentlich Markus spricht. Wäre es nicht passender, ihm die Stimme zu geben, ihn erzählen zu lassen, wie er diesen Ausflug auf die Insel wahrnimmt? Er, der ICH-Erzähler, nähme dann die Außenwelt unter die Lupe und der Leser könnte nachvollziehen, dass diese Figur versessen darauf ist, seine Umwelt zu beschreiben, als drehte er andauernd an einem Kaleidoskop. So wäre dann eben sein Charakter. Der Medizinstudent Markus hat eventuell zu viel Anatomie betrieben und dabei den Menschen in seiner lebendigen Ganzheit aus dem Blick verloren. Er kann zwar diagnostizieren, aber das Mitfühlen und Einfühlen in eine andere Person gelingt ihm nicht gut, interessiert ihn vielleicht auch gar nicht. Er ist mit sich selbst nicht im Reinen und flieht lieber, als sich zu stellen – das könnte man dem Schlusssatz der Geschichte entnehmen:

Während er einschlief, dachte er: wir müssen dringend weiter, weg aus diesem Haus, weg aus meinem alten Leben, ans andere Ende der Insel, nur wir zwei, am besten noch vor dem Frühstück.

was mich zu dem Schluss führt, dass dieser Held sich gegen seine Heldenreise wehrt, die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit nicht in Angriff nimmt und den Beziehungen zu Menschen ausweicht. Er will lediglich den Ort wechseln.

Zu den Figuren:
Markus ist mit Joachim, dem Vater seiner Ex-Freundin, auf Urlaub in Griechenland. Was verbindet die beiden Männer? Welche Rollen spielen ihre Frauen, Anna und Susanne? Und wer ist mit Calypso gemeint? Ich denke dabei an die Figur aus der Odyssee, die auf einer Insel lebt und Odysseus bei sich festhält. Ist das in der vorliegenden Geschichte die Griechin Eleni? Wenn ja, gälte es, ihren Calypso-Charakter zu verdeutlichen, und vor allem könnte man zu Markus einen Bezug schaffen insofern, dass der dann ein moderner Odysseus auf seinen Irrfahrten wäre. Der Konnex zur griechischen Mythologie ist im Text angelegt, schließlich werden zwei griechische Sagengestalten bemüht, nämlich Poseidon und Herakles. Im Übrigen erinnert mich die Geschichte von der Aufnahme in der Hütte durch Georgos und Eleni eher an Philemon und Baucis, als an Calypso.

Die Figuren werden ungeschickt eingeführt, als Leser durchschaue ich die Konstellationen nur mühsam. Der Name Esther taucht einmal im Gespräch in der Kneipe auf – ist sie Joachims Tochter und Markus‘ Ex-Freundin? Das nehme ich dann halt an.
Anna und Susanne sind zunächst in der Erinnerung von Markus. Ich als Leser darf bis zum Schluss der Geschichte knobeln, wer sie wohl sind.
Bei Eleni vergibt sich der Autor einen echten Überraschungseffekt, nämlich dass diese Griechin in ihrer Einöde perfekt deutsch spricht. Hier die Passage:

Die Frau trat lachend auf sie zu. „Amerikí? Anglía? Gallía? Germanía?“ fragte sie. Joachim hob seinen Blick mühsam von ihren Brüsten, die der breite Gürtel aus dem engen violetten Kleid herauszuschieben schien, zu ihrem dick bemalten runden Gesicht. „Germanía“, hörte er sich heiser antworten. „Deutschland, das habe ich mir gedacht. Kommen Sie, kommen Sie aus der Sonne. Hier gibt es genug Schatten für alle.“ Sie folgten ihr durch einen Vorhang aus türkisen Plastikstreifen ins Innere der Hütte.

Und das war’s mit der Erstbegegnung. Die Protagonisten hätten doch über diesen Empfang in perfekter deutscher Sprache überrascht sein können, oder?


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Sie sollten für den Text relevant sein, also einen erkennbaren Bezug haben vor allem zu den Konflikten, die die Protagonisten mit sich herumträgen. Ansonsten ist es nur Info-Dumping.


Stil

Der Text ist voller Beschreibungen der Umwelt (Farben, Formen, Gerüche). Das passt an sich gut zum Typ Markus, unterbricht aber die Handlung immer wieder zu abrupt und grundlos. Nur ein Beispiel:

Sie wandten sich dem züngelnden Meer zu, das mit jeder kleinen Welle ein prasselndes Geräusch zwischen den Kieseln erzeugte. Mit seinen dunklen angegrauten Locken, seiner gebräunten Haut und seiner keine Körperteilgrenzen respektierenden Behaarung hätte Joachim fast für einen Einheimischen durchgehen können, ...

Ich meine, wenn die beiden aufs Meer zugehen, passt in dem Moment die Beschreibung von Joachims Aussehen nicht, das unterbricht das Badengehen.


Der Text leidet passagenweise an akuter Adjektivitis. Nichts gegen genaue Beschreibungen/Beobachtungen, aber so was ist einfach zu üppig:

Am Ufer trockneten grüne Nylonnetze. Neben dem einzigen Kafenion erhob sich ein mächtiger Eukalyptusbaum. Der Boden um ihn war bedeckt von seinen schmalen Blättern. In seinem Schatten saßen, über einen weißen Plastiktisch gebeugt, zwei alte Männer in dunklen staubigen Anzügen ...


Einige andere Beispiele für Stilpatzer:

Hinter der nächsten Biegung war auch aus einem kurzen Stück so viel gerade genug Fels aus dem Hang gesprengt worden, dass zwei Autos an einander vorbei passten. (klingt nicht gut)
aus dem riesigen Coca Cola-Kühlschrank, der daneben verlockend summte. (Verlockend ist wohl eher der Inhalt des Kühlschranks, und nicht dessen Summen.)
Sie mussten warten, dass bis das Kaffeepulver auf den Grund der Tasse sank (wobei das immer noch ungeschickt klingt)
Markus grinste so sehr, dass sich die Sommersprossen auf seinen Wangen zu einer einzigen braunen Fläche zusammenzogen. (Das ist zuviel verlangt von menschlicher Mimik)
Markus musste Joachims geschleudertem Handtuch ausweichen. (einem geschleuderten Handtuch ausweichen?)
Joachim wendete den Blick nicht vom langsam näher kommenden Ufer ab, (seit wann ist ein Ufer mobil und kommt einem entgegen?)
Er stakste über das Kiesbett ins Wasser, während Markus nach seiner Schnorchelbrille griff, Anlauf nahm und sich hineinwarf. (er warf sich in die Schnorchelbrille?)
aber der hörte nur Blubbern und Rauschen und seine eigenen salzigen Schreie irgendwo tief in seiner Brust (salzige Schreie irgendwo tief in seiner Brust?)


Mit anderen Worten, stilistisch gäbe es einiges zu verbessern, aber das ist Sache des Autors und seiner Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln.

Form:
Der Test ist optisch schlecht gegliedert: zu viele „In-einer-Wurst“-Passagen. Nach einem Gedankensprung und nach Sprecherwechsel sollte ein neuer Absatz gemacht werden.

Orthografie:
mehrere Ausrutscher, vor allem bei den Beistrichen, die fehlen oft nach der direkten Rede:
„Ha, offen!“, [Beistrich] rief Joachim​
„Baden?“, [Beistrich] fragte Joachim​

detto bei Infinitivkonstruktionen:
Markus musste sich an dem rostigen Geländer festhalten, [Beistrich] um die Stufen hochzukommen.​


So, nun hab ich mich ausgetobt bzw. mehr in diese Geschichte verbissen, als nach dem erstmaligen Lesen vorgehabt. Wie gesagt, mich hat der Stoff angesprochen, aber mit der Ausarbeitung wäre ich nicht zufrieden.

Ich hoffe, meine Kritik wird als Aufmunterung verstanden, dranzubleiben und zu feilen. Potential ist vorhanden!

Freundliche Grüße
Languedoc
 
Liebe(r) languedoc,

ich nehme es als Kompliment, dass Du Dich so eingehend mit meinem ersten fiktionalen Text seit über 20 Jahren beschäftigt hast. Einiges von Deiner Kritik kann ich mir gut annehmen, anderes halte ich mehr für Geschmacksache. In jedem Fall war es diese Art von konstruktiver Auseinandersetzung, die ich in diesem Forum gesucht und damit auch gefunden habe, was mich eher dazu ermutigt, weiterzumachen und besser zu werden. Was die Kommasetzung angeht, tue ich mir tatsächlich seit der Rechtschreibreform schwer damit, gerade bei den Infinitivkonstruktionen.

Viele Grüße

FB
 

yza

Mitglied
Na ja..., bei aller auktorialen Kritik ;-) , man kann deinen Text auch einfach nur lesen und ihn mitreißend, spannend oder faszinierend finden, oder eben auch nicht! Mir gefällt er und auch deine Weise zu erzählen. Noch dazu erinnert er mich an meine Griechenland Inselspringen Erlebnisse und auch an die von mir sehr geliebte minoische Kultur... #writeon
✿◕ ‿ ◕✿
 
Vielen Dank für die aufmunternden Worte, Yza! Ich überarbeite den Text gerade, um ihn noch etwas lesbarer und stringenter zu machen. Hoffentlich verschlimmbessere ich ihn dadurch nicht aus deiner Sicht, aber ich musste meinem scharfen Kritiker doch zähneknirschend an einigen Stellen recht geben. Es freut mich auf jeden Fall sehr, dass ich auch bei dir Erinnerungen an diese wunderbare Insel und ihre faszinierende Geschichte wecken konnte!
 

Languedoc

Mitglied
Hallo Felix Bartholmes,

Bei Zeus, das ist Dir aber gut gelungen! Die Überarbeitung hat sich mächtig gelohnt!
Und ich freue mich auf weitere Geschichten von Dir, Du hast bestimmt viel zu erzählen.
Freundliche Grüße
Languedoc
 
Vielen Dank, Languedoc! Ein hart erkämpftes Lob tut doppelt gut! So erschrocken ich im ersten Moment über deine umfassende Kritik war, so sehr hat sie mir doch geholfen, viel mehr aus dem Stoff herauszuholen. Sonst wäre ich wohl einfach zum nächsten Versuch weitergestolpert und hätte wieder die gleichen Fehler gemacht.

Viele Grüße
FB
 



 
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