Camino Primitivo

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Lieber John,

was war denn mit dem 9. Tag? Verbirgt sich da ein Geheimnis oder ist es nur ein redaktionelles Versehen?

Im Übrigen finde ich diese Notizen nicht weniger gelungen als die in der vorangegangenen Serie.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

John Wein

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Tut mir lieber Arno,
und werte Leser,
Ist passiert! Gut Arno, dass du mich aufmerksam gemacht hast!
Fortsetzung 9 folgt im Anschluss.
Gruß John
 

John Wein

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9. Tag, Der Camino Primitivo 2018, Tagebuch



2.Juli, Fonsagrada - Cadavo Baleira 23km

Müde Morgenlaternen malen ein verschlafenes, milchiges gelbes Licht in die Gassen von Fonsagrada. Nichts ist real, die Konturen verwischt. Der Himmel nimmt keine Rücksicht auf Gefühle. Ich habe keine Lust mehr auf Nässe und die Nebel, die morgens den Horizont direkt vor die Tür stellen, dieses Immergrau, das der Welt ihrer Farben beraubt. Dabei ist es Juli hier in Spanien! Nun gut, dann pfeife ich eben auf den Regen, ich pfeife auf die Pfützen, ich pfeife auf die Steine, auf denen die Muscheln verblassen, ich pfeife auf die Welt. Ich mache mir einen Ilse Werner Tag und pfeife ein Lied.

Montouto, das verfallene, verwitterte Hospiz liegt in einer Höhe von über 1000 m. Hier sagen sich Fuchs und Hase auch tagsüber noch gute Nacht. Die Windräder schnurren im Unsichtbaren, es ist eine eigenartige Melodie. Man kann die Propeller nicht sehen. Gerade noch meine ich, da war doch ein Licht, auch ein zaghaftes Blau so ganz verschämt und alles ganz grün um mich herum und plötzlich alles so kunterbunt. Es war nur für den einen Augenblick ein Gutgelaunt. Nichts ist, wie es ist. In diese verschlungenen Gedanken wische ich mir den Regen aus den Augen. Er schmeckt nach Moos und faulem Laub und nicht nach Bier.

Der Weg führt hinunter nach Paradavella auf 700m und wieder 300m hinauf zum Alto Fontaneira. Im Wald hinter einer Kurve, kann ich meinen Augentrauen, sitzt doch tatsächlich jemand auf der Straße und bereitet sein Mittagessen auf einem Gas-Brenner. Philippe ist aus Bordeaux, sein Essen, à la française, aus der Tüte. „No merci,“ nein, ich möchte nicht! Was manche so alles mit sich schleppen!

Ich habe gerade den garstigen Aufstieg nach A Lastra in den Knochen, da erwischt mich über dem Kamm, wie gestern schon einmal, ein schweres Unwetter mit Sturzregen und kräftigen Böen. Auch dieser Tag ist nicht der meine! Ich rette mich in eine Herberge. Ausgestorben der Laden, niemand hört mein Rufen. Auf dem Tresen, in der Ödnis des Raums, stinkt ein Aschenbecher, randvoll mit Kippen, daneben lockt eine Schale mit einer Handvoll Erdnüssen. Ich bediene mich an der Restmahlzeit, doch zu einem heißen Kaffee muss ich die Hoffnung fahren lassen, keiner da! Nichts ist so, wie es scheint.

Es ist nicht nur das Unvorhersehbare und das Unwegsame der Natur, es sind nicht nur die Umstände, die Bedingungen des Weges und die Kapriolen des Wetters, sondern vielmehr auch so manche Begegnungen unterwegs, die das Erlebnis eines Pilgerwegs, wie den nach Compostela, ausmachen.

Des Abends in Cadavo, ja ich habe es trotz aller Widrigkeiten wieder einmal geschafft, sitzt sie beim Pilgermahl in der Herberge „Eligio“ am Tisch an der weißgekalkten Wand. Wir sind die einzigen Gäste im Comedor, ein kalter und unwirtlicher Raum. Ich setzte mich zu ihr, verspreche ich mir doch eine Verkürzung der Zeit, bis zum Auftragen der Speisen. Ilona ist auffallend mitteilsam, das fühle ich gleich, sie hat an diesem Tag wohl noch mit keinem Menschen geredet. Zwei Menschen mit einem gemeinsamen Schicksal führt dieser Abend hier zusammen. Ich muss konzentriert zuhören, ihr Englisch ist mit einem ungarischen Akzent herb gewürzt. Ich schätzte sie um die 40, ihr Gesicht hohe Backenknochen, schmale Lippen, ist gezeichnet von den Anstrengungen des Tages, ihre Statur lang und schmal, die blonden Haare nass und ungekämmt. Was sie mir erzählt, ich kann es kaum glauben, klingt so unglaublich, wie Philipps Mittagessen auf dem Straßenpflaster. Aber nachdem ich ihre Angaben überschlage und in meinem Wanderführer nachkontrolliere, ist es doch eindeutig. Sie hat am heutigen ungastlichen Tag über 45 km auf der Rolle. Von Castro, dort wo ich Mareijke vor zwei Tagen zuletzt verabschiedet habe, ist sie frühmorgens losgezogen. Auf der Stecke hat sie die Pässe von Acebo und Montouto und dazu die giftigen Steigungen vor Fonsagrada und A Lastra bewältigt. Mir fehlen die Worte! Ich frage nach einer eventuellen Olympiaqualifikation, und da mein fassungsloser Gesichtsausdruck nicht zu übersehen ist, zählt sie das alles nochmals und präzise in ungarischer Klangfarbe der Reihe nach auf. Ich komme mir plötzlich vor wie ein spazieren gehender Waschlappen, habe ich doch soeben noch geprahlt mit den 34 km auf der kommenden Tagesetappe nach Lugo, wegen denen ich dort einen Erholungs- und Pflegetag einlegen will. Respekt! Diese Frau macht mir Angst!

In meiner hautengen Kammer, Kraut und Rüben, habe ich all meine nassen Klamotten verteilt. Jeder Griff, das Bettgestell, auch die Gardinenstange, selbst die Stuhllehne ist zum Trocknen genutzt. Hinten im Haus, in einem kleinen Abstellraum hat man Heizschlangen eingebaut, sehr komfortabel das Ganze, über sie stülpe meine nassen Treter zwischen die der anderen Pilger. Ich hoffe, sie morgen früh wieder vorfinden zu können. Draußen trommelt wütend der Regen auf das Blechgesims über dem Fenster der Kammer. Ich ziehe die Decke über beide Ohren und lösche die Welt um mich herum. Dieser Tag, in seiner ganzen Unwirtlichkeit, hat keinen einzigen Stern verdient!



-Fortsetzung folgt -
 
So garstig, wie dir damals dieser Tag vorkommen musste, John Wein, wundert es mich nicht, dass er dem Publikum zunächst vorenthalten wurde. Aber unsereiner liest das gar nicht ungern an einem schwülwarmen Tag im August in Berlin. Amüsiert habe ich mich über die Stabreimerei zu Beginn und das Eingeständnis später: Diese Frau macht mir Angst! Ihre Leistung ist jedenfalls erstaunlich.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

John Wein

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13. Tag, Der Camino Primitivo 2018, Tagebuch (Ende)

6. Juli Ferreira - Melide 20 km

Heute naht mein Abschied vom Camino Primitivo. Dieser Jakobsweg Weg endet und mündet in Melide in den großen Französischen Weg. Mein Gefühlshaushalt ist zwiespältig. Einerseits bin ich froh, es wieder einmal geschafft zu haben, andererseits macht mich der Abschied ein bisschen wehmütig. Doch alle Erinnerungen werden bleiben, positive wie negative Augenblicke und alles bekommt rückblickend seinen eigenen Heiligenschein. Später, weiter auf dem Französischen Weg, wird mich der lebhafte Pilgerstrom nach Santiago mit sich reißen und der unaufgeregten Stille ein Ende bereiten.

Ich habe mir fest vorgenommen, diesen speziellen Tag, noch einmal bewusst zu erleben und die Stimmung unterwegs tief in mich einwirken zu lassen. Die Strecke ist nicht übermäßig lang und wenig strapaziös. Wäre da nicht der Asphalt, könnte es auch ein rechter Sonntagsspaziergang werden. Da sind keine heftigen An- und Abstiege, man hat unverstellte Fernblicke ins Land und schöne Aussichten auf die umliegenden Berge.

Der taufrische Morgen ist voll würziger Luft. Um 8 Uhr ziehe ich los. Zähe Frühnebel hängen zwischen Büschen und Bäumen. Manolito, der Haus-Terrier, begleitet mich durch das Tor bis zur Brücke, hier ist sein Revier zu Ende. Adios, leb‘ wohl du kleiner Kläffer.

Für den Tag war Sonnenschein gemeldet und dazu milde Frühlingstemperaturen. Ich schlendere und schaue, fotografiere und lasse dabei Weg und Laune ihren Lauf. Es geht noch einmal von 500m auf über 700m hinauf über einen mit Windrädern besetzten Kamm, die Anstrengung ist kaum der Rede wert. Der spärlich bewaldete Höhenweg in aromatischer Bergluft schenkt pure Wanderlust, es wird ein reizvoller Abschied von den Höhen und dem Primitivo. Hinten, im Südwesten, leuchten im Sonnenlicht die Türme von Melide, meinem Ziel. Ein spanischer Trupp passiert mich im Eiltempo, junges Gemüse mit sportlichem Ehrgeiz. Nach zwei Stunden ist es heute die erste Begegnung.

Der Abstieg hinunter quält sich zäh auf Asphalt und Schotter. Meine Gedanken verdrängen das Ende. Die 320 km von Oviedo bis zum Zusammenschluss mit dem Französischen Weg sind beinahe geschafft, nein sie sind erlebt. Ich werde die Stille und die Unaufdringlichkeit des Primitivo trotz mancher Regentage missen. An das relativ dünne Netz der Infrastruktur dieses Weges hatte ich mich schnell gewöhnt. Hier laufen nicht die Massen, die aus dem Camino Francés auf den letzten 100 km ein touristisches Event machen.

Die Ebene vor mir liegt vollkommen in der Mittagssonne. Die Schatten sind kurz, der meine liegt mir auf dem heißen Asphalt direkt zu Füßen. Zum ersten Mal überhaupt kommt die Sonnencreme zum Einsatz, gut dass sie immer griffbereit im Rucksack lag. Die letzten Kilometer ziehen sich wieder dahin, eine Erfahrung, die man jedes Mal gegen Ende einer Etappe macht. Das Ziel ist vor Augen, doch es will einfach nicht näherkommen.

In Melide gehe ich in die kleine Kirche. Ich bin nicht religiös, aber in meinen Genen wurzeln christlichen Kultur und Geschichte, es ist unsere europäische Lebensphilosophie. Mein kultureller Hintergrund ist fest in diesem Abendland verwurzelt und ich empfinde das an diesem Ort überwältigend und greifbar. Auch hier, im fernen Galicien, habe ich ein Heimatgefühl.

An der rechten Wand des Kirchenschiffes steht er auf einem kleinen Sockel, Jakobus der Mata Morus, mittelbarer Begründer des Weges. In den meisten Kathedralen Spaniens, hoch zu Ross über dem Altar, thront dieser Maurentöter mit dem Schwert. Hier jedoch, auf dem Podest an der Wand, steht er bescheiden mit Stab und Kalebasse in der Rechten und schaut gütig auf die Gläubigen hinab. Jetzt in dieser Kirche, habe ich das Gefühl angekommen zu sein, eine Regung, die man normalerweise in Santiago erwarten würde. Natürlich werde ich auch die restlichen 3 Etappen zum Sternefeld gehen, aber das Gefühl von Seligkeit, dieses innere Beben, das mich kleines Menschlein in der Bank der großen Kathedrale beim ersten Mal so allumfassend überwältigt hatte, wird es nicht sein. Beim fünften Mal ist die Ankunft in Santiago de Compostela zur Routine geworden, es berührt mich nicht mehr sonderlich. Angekommen bin ich heute und in Melide, dem Ende des Camino Primitivo, wo jener dem Französischen Weg Platz geben muss, obwohl er doch um Jahrhunderte älter ist. In der Wahrnehmung der Menschen ist in erster Linie der Französische Weg präsent.

Morgen werde ich mich in der Pilgerstrom des Francés einreihen, werde mitgerissen, lasse es einfach geschehen. In meinem Kopf werde ich dabei weiter dem Primitivo nachspüren diesem freundlichen Begleiter der letzten Tage und die Erinnerungen an diese Zeit im Herzen bewahren.

Der Camino Primitivo, dieser stolze Weg so reizvoll, so still und unaufdringlich, endet in Melide in der Rua Oviedo an einem Stoppschild. Das könnte man wirklich würdevoller gestalten, er hätte einen besseren Abgang verdient!

Damit endet mein Tagebuch. Es war unterwegs spontan und authentisch niedergeschrieben, ich habe es jetzt, nach 4 Jahren, in diese Form gegossen.

Vielen Dank für Euer mitwandern und Buen Camino!
 
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