9. Tag, Der Camino Primitivo 2018, Tagebuch
2.Juli, Fonsagrada - Cadavo Baleira 23km
Müde Morgenlaternen malen ein verschlafenes, milchiges gelbes Licht in die Gassen von Fonsagrada. Nichts ist real, die Konturen verwischt. Der Himmel nimmt keine Rücksicht auf Gefühle. Ich habe keine Lust mehr auf Nässe und die Nebel, die morgens den Horizont direkt vor die Tür stellen, dieses Immergrau, das der Welt ihrer Farben beraubt. Dabei ist es Juli hier in Spanien! Nun gut, dann pfeife ich eben auf den Regen, ich pfeife auf die Pfützen, ich pfeife auf die Steine, auf denen die Muscheln verblassen, ich pfeife auf die Welt. Ich mache mir einen Ilse Werner Tag und pfeife ein Lied.
Montouto, das verfallene, verwitterte Hospiz liegt in einer Höhe von über 1000 m. Hier sagen sich Fuchs und Hase auch tagsüber noch gute Nacht. Die Windräder schnurren im Unsichtbaren, es ist eine eigenartige Melodie. Man kann die Propeller nicht sehen. Gerade noch meine ich, da war doch ein Licht, auch ein zaghaftes Blau so ganz verschämt und alles ganz grün um mich herum und plötzlich alles so kunterbunt. Es war nur für den einen Augenblick ein Gutgelaunt. Nichts ist, wie es ist. In diese verschlungenen Gedanken wische ich mir den Regen aus den Augen. Er schmeckt nach Moos und faulem Laub und nicht nach Bier.
Der Weg führt hinunter nach Paradavella auf 700m und wieder 300m hinauf zum Alto Fontaneira. Im Wald hinter einer Kurve, kann ich meinen Augentrauen, sitzt doch tatsächlich jemand auf der Straße und bereitet sein Mittagessen auf einem Gas-Brenner. Philippe ist aus Bordeaux, sein Essen, à la française, aus der Tüte. „No merci,“ nein, ich möchte nicht! Was manche so alles mit sich schleppen!
Ich habe gerade den garstigen Aufstieg nach A Lastra in den Knochen, da erwischt mich über dem Kamm, wie gestern schon einmal, ein schweres Unwetter mit Sturzregen und kräftigen Böen. Auch dieser Tag ist nicht der meine! Ich rette mich in eine Herberge. Ausgestorben der Laden, niemand hört mein Rufen. Auf dem Tresen, in der Ödnis des Raums, stinkt ein Aschenbecher, randvoll mit Kippen, daneben lockt eine Schale mit einer Handvoll Erdnüssen. Ich bediene mich an der Restmahlzeit, doch zu einem heißen Kaffee muss ich die Hoffnung fahren lassen, keiner da! Nichts ist so, wie es scheint.
Es ist nicht nur das Unvorhersehbare und das Unwegsame der Natur, es sind nicht nur die Umstände, die Bedingungen des Weges und die Kapriolen des Wetters, sondern vielmehr auch so manche Begegnungen unterwegs, die das Erlebnis eines Pilgerwegs, wie den nach Compostela, ausmachen.
Des Abends in Cadavo, ja ich habe es trotz aller Widrigkeiten wieder einmal geschafft, sitzt sie beim Pilgermahl in der Herberge „Eligio“ am Tisch an der weißgekalkten Wand. Wir sind die einzigen Gäste im Comedor, ein kalter und unwirtlicher Raum. Ich setzte mich zu ihr, verspreche ich mir doch eine Verkürzung der Zeit, bis zum Auftragen der Speisen. Ilona ist auffallend mitteilsam, das fühle ich gleich, sie hat an diesem Tag wohl noch mit keinem Menschen geredet. Zwei Menschen mit einem gemeinsamen Schicksal führt dieser Abend hier zusammen. Ich muss konzentriert zuhören, ihr Englisch ist mit einem ungarischen Akzent herb gewürzt. Ich schätzte sie um die 40, ihr Gesicht hohe Backenknochen, schmale Lippen, ist gezeichnet von den Anstrengungen des Tages, ihre Statur lang und schmal, die blonden Haare nass und ungekämmt. Was sie mir erzählt, ich kann es kaum glauben, klingt so unglaublich, wie Philipps Mittagessen auf dem Straßenpflaster. Aber nachdem ich ihre Angaben überschlage und in meinem Wanderführer nachkontrolliere, ist es doch eindeutig. Sie hat am heutigen ungastlichen Tag über 45 km auf der Rolle. Von Castro, dort wo ich Mareijke vor zwei Tagen zuletzt verabschiedet habe, ist sie frühmorgens losgezogen. Auf der Stecke hat sie die Pässe von Acebo und Montouto und dazu die giftigen Steigungen vor Fonsagrada und A Lastra bewältigt. Mir fehlen die Worte! Ich frage nach einer eventuellen Olympiaqualifikation, und da mein fassungsloser Gesichtsausdruck nicht zu übersehen ist, zählt sie das alles nochmals und präzise in ungarischer Klangfarbe der Reihe nach auf. Ich komme mir plötzlich vor wie ein spazieren gehender Waschlappen, habe ich doch soeben noch geprahlt mit den 34 km auf der kommenden Tagesetappe nach Lugo, wegen denen ich dort einen Erholungs- und Pflegetag einlegen will. Respekt! Diese Frau macht mir Angst!
In meiner hautengen Kammer, Kraut und Rüben, habe ich all meine nassen Klamotten verteilt. Jeder Griff, das Bettgestell, auch die Gardinenstange, selbst die Stuhllehne ist zum Trocknen genutzt. Hinten im Haus, in einem kleinen Abstellraum hat man Heizschlangen eingebaut, sehr komfortabel das Ganze, über sie stülpe meine nassen Treter zwischen die der anderen Pilger. Ich hoffe, sie morgen früh wieder vorfinden zu können. Draußen trommelt wütend der Regen auf das Blechgesims über dem Fenster der Kammer. Ich ziehe die Decke über beide Ohren und lösche die Welt um mich herum. Dieser Tag, in seiner ganzen Unwirtlichkeit, hat keinen einzigen Stern verdient!
-Fortsetzung folgt -