Rhondaly DaCosta
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Camelot Teil 3 - Verfolgt!
Die altmodische kleine Türglocke am Ladeneingang des Antiquariats klingelt nicht.
Der Besucher wirft einen kurzen, fahlen Blick auf den blockierten Mechanismus und gleitet dann mit schnellen Schritten durch die kaum geöffnete Tür in die Buchhandlung in der Avenue Louise.
Michelle ordnet Bücher in der Abteilung für Fantasy Fiction Literatur. Sie ist eine Bücherfreundin par excellence. Als Angestellte im Antiquariat hat sie die Berufung ihres Lebens gefunden.
Im Moment räumt sie aufmerksam den Fundus um, der von keltischen Sagen und von Runenzeichen handelt. Vor lauter Konzentration hat sie den hereinkommenden Besucher nicht bemerkt – außerdem hat die Türglocke nicht geläutet.
Jetzt nimmt sie einen Schatten über sich wahr und schaut auf.
Michelle zuckt kurz zusammen.
Der Mann über ihr ist groß gewachsen. Er trägt einen langen, beigen Trenchcoat - so ein Modell, das seit mindestens dreißig Jahren aus der Mode ist.
Ein schwarzer Haarkranz umgibt eine Vollglatze, die einen langgezogenen, fast konisch geformten Schädel zeigt – eine Art Langschädel.
Der Mann trägt ein auffälliges Nasen-Piercing. Durch die Nasenscheidewand hat er einen recht dicken, grünen Ring einziehen lassen. Meistens sind die Zierringe aus weißlichem Metall hergestellt. Dieser jedoch zeichnet sich durch ein eindringliches Grün aus.
Sie betrachtet nun sein Gesicht.
Michelle kann dem Besucher nicht in die Augen sehen. Stattdessen blickt sie in eine Sonnenbrille mit schwarzgrün getönten Gläsern, in denen sie sich nun selbst widerspiegelt.
Dann erschrickt sie ein zweites Mal. Unter dem rechten Auge, nur unvollkommen von dem getönten Brillenglas verdeckt, entdeckt sie eine grässliche Narbe im Gesicht des Fremden. Eine Narbe, wie sie von einem Schwertstreich stammen könnte. Nur, wer trägt im Jahre 2014 noch eine Wunde von einem Schwerthieb davon?
„Ist dieser Mann vielleicht Mitglied einer schlagenden Verbindung?“, fragt Michelle sich.
Sie reißt sich nun zusammen und spricht den potenziellen Kunden in ihrer professionellen Verkäuferinnen-Manier an:
„Guten Tag, Monsieur, womit kann ich Ihnen dienen?“
„Ich suche das Buch „Die Artus-Sage in neuem Licht. Johann Wilhelm von Albig heißt der Verfasser dieser Schrift. Das Buch hat einen grünen Umschlag, und es umfasst exakt 49 Seiten. Herausgegeben wurde das Werk im Jahre 1930," antwortet der Mann bestimmt.
„Das einzige Exemplar, das wir hatten, wurde vor einigen Tagen von einer jungen Frau gekauft, Monsieur. Es tut mir leid“, antwortet Michelle mit aller Empathie, die sie für diese Person aufbringen kann.
Der Mann wirkt nun sehr verärgert. Eine tiefe, fast senkrechte Furchte bildet sich auf seiner Stirn, genau zwischen den buschigen Augenbrauen.
„Oh Gott, wie schade!“, klagt der Mann. Dabei wechselt sein Tonfall instant um eine Tonhöhe und nimmt gleichzeitig ein freundliches, verbindliches Timbre an.
Michelle hört die Worte wie durch einen dicken Wattebausch hindurch. Sie ist nahezu eingelullt von diesem einschmeichelnden, sanften Vibrieren in der Stimme des Gegenüber.
„Die Kundin hat ihre Visitenkarte hinterlassen. Wir senden dann immer die news zu Büchern über keltische Kultur und über Runenwissen zu“, antwortet sie, wie automatisiert.
„Warte Sie, ich hole gleich ihre Kontaktdaten“, fügt sie hinzu.
Bald kehrt sie mit Jill`s Visitenkarte zurück und zeigt diese dem Unbekannten.
Der Mann scannt die Angaben mit seinen Augen. Er scheint sich die Inhalte zu merken, ohne Stift und Papier zu benutzen.
Dann dreht er sich abrupt um und stürmt ohne einen Gruß aus dem Laden.
Beim Verlassen ertönt jetzt auch wieder die kleine Türglocke in ihrem lieblichen Läuten, das manche Besucher schon als die Klänge einer Glöckchenfee bezeichnet haben.
Michelle wacht wie aus einem Kurzschlaf auf und beißt sich auf die Unterlippe, bis diese blutig wird.
„Hoffentlich habe ich jetzt keinen Fehler gemacht“, denkt sie.