Camino Primitivo

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John Wein

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Aus meinem Tagebuch 2018,

24. Juni, Oviedo

Es ist Zeit, hoch am Himmel zieht die Sonne ihre Bahn. Mir ist so anders, ich weiß nicht recht, mir ist nach Horizont und weit, weit weg. Hoch am Himmel zieht die Sonne ihre Bahn. Es ist Zeit.

Tief in den Bergen Asturiens und Galiciens und gehütet wie ein Geheimnis, das man nur wenigen Freunden preisgibt, führt der Camino Primitivo der „Einfache Weg“, als der älteste aller spanischen Jakobswege nach Santiago de Compostela. Er führte im frühen Mittelalter nördlich und unbehelligt am maurisch beherrschten Kastilien vorbei zum Sternenfeld. Man findet auf ihm nicht die Heerscharen des Französischen Weges, der südlich verläuft. Über 300 km führt der „Primitivo“ durch die faszinierende Welt des Hochgebirges, der Cordillera Cantábria. Schnell verlässt man den Küstenstreifen mit südlichem Zitrus- und Palmengewächs. Weiter hinauf, auf verschlungenen Pfaden, dunklen Hohlwegen über blühende Bergwiesen, Heide und Almen, wartet die Gebirgsregion mit robuster Flora auf. Hier schweift der Blick weit über Berge und Täler hinweg. Fern vom Lärm der Zivilisation, atmet man die würzige Höhenluft, kostet die Stille und erfreut sich an der Natur und Einsamkeit.

Ich bin wieder da, in Oviedo, nun zum dritten Mal nach 2014 und 2017 auf meiner Küstenweg Wanderung.

“Buenas dias Señor Wain, que tal?”

Die junge Frau am Empfang erinnerte sich an mich. Ich hatte bereits im Stadthotel Careño logiert.

„Bestens, danke Señora....äh“….?

„Álvarez“,

„ si Señora Álvarez, und ihnen?“

„ Muy bien, gracias“,

in heller Glockenstimme betonte sie das Gracias akzentuiert auf der ersten Silbe.

„Bienvenudos Cherre Wain!“

In allem liegt ein Gehen und ein Kommen. Oviedo, die quirlige, sympathische Hauptstadt des Fürstentums Asturien, liegt ungefähr in der Mitte Spaniens nördlicher Küstenlinie.

Heute ist Sonntag. Die himmlischen Frühlingsarchitekten haben ein sonniges Modell entworfen, in Frühlingstönen aus Pastell. Gern schlendere ich durch die reizvolle Altstadt mit ihren mittelalterlichen Gassen und Plätzen. Blickfang und Richtungsweiser ist, wie oft so auch hier, die imposante gotische Kathedrale. Ich erhoffe mir dort einen ersten Stempel im Pilgerpass. Zwischen der Plaza Constitucíon und der Plaza Fontán schlägt das Herz der Stadt, wer zählt die Cafés, Bars, Restaurants und Siderias, in denen man sich im Straßengestühl das Lebenstheater in original Kulissen vorführen lässt.

In den nördlichen Provinzen Spaniens ist der Cidra, gekeltert aus den Äpfeln der Saison, regionales Markenzeichen. Die neue Ernte reift inzwischen auf knorrigen Zweigen. In Ciderias der Region trinkt man den Most, weniger Bier, zur Erfrischung von Körper und Seele. Ein merkwürdiger Brauch, ein amüsantes Schauspiel, das man sich gerne vorführen lässt, wird da aufgeführt. Bühne ist der Tisch des Gastes und unser Schauspieler der Camarero. In gespreizter Gelassenheit entkorkt er die Flasche mit der Rechten, reckt sie hoch über seinen Kopf und hundertfach inszeniert, gießt er den Cidra gezielt aus luftiger Höhe in das Glas in der Linken unterhalb der Gürtellinie. Natürlich geht dann und wann auch etwas daneben, doch auch ein bisschen Spaß muss sein!

Schlaf muss auch sein, denn schließlich wartet auf mich der neue Morgen mit seiner ersten Etappe. Ich ziehe mir die lila Decke über den Kopf, aber Ruhe finde ich erst einmal nicht. Eine Erregung, die im Grunde unhaltbare und durch nichts begründete Beklommenheit vor dem Beginn, will nicht weichen. Meine Vorbereitungen waren umfassend, doch hab‘ ich an „Dies“ gedacht und um Gottes willen „Jenes“ nicht vergessen?! Was mir im Alter fehlt ist jugendlicher „Leicht Sinn“. Einfach den Rucksack hervorkramen, ein paar Klamotten reingeschmissen und gut iss. Jetzt aber ist alles nicht mehr so einfach, weil man ja selbst nicht mehr so einfach ist. Den Rucksack vollmüllen und fort, das wäre es! Ist es aber nicht!

Irgendwann zwischen all den Gedanken setzt sich meine Seele auf einen Ast und lässt sich sein. Morgen früh ist wieder einmal Anfang.

Fortsetzung folgt
 
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onivido

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Hallo John,
natuerlich bin ich wieder dabei, auch beim Noergeln. Also :
„Bestens, danke Señorara äh“….
da hast du ein "ra" zuviel und ja der Familienname " Alvarez" wird mit Akzent geschrieben, aber nicht auf dem "e" sondern heimtueckischer Weise auf dem "A".
Bin gespannt auf den ersten Wandertag.
Viele Gruesse///Onivido
 

John Wein

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2. Tag Der Camino Primitivo 2018, Tagebuch

25. Juni Oviedo-Grado 26km

Genug geträumt!

Hinter weißen Gardinen liegt ein grauer Morgen. Es ist Montag, das Thermometer zeigt 17 Grad, beste Voraussetzungen für die Premiere.

Ist es nicht eigenartig, da sehnt man sich lange danach die Welt zu erobern, doch steht die Welt dann vor der Tür, beginnt das große Zaudern und Zagen und schon schickt das Herz einen Schauder nach dem andern durch die Gefäße. Nur ruhig Blut, sagt Kopf, er rechnet, er rechnet nicht mit Gefühl, das Herz hat keinen Rechenschieber. Jedem Anfang, sagt das Gedicht, wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Ich trete durch diese Tür und geh die Stufen, und auf einmal ist alles so leicht so locker, so eigenartig auf Wolke Sieben.

Morgennebel lungert um die Häuser und durch die Straßen der Stadt. Eine eigenartige Stille liegt in der Luft. Die Menschen hocken noch über ihrem Morgenkaffee, in Spanien beginnt der Tag verspätet. Meine Tritte und Stöcke klappern im Takt auf das Pflaster, in den Schluchten der Vorstadt ermüdet ihr Echo im Grau. Aus der Panaderia an der Ecke strömt ein frisch vertrautes Aroma, der unverwechselbare Duft von Baguette und Co.

Die Häuserzeilen weichen, die Lücken nehmen zu und die Natur entfaltet sich dem Blick. Ein erster Sonnenstrahl dringt durch das Grau. Die Insel aus Licht erhellt auch mein Gemüt. Um die Flanken der Berge sind die Schleier schon weiß und die Kuppen leuchten in der Morgensonne. Langsam schmilzt der Nebel. Die Prognosen prophezeiten einen sonnigen, heißen Tag. Ich fühle mich gut. Mit dem Licht kehrt der Wind zurück und mit dem Wind die Töne und Gerüche. Hier vor den Toren Oviedos explodiert der nördliche Frühling, alles blüht und wächst und summt und tiriliert. Was für Voraussetzungen! Mir fehlt an nichts, es geht sich wie von selbst. Es ist wie in einem schönen Traum, nichts kann mich hindern die Stunden auf dem Weg zu kosten.

Gegen 11 und nach 11 km bin ich oben in Escamplero ungefähr auf der Hälfte meiner Tagesetappe. Die Sonne meint es gut. Ich lasse mich im Schatten auf der Terrasse des kleinen Restaurants in den Korbstuhl fallen und labe mich an Kaffee und dem Blick auf die beschauliche Landschaft unter mir. Aus dem Dunst mir gegenüber erhebt sich im Hintergrund die spektakuläre Kulisse einer grandiosen Bergewelt, man kann sich nicht sattsehen. Ich gönne mir die Zeit, die Sonne steht hoch und ich bin spät, gegen 18 Uhr, in Grado verabredet. Bis dorthin sind es noch kurze 13 km, was hindert mich zu verweilen!

Doch irgendwie treibt es mich weiter, ich bin auf Gehen gepolt, nicht auf Sitzen. Der Weg macht es mir leicht. Die Natur spendet Schatten, es ist licht und warm und kunterbunt und frohgelaunt. Die kleinen Orte reihen sich wie an einer melodischen Perlenkette, Valsera, Premõno, Paladin, Puerma, Larracha. Schläfrig dahintreibend hinter Eichen und Erlen träumt der Rio Nalon vom Meer.

Ernüchterung in Peñaflor: Desvío, pasaje prohibido!

Hier wo es durch Streuobstwiesen und Auen eigentlich munter weitergehen sollte, versperrt das Schild die Passage und setzt der guten Laune harsch die Grenze. Der Primitivo wird zum hässlichen Laufband und muss sich den Weg durch die Industriezone mit der Einfallsstraße teilen. Muss das Leben wieder wehtun!?

Es ist 15 Uhr, die Sonne sticht. Der Plaza General Ponte mitten in Grado ist leergefegt, Siesta! Hier habe ich um 18 Uhr ein Rendezvous. Leicht finde ich im Schatten der Sonnenschirme ein angenehmes es Plätzchen zum Bier. Ein Taxi, Pélerin meine französische Argentur hat alles vorbereitet, soll mich von hier 15 km zu meiner Pension fahren. Vor dem Restaurant flimmert die Fußballweltmeisterschaft, eine willkommene Abwechslung, Russland gegen Uruguay mit einem unrühmlichen 0:3 gegen die Gastgeber. Das Endresultat und längeres Warten bleiben mir erspart.

„Son maestros Wein?“

Mit geübtem Auge hat der Taxifahrer seinen pilgernden Gast erkannt und bringt ihn km nach Sama einem ländlichen Weiler in einen von Bergen umrahmten lieblichen Talschluss, ein grünes Paradies aus Samt und Seide. Das Landhaus „Casa de la Veiga“, hier habe ich vor 2 Jahren schon einmal übernachtet, ein Refugium, ein Sehnsuchtsort, ja es ist sogar das gleiche Zimmer im 2. Obergeschoss. In allem liegen ein Gehen und ein Kommen, hier möchten die Sinne ausruhen.

Von aller Schwere entbunden mündet der Tag unter einem knorrigen Apfelbaum mit dem Tagebuch im schwebenden Licht zwischen Nachmittag und Abend. Hier im Garten fallen die Worte aus dem Himmel. Es sind so viele Empfindungen an diesem ersten Tag meiner Reise, ich fange sie nur auf und bringe sie zu Papier.

Weit Im Westen, hinter den Kammlinien im weichen Gegenlicht, verblasst das Blau hinter fasernden Kondensstreifen. Über mir, im Apfelbaum, hat eine Amsel Platz genommen und liest meine Geschichten.

Fortsetzung folgt
 

onivido

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Ich bin neidisch, nicht nur weil ich diese Wanderung nicht machen kann, sondern auch wegen der Art wie du deine Gefuehle ausdruecken kannst.
Que tengas una feliz tarde///Onivido
 

John Wein

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3. Tag Der Camino Primitivo 2018, Tagebuch

26. Juni Grado-Salas 25 km

Mein Zimmer liegt in einem Grau ohne Gewicht. Ich öffne die Fensterläden, draußen nebelt ein Morgen. Ich vermute, dieses Gebräu sollte die Sonne heute nicht mehr wegschaffen können. Doch ich weiß, irgendwo da oben, hinter all dem Verhangenen, wartet sie auf ihre Zeit.

Im Hof fülle ich die Flasche mit frischem Wasser aus der gefassten Quelle, schmeiße Rucksack und Stöcke in den Van und Eduardo, der Fahrer, chauffiert mich im Taxi zurück zum Rathausplatz nach Grado, gestern mein erstes Ziel.

Die Schritte stadtauswärts führen zunächst steil bergan, die erste Prüfung des neuen Tages bringt mich zum Schwitzen. Was soll ich jetzt sagen? Es geht sich so! Vielleicht 14 Grad ok …also nicht nur geht sich so, es geht sich gut, genau genommen ein bisschen weniger wie richtig gut. Okay, alles easy, alles roger!

Oben so hoch, so himmelblau und schön, wie aus „Mein schöner Garten“ ausgeschnitten, begrenzen Bauernhortensien meinen Weg, ein Himmelsblau wie sich nur ein früher Frühlingsmorgen präsentieren könnte. Unten im Tal, um die Flanken der Bergrücken, wabern Nebelbänke, so als ob es etwas zu verdecken, zu beschützen gäbe, etwas, das sich vor dem Licht der Sonne so lang wie möglich verbergen möchte. Dunst, in der Kälte der Nacht entwickelt, hat die kühle Luft mit Feuchtigkeit angefüllt. Nun verfängt es sich an den Gräsern, Bäumen und Büschen, wie es Dinge tun, die in ein Netz geraten. Die Netze selbst sind unsichtbar, nur die Tröpfchen, die wie glitzernde Perlen an filigranen Fäden hängen, offenbaren uns die Kunstwerke der Physik in der Natur. Im Wald stehen die Schwaden zwischen den Bäumen, lassen sie noch enger beieinanderstehen und das Gehölz noch dichter und dunkler erscheinen. Mir scheint, als flüsterten sie miteinander. Mit ihrem skurrilem Wurzelgeflecht in dem bemoost verschatteten Grün, sind sie Trolle, lustig finstere Gesellen in ihrem schattigen Blätterkleid.

Hin und wieder gibt der Nebel den Blick frei auf das Geschlängel der A 63 in der Tiefe. Mit weitgespannten Viadukten die Täler überwindend, verschluckt sie den Verkehr in Tunnelröhren und spuckt ihn wieder am Ende wieder aus. Dem Pilger bietet man diesen komfortablen Weg beim vorwärtskommen nicht. Zum Alto Cabruñana hinauf steige ich höher und höher, die erste Probe für das, was mich in einigen Tagen erwarten wird. Unten in den Tälern ersticken die Reifengeräusche nach und nach in den Schwaden. Die Lieblichkeit der Landschaft hier oben, die Stille untermalt vom Gebimmel auf den Kuhweiden und den Stimmen der Natur, erinnern mich an das Allgäu. Munter in das Geläut zankt und zetert in den Kronen der Esskastanien die Brut der Krähen.

Auf dem Pass und im Windschatten eines Friedhofsmäuerchens, entscheide ich mich für eine kurze Rast, immerhin habe ich jetzt 6 km, immer im Aufwärtsgang, in den Beinen. Hier oben kreuzt und quert ein garstiger und zausiger Wind über die Höhen. Ich ahne, wie es sich da anfühlt, dieses Krähesein, dieses mühelose Segeln getragen gegen den Luftstrom und ihre abrupt ändernden Flugmanöver, vergnügt nach Lust und Laune vollführt. Ich breite meine Arme aus, öffne den Mund, atme und lass die sauerstoffreiche Luft tief in meine Lungen strömen. Könnte doch auch ich so mühelos schweben, so unbeschwert auf dem Luftstrom in die Höhe schießen und bereit sein für den Flug über das weite Tal hinab, mühelos und flott über alles hinweg. Heißa und Juchhe!

Flügellahm stolpert der Pilger über Stock und Stein garstig bergab und weiter im Unterland vorbei an den Pferdeställen nach Cornellana. Schon von weither und über die Baumkronen hinweg grüßen die Kirchtürme des mittelalterlichen Gemäuers, Kloster vom Hl. Salvator von Cornellana. Die Portalfront und ein Flügel des Wohntraktes sind eingerüstet. Hier ist die Welt umkreist von Baumaschinen und Lastkraftwagen. Der Lärm, laut und aufdringlich, verwehrt die stille Einkehr und Rast. Nicht einmal der Stempel für den Credencial kann ich ergattern. Ich entfliehe, meiner Erwartungen enttäuscht, diesem ungastlichen Ort der Unrast.

Nach einem kurzen, aber knackigen Anstieg, verschluckt mich ein Wald in seinem Frieden mit kühlem Schatten. Aber ich muss auf die Beschaffenheit des Weges achten! Mit Hilfe der Teleskopstöcke stolpere und balanciere ich über Felsbrocken, stochere um lehmige Wasserlöcher herum und versinke knöcheltief im Morast. Kaum sichtbar, tief unten, im undurchdringlichen Gehölz, begleitet mich das Plätschern und Gurgeln des Rio Nonaya.

Eine Stunde ist gegangen, da öffnet sich der Wald und der Pfad wird zu einem hellen, freundlichen Band zwischen Wiesen, Äckern und Auen. Jeder Schritt wirbelt eine kleine Staubwolke auf und pudert meine Schuhe. Weiter vorn erkenne ich eine riesige Düne aus gelbem Sand, dazwischen Bagger, Baufahrzeuge und Transportbänder. Hinten sind in das Grün des Bergzuges gelbe und rote Wunden gefräst, da hat man einen halben Berg abgetragen. In den Steinbrüchen von Lamas und Villazón lagert Silicium, neues Gold der Gegenwart und profitables Kapital der Zukunft. Hier, in der lieblichen Landschaft, hinterlassen hässliche Wunden ihre Spuren.

Nun noch die Stelzen der A63 unterqueren und dann empfängt mich der Einfamilienhausrand von Salas, ein hübsches Städtchen mit mittelalterlicher Burg und wehrhaftem Bergfried. Der zentrale Rathausplatz ist eingefasst in einen Ring reizvollem Fachwerk, der Marienkirche, dem Rathaus und dem Kastell Valdéz.

Die Burg, deren adeliger und verwöhnter Geist noch immer in den Gängen des Gemäuers nachweht, ist mir zur Freude auch mein Quartier für die Nacht. Das Geviert des Innenhofes mit der hübschen Galerie im oberen Stockwerk, gibt ein Stück des wolkenverhangenen Himmels frei.

Oben, im umlaufenden Gang, beziehe ich ein Zimmer. Lavendel bohrt sich in die Nase und mischt sich in das Bukett von Kernseife und frischbezogener Matratze. Der Fensterladen gebärdet sich widerspenstig. Bei kräftigem Ruck und mit schleifendem Quietschen gibt er schließlich nach und frisch gemähte Blumenwiese strömt ein. Schuhe auf der Fensterbank, Socken und Hemd über die Flügel platziert und der Rest im Zimmer verstreut, jetzt wirkt und riecht alles ausgewogen.

Unten auf dem Platz verblassen im schattigen Spätnachmittagslicht alle Farben. Draußen ist es dunkel über dem Himmel heraufgezogen. Erste Brisen künden bereits vom nahenden Unwetter. Da hatte ich heute ein richtiges Pilgerglück! Auf dem Pflaster vor dem Café La Plaza tanzen kleine Staubteufelchen und wirbeln in ihrem Reigen die Servietten von den Tischen und mischen sie mit Staub und Unrat. Der aufkommende Sturm treibt verhuschte Wolken vor sich her und gegen die östlichen Bergflanken. Der Ober des Cafés schließt die Sonnenschirme und fixiert das leichte die Alugestühl. Ravels Bolero ist Ouvertüre was nun mit Blitz und Donner heranrollt. Dann beginnt der Tanz! Blitze, ein zuckendes Feuer elektrischer Entladungen und Donner, ein infernalisches Krachen, erfüllen die Luft. Die Dächer beziehen wütende Prügel und in den Gassen von Salas peitschen die Böen verwirbelnde Regenvorhänge über das Pflaster. Es ist als probte der Himmel den Weltuntergang. Alle Wassermassen strömen die Gassen hinab zum großen Platz, der sie kaum fassen kann. Ja, ich bin rechtzeitig angekommen, hatte großes Glück gehabt. Nun bin ich im sicheren Hafen.

Mit einem beruhigenden Gefühl schließe ich die Läden und Fenster. Draußen, hinter dicken Mauern paukt und trompetet die untergehende Welt. Ich wälze mich in den Schlaf einer unruhigen Nacht.

Fortsetzung folgt
 

John Wein

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4. Tag Der Camino Primitivo 2018, Tagebuch

27. Juni Salas -Tineo 20 km

Schwere Wolkenpakete hängen trotzig und schwanger über der Bergarena von Salas, skeptisch abschätzend blicke ich zum Himmel. Oben schwingt sich der Betonring der A 63 um den bewaldeten Gipfel, ein Heiligenschein in schwindelnder Höhe. Ich trete ein in einen dunklen, getränkten Urwald und steige die ersten 400 Höhenmeter des Tages hinauf. Noch hat der Regen Pause. In der vom gestrigen Unwetter getränkten grünen Welt rieselt und plätschert es unablässig und tief im engen Talschnitt gurgelt der Rio Noyana in die Syphonie aller Wässer. Moosig und vergänglich riecht der Wald doch frisch und bekömmlich. Hoch oben und dicht unter den Wolken von Bodenaya hat David eine kleine Herberge für die Jakobspilger eingerichtet Sie kommt mir für eine Pause gerade recht. Heute Morgen bin ich nicht der Erste, der hier für eine kleine Erholung nach dem Aufstieg rastet. David ist ein guter Geist mit einem großen Herzen für die Pilger. Jeder, der einmal auf dem Primitivo unterwegs war, wird sich an ihn und seine Gastfreundschaft gerne erinnern. Der Wohltäter nimmt kein Geld für seine Leistungen, ja nicht einmal für die Übernachtung in seiner Herberge verlangt er etwas: „Donation!“, sagt er auf Englisch. Er lebt von den Spenden der vorbeiziehenden Gäste. Gern nehme ich einen heißen Kaffee zum Aufwärmen meiner Eingeweide, ein letzter Glückskeks für heute.

Eigentlich könnte ich über den Rest des Tages ein Tuch des Schweigens breiten, er endete in Morast und Sturzbächen. Doch warum sollte man nicht auch ein paar Kalamitäten in die Chronik einflechten, zur ganzen Geschichte gehört nämlich auch das Wissen um die Dinge. Das Leben ist kein Ponyhof, und Weg zum Sternenfeld nicht allzeit ein erleuchteter.

Regen, Viehtrifte und Traktoren haben heute dem Primitivo ein hässliches Gesicht aufgesetzt. Ich frage mich immer wieder, wie man durch diesen Morast vorwärtskommen soll. Knöcheltief sind die Pfützen zahlreich und lang. Hier und da hat jemand einen Stein für einen unsauberen Tritt hingeworfen, da kann man nicht einfach vor sich hin latschen, sondern muss nachdenken, abwägen und schließlich wagen. Rechts und links liegen die Böschung in Wildwuchs mit Brombeeranken, Kletten und stechendem Weißdorn, dahinter Stacheldraht, Hecke und „Coto Privado!“. Es gibt kein Entrinnen ohne weiträumige Umwege im unbekannten Terrain. Jetzt erweisen sich meine Stöcke als gute Investition für das Unternehmen Jakobsweg. Zum Balancieren und Gründen sind sie unerlässlich. Ich springe, tapse, rutsche, taumele. Hier darf man nicht fallen. Die Lederschuhe eigentlich wasserfest, sind durchgeweicht, doch die steifen, griffigen Sohlen schaffen einen sicheren Tritt. Der Camino öffnet eine Tür zu sich selbst, hatte ich heute Morgen noch philosophiert, man muss nur hindurchschreiten, um sich zu gründen. Hier prüft mich ein Weg, hier schreite ich durch einen Pfuhl zur Erkenntnis, das Wissen darum macht Hoffnung.

Eigentlich ist die Gegend wunderschön, man hat reizvolle und weite Blicke auf den bäuerlichen Flickenteppich in der Ebene, die begrenzt wird von der Bergkette an der noch die Wolken des Morgens hängen. Die urwüchsigen Weiler durch die ich gehe, bodenständig in ihrem grauen Granit, atmen auf ländlicher Scholle Geborgenheit. Im Grauschleier, hinter Mauern und Hecken liegen die Gärten in üppigem Blumenschmuck, haben Hortensien, Rosen, Fingerhut und Rittersporn Hochsaison und an den Hauswänden setzt der Wein erste, kleine Perlen an. Es fehlt ein Sonnenstrahl, der alles verzaubern könnte.

“Viator horam aspice et abi viam tuam". Oberhalb Tineo grüßt Jakobus mit einer Inschrift den Pilger. Die blaue Blechfigur mit dem Degen ist ein Wahrzeichen des Primitivo. Aus Metallteilen zusammen geschweißt ähnelt es mehr einem Don Quixote als dem Heiligen. „Wanderer beachte die Zeit und setze deinen Weg fort“. Dem will ich Rechnung tragen.

Die Stadt klebt an einem steilen Hang, den ich über abschüssiges Pflaster und nasse Stufen hinab ins Ortszentrum folgend, steige. Ungemütliches Geniesel bei durchdringender Schafskälte verwehren mir eine Besichtigung. Da nehme ich jetzt lieber ein warmes Bad in der Pension. Die Badewanne ist winzig, aber was solls! Ich lasse die Beine über den Rand baumeln und hänge meine Seele an den Erinnerungen des Tages auf.

Fortsetzung folgt
 
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John Wein

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5. Tag Der Camino Primitivo 2018, Tagebuch

28. Juni Tineo - Pola de Allande, 28 km

In Tineo erwacht der Tag, eigentümlich diese Kontrastlosigkeit zwischen Himmel und Erde. Vom Rathaus gegenüber erstickt der Acht Uhr Glockenschlag im Gebräu des Nebels. Was tun? Ich sehne mich nach Sonne, doch ich muss hinaus in diese Welt der Unsichtbarkeit.

Draußen, vor der Tür, steht ein unbehaglicher Junimorgen trüb und kalt. Im gleichförmigen Licht geht der Weg hoch und tiefer hinein in die Wolkenschichten. Unter mir verliert sich eine Stadt, die ich nicht gesehen habe. Ein dunkler Hohlweg führt mich aufwärts und entlang eines mystisch entrückten Bestands uralter, flechtenbehangener Steineichen, die sich kraftvoll ins Erdreich krallen. Ich stolpere vorwärts über knorriges Wurzelgeflecht und schroffes Felsgestein. Kein Laut, nur das Knacken der dürren und bemoosten Zweige unter meinen Sohlen dringt durch die Stille, kein Gezwitscher und kein Gesumm gibt diesem magischen Ort irgendeine Lebendigkeit. Es ist eine Welt der Gnome und Elfen.

Die Wetterprognosen für den Tag versprechen keine durchgreifende Änderung, sie verheißen aber die Änderung meiner Pläne. Den direkten Weg nach Berducedo, über die baumlosen Höhen der Hospitalroute, benannt nach einem verfallenen Hospiz, verwehrt mir der Nebel. Ohne ausreichende Sicht wäre dieser Wegverlauf in 1000 bis 1500m Höhe bei diesen Bedingungen gefährlich. Die Ausweichstrecke über Pola de Allande beträgt über 40 km und bedeutet, ich muss für diese Etappe 2 Tage veranschlagen.

In tausend Meter Höhe verliert sich der das Band des Weges im Grau einer Weidelandschaft, in der alle Zeit stehengeblieben scheint. Da ist nichts definiert, kein Land, kein Horizont, kein Licht, nur Grau in Grau und ein bisschen ist dieses Grau auch in mir. Ich kann die Hand nicht vor Augen sehen, taste mich zwischen Stacheldraht und Fingerhut vorwärts und immer gegen diese graue Wand, die bei jedem Schritt ein bisschen zurückweicht, immerzu weiter ins Unsichtbare.

Von hinten höre ich Stimmen, bang schau ich mich um. „Buen Camino!“ Schemenhaft flattert ein Kerl vorbei. Er ist eingehüllt in ein hellblauweißes Fahnentuch, hinter ihm seine Gefährtin. „Buen Camino“, erschreckt und intuitiv erwidere ich ihren Pilgergruß und da sind sie auch schon vorbei und verschlungen vom Nebel.

Talwärts, es ist gegen 11 Uhr, lichten sich die Schwaden. Villaluz, ein paar Höfe nur, hat einen öffentlichen Waschplatz, in dem vor noch nicht allzu langer Zeit am fließenden Wasser die Wäsche gewaschen wurde. Heute dient eine Bank unter dem Dach dem Jakobspilger als Rast Ort. Der junge Mann in argentinischen Farben und seine Begleiterin, Sohn und Mutter, winken mich freundlich zu sich: „Ich bin Marijke“. Sie deutet im niederländischen Tonfall auf ihn: „Wessel, mijn zoon“. Die halbnackte „Turnhose“, im Fahnentuch gewickelt, nuckelt an der Trinkflasche. Mich fröstelt es: „Nach Santiago weiter nach Porto? Nach Portugal?“. Ich kann es kaum glauben, die beiden sind auf Rekordjagt. „Buen Camino!“

6 geschwungene, garstige Kilometer folgt der Weg dem verkehrsarmen Asphaltband. Der Nebel in der Höhe bildet jetzt graue Schichtwolken. In der Herberge von Borres wärme ich mir Hände und Eingeweide mit einen großen Pott Kaffee. Hier ist die letzte Übernachtungsmöglichkeit vor dem Einstieg in den Höhenweg. Die beiden Niederländer sind auch da. Sie übernachten hier und wollen morgen die 25 km Bergeinsamkeit der Hospital Route nach Berducedo wagen. Meine Route dagegen führt weiter nach Pola de Allande. Ich Plane am folgenden Tag den Aufstieg von hier über den Pass.

Eine Stunde dann bin ich in Porciles bei Manolo in seinem verrückten Kuriositäten Kabinett. Vom Reiseführer auf das Etablissement vorbereitet, überraschte mich doch die Glocke, die man beim Vorbeigehen auslöst. In diesem Krämerladen gibt es alles was man brauchen könnte und vieles was man nicht brauchen tut. Hier hat sich ein Kauz selbstverwirklicht. Manolo hockt verschämt in einer Ecke seines menschenleeren Geschäfts inmitten von Talmi und Plunder, Krimskrams mit Flaggen, Ketten, Lampen, CDs, Muscheln, Abzeichen, Bierflaschen, Girlanden, Wäscheklammern, Armbänder und mehr. Überall blinkt und leuchtet es bei dahinscherbelnden Melodien. Hier ist Kunst vermählt mit Krempel zu einem bunten, phantastischen Potpourri lustiger Sinnesfreuden. Staunend und überwältigt von dieser Orgie von Kitsch und Plunder weichen in mir Mühseligkeit und Missvergnügen des Tages und machen der Heiterkeit Platz.

Jetzt sind es noch 5 km bis Pola mit 2 Ab- und Aufstiegen auf garstigen Schotterwegen. nun, am späten Nachmittag, ziehen über den Himmel dunkle Wolkenpakete auf. Ich muss mich sputen. Vom Alto Labadoiro führen Serpentinen 300 Höhenmeter hinunter und durch hübsche Weiler Richtung Pola de Allande. Eine merkwürdige Ruhe liegt in der Luft, die Natur bereitet sich vor auf den Regen. Dann machen die Wolken ernst. Ich nehm’s gelassen, das Ziel liegt vor meinen Augen. Mitten im Ort liegt das Nueva Allendesa, mein Quartier. Schräg scheppert die Glocke beim Eintreten.

Bei Tisch empfiehlt der Camarero, schwarze Hose weißes Hemd, Fabada Asturiana, ein Eintopf mit dicken Bohnen, Bauchspeck, Blutwurst und Chorizo. ¡Buen provecho! Damit sollte ich morgen über den Pass fliegen.

-Fortsetzung folgt-
 
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onivido

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Hola,hola John, so gar nicht mein Klima, aber ich bin trotzdem dabei, auch wenn es mich froestelt.
Saludos
 

John Wein

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6. Tag, Der Camino Primitivo 2018, Tagebuch

29. Juni, Pola Allande - Berducedo 18 km

Ein unsicherer Himmel und die Tagesprognosen hatten mich gestern bewogen bis Pola zu gehen. Das hieß aber gleichzeitig die Hospital- oder Höhenroute zu streichen, deren Einstieg 12km zuvor in Borres lag. Ich mache deshalb heute den Aufstieg zum Puerto Palo Pass von Pola de Allande.

Die Sonne hat es am Morgen wieder mal geschafft, der Himmel sendet lauter Glückshormone. Es ist der Tag mit der Königsetappe, das Wetter ist passend und wie gemalt. Um halb Neun bin ich auf der Bahn, zunächst 1km auf dem ungeliebten Asphalt, doch dann tauche ich ein in die Gebirgslandschaft und werde eins mit ihr. Es ist still, nur das muntere Plätschern des Baches unter mir spielt eine leise Melodie. Es ist diese würdevolle Unaufgeregtheit des Camino Primitivo, die mich immer wieder gefangen nimmt. Da ist keine Ablenkung von Etwas, kein Zwang zur Hast, keine Extravaganzen, da ist nur einfach der Weg in seiner Unaufdringlichkeit und Schlichtheit. Er erzählt mir seine Geschichte, die er vieltausendmal schon so erzählt hat, geduldig und passiv, als ein liebenswürdiger Gastgeber. Man muss hinhören können, Schritt für Schritt im Einklang sein mit seiner Natur, dann erschließt sich dem Wanderer das Wunder. Mit schönen Gedanken fliegen Zeit und Anstrengung dahin.

Hinten im Talschluss wird es noch einmal steiler, ich überquere wieder und wieder die Schleifen der sich in Serpentinen hinaufwindende Verkehrsstraße. Schließlich, in einem letzten großen Bogen, entfernt sie sich von mir und kriecht, oben in der baumlosen Hochgebirgsregion gerade noch wahrnehmbar, über den Horizont. Das Atmen fällt jetzt schwer, ich steige keuchend im schattenlosen Licht hinauf. Schweiß rinnt in Strömen über Rücken und Brust. Hitze und Anstrengung knabbern hart an meiner Kondition und wäre das noch nicht genug, habe ich noch ein paar Rinder im Nacken, die zwischen Ginster und Heide auf steilem Pfad näherkommen und mich treiben. Ihre Tränke liegt auf der Alm unterhalb des Passes. Ich steige und stolpere die letzten hundert Meter über garstiges Geröll, dann bin ich endlich oben. Es ist erst einmal geschafft! Hier, in 1400m Höhe auf dem Puerto Palo, weht über die südlichen Hänge ein robuster und warmer Wind herauf. Mein Herz schlägt Purzelbaum, der Fernblick über die Kuppen und Täler ist atemberaubend und über all dem Erdengrün im Himmelsblau segeln ein paar weiße Schäfchen und geben dem Bild seinen würdigen Rahmen.

Der Abstieg verdient keinen Stern. Ich rutsche und stolpere auf dem steil abschüssigen Hang im Geröll nach unten. In Montefurado, dem ausgestorbenen Weiler auf der ersten Alm, mache ich die verdiente Pause. Ein Mastiff, groß wie ein Kalb, gesellt sich zu mir. „Es el guardián en contra les lobos“ hatte mir später der Wirt in Berducedo erklärt, er sei der Wächter des frei umherziehenden Viehs gegen die zahlreichen asturischen Wölfe. Mein Mistrauen ist unbegründet, der Hund mag meine Geschichten. Ein bisschen aber mag er auch meine leckere Chorizo.

Bis Berducedo sind es noch 7km bei 30 Grad im Schatten, aber den gibt es jetzt nicht. Hier treibt mich einmal nicht der Regen. Auf Flügeln aber trägt mich die Aussicht das frisch Gezapfte aus dem Hahn am Zielort. Saludos! Marijke und Wout, beide rötlich durchsonnt auf Wange und Wade, sind auch schon da und schwärmen von der Tour über die Höhenroute. Ich nehme es gleichmütig zu den Akten.

Saludos amigos! Die ersten 100km des Primitivo sind heute in meinen Notizen verbucht.

-Fortsetzung folgt-
 

John Wein

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7. Tag, Der Camino Primitivo 2018, Tagebuch

30. Juni Berducedo - Grandas de Salime, 28 km

Über die Berge hinweg müht sich regenschwanger ein Morgen. Das Wetter hat sich komplett gedreht. Schwer beladene und tiefhängende Wolkenschichten ziehen endlos ihre Regenschleppen über die Höhen der Asturischen Cordillera. Man könnte meinen, sie seien von der Reise denkbar müde, so, als würden sie sich hier oben über dem baumlosen Weideland endgültig zur Ruhe begeben. Ich bin fast sicher, sie wollen mich teilhaben lassen an ihrem triefenden Niedergang. Während ich noch wartend in der Tür stehe, setzt sich ein Rabe auf das Stoppschild gegenüber. Still beobachtet er mich, den Zauderer. „Komm, höre ich ihn krächzen, komm, wer wird denn wegen ein paar Regentropfen kneifen! Er hat gut krähen, wer würde jetzt seinen Hund vor die Tür schicken!? Ich nehme den Poncho aus dem Rucksack, zupple ihn mühsam über Kopf und Gepäck und werde eins mit meiner Regenburka.

Zäh führen die ersten 6 Kilometer auf der Landstraße nach Mesa und weiter darüber hinaus. Generell hasse ich das Gehen auf Teerstraßen, heute kommt es mir entgegen. Sturzbäche plätschern auf dem Asphalt ungebremst von der Höhe hinunter, spritzen über die Schuhe und tränken meine Wollsocken. Die ganze Welt um mich herum ist eingehüllt in diesen ungemütlichen Vorhang aus durchdringender Nässe und Kühle. Irgendwo hinter mir traben im gleichen Zwergenkostüm zwei Gestalten, die Niederländer! Es ist beruhigend zu wissen, dass man bei diesen Verhältnissen nicht allein unterwegs ist.

Ich bin immer noch gut tausend Meter über dem Meeresspiegel, da taucht vor mir die Einsiedelei bei Buspol aus den Nebeln auf. Das verwitterte Gemäuer der kleinen Kapelle steht wie der Wächter über einem 800m tiefen Abgrund, der den Stausee des Rio Navia aufnimmt. Unter den spiegelnd nassen Schieferplatten des Daches finde ich ein trockenes Plätzchen zum Rasten. Drüben, auf den entfernten Gegenhängen, erkenne ich zwischen den Wolkenlücken Grandas de Salime und registriere, dass dem Abstieg zum Stausee wieder der Aufstieg auf der gegenüberliegenden Seite folgen wird.

Der Regen hat eine kurze Pause eingelegt. Im Taleinschnitt hängen weiße Nebelfahnen, die über die Almen heraufzüngeln. Der Weg führt mich durch einen abgebrannten Kiefernwald auf garstigem Schotter in zahllosen Serpentinen hinab zur Staumauer. Weiße Schwaden wehen um die toten Stümpfe und die Felsenklüfte und dämpfen ein wenig das Schwarz dieser Mondlandschaft. Leichtes Grollen schleicht von Süden her über den See. Noch bin ich unbesorgt und säumig auf dem Abstieg zum Damm. Die letzten Windungen des Weges führen angenehm federnd unter dem grünen Blätterdach von Steineichen und Esskastanien dahin. Der Laubwald beschirmt mich vor den ersten Tropfen, doch unüberhörbar macht sich das heraufziehende Unwetter bemerkbar. Ich beschleunige! Tormenta, das hört sich auf Spanisch wesentlich bedrohlicher an als Gewitter. Hier zwischen den Felswänden über dem See knallt und kracht es in mehrfachem Echo, wie weiland in Wagners Fliegendem Holländer und in der Tat, meine beiden Freunde aus Holland fliegen förmlich an mir vorbei und hinab. Die ersten Kaskaden klatschen mir schon ins Gesicht, da rette ich mich in das überdachte Felsennest eines verlassenen militärischen Unterstands. Hier gegenüber der Staumauer hat sich bereits ein internationales Völkchen, Deutschland, Holland, Kanada, Spanien eingenistet. Man ist erst einmal in Sicherheit vor den Naturgewalten und scherzt und gibt und nimmt, hier ein Riegel, dort ein Stück Käse, ich teile meine Chorizo. Draußen sieht eine Welt krachend ihrem Ende entgegen. Jetzt wagt es keiner auch nur einen Schritt über die Staumauer zu tun. Man kauert auf dem Boden, es ist eng und das Aroma, ein Potpourri aus Schweröl, Pipi und Schweiß schweißt zusammen. Schweiß muss also nicht unbedingt trennen, und so wartet man, und wartet, und wartet noch mal zehn Minuten. Der Weg wird kein leichter sein, heißt es in dem Lied, nun gut, der Primitivo ist nun mal keine Schönwetterveranstaltung für leichte Mädchen.

Das Warten auf Godot hat schließlich sein Ende, la tormenta verkrümelt sich nach und nach zum Talausgang hin. Furchtlos trauen sich die ersten nach draußen und über den Damm. Der Wind fegt feine Wolkenfahnen über die Wasserfläche, verwirbelt sie über der Staumauer und treibt sie die Felswände hinauf. Auch der Weg treibt nach oben und mich nach einigen Metern in die Bar des Restaurants, ein Balkon über dem See. Ich geselle mich zu Rosalia und Cathrina, zwei Freundinnen aus Toledo, denen ich später noch mehrmals begegnen sollte. Sie reden beide wie eine cascada, ein Wasserfall. Mit meinem ungeschützten Spanisch komme ich kaum zu Wort und Englisch verstehen die beiden kaum. Doch erkenne ich immerhin leichtfüßig, dass Toledo die schönste Stadt Spaniens, wenn nicht gar der ganzen weiten Welt meiner Aufwartung wert wäre. Wie ich es liebe, dieser wundervollen, melodischen und klangreichen Sprache mit dem Bolero Stakkato zu lauschen. Ich verstehe überhaupt nichts, lausche nur, folge lächelnd der Gestik ihrer Hände und der Mimik ihrer Gesichter. Ich hänge an ihren Lippen, ach wäre ich doch einmal Torero in Toledo!

Vorerst muss ich jedoch noch einmal dem Nest Grandas de Salime meine Aufwartung machen, wenn auch nur für eine Nacht. Ach wie schön, das „La Barra“, ein Zweisternehaus, hat eine wundervolle Badewanne im Angebot. Hier bin ich Torero, mit Handtuch und Föhn statt Muleta und Degen. Das Blasinstrument erweist sich gar nützlich zum Trocknen meiner Schuhe. Draußen hat sich grenzenloses Himmelsblau über Berg und Tal gespannt. Ein gütiger Abend streckt mir die Zunge raus.

Was für ein Tag!

-Fortsetzung folgt-
 
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John Wein

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8. Tag, Der Camino Primitivo 2018, Tagebuch

1. Juli, Grandas de Salime - Fonsagrada 28 km

In der Nacht hatte sich im Gefolge der Niederschläge, wieder einmal Nebel über das Hochland gebreitet. Der Morgen ist noch unverdorben, die Temperaturen sind frisch und die Konturen verwischt. Müde Straßenlaternen malen ein verschlafenes, milchig gelbes Licht in die Gassen von Grandas. Nichts scheint real. Ich bin zuversichtlich, oben schimmert schon Blau, den Rest sollte die Sonne bis zum Mittag schaffen. Allerdings, auf dem Menu Plan der Wetterküche stehen für den Tag erneut schwere Gewitter am Horizont, ganz und gar nicht nach meinem Geschmack.

In der Nacht habe ich mich gut erholt, Schuhe und Wäsche sind getrocknet, das Desayuno war fabelhaft und meine ersten Schritte sind ein Leichtes. Weniger einfach sind in den Schwaden die gelben Pfeile zu entdecken, mal sind sie an die Bordsteinkante gemalt, mal an den Telegraphenmasten oder an einer verwitterten Mauer. Die Palisaden mit den Muschelsymbolen sind durchweg nur außerhalb der Ortschaften und Messingmuscheln auf dem Bürgersteig leisten sich nur die größeren Städte. In Galicien hat man die Symbole umgekehrt. Das Piktogramm der für Santiago zusammenlaufenden Strahlen symbolisiert jetzt die einladende Hand, die die Richtung weist, also entgegengesetzt; bitteschön, lieber Pilger, hier entlang!

Nach nur wenigen Kilometern treffe ich Marijke. Niedergeschlagen und ratlos zeigt sie auf den angeschwollenen Fuß. Er schmerzt, sie kann nicht mehr. Ihr Sohn ist bereits voraus geilt. Die Hospitalera in Castro bestellt ihr ein Taxi nach Fonsagrada. Der Weg ist nicht immer freundlich, manchmal, wenn man ihn zu sehr herausfordert, zeigt er uns seine Grenzen auf.

Schnell hat die Sonne die Nebel von den Bergflanken gewischt und aus den Tälern die restliche weiße Watte aufgesogen. Über mir streut der Himmel Azur über das Land und die Natur, mischt Buntes und Melodisches in das Potpourri. Hinauf zum Alto Acebo fliege ich, die Verhältnisse lassen einem das Herz aufgehen. Doch soll man den Tag nicht vor dem Abend loben! Hinter dem Pass, in 1100m Höhe, liegt bereits Galicien. Das wartet mit einem perfekten Lauf- bzw. Gehband auf, befestigt mit ockerfarbenem Sand und Kiesel, es warten aber auch im Südwesten bereits die ersten Wolkentürme. Ich komme gut voran, liege in der Zeit.

Noch sind die Kumulus Wolken schneeweiß, doch es gibt erste brodelnde Fingerzeige für die sich anbahnende Entwicklung. Ich beschleunige meine Schritte. Der Camino ist kein Wettbewerb für Rekorde, doch vor einem Gewitter in offener Landschaft habe ich großen Respekt. Es dauert auch nicht lange, da brausen erste Vorboten mit Böen heran, dazu noch müdes Gedröppel, das ist Rheinisch Mundart. Ich gebe Fersengeld, am Himmel nimmt derweil ein Chaos seinen Lauf. Ein gewaltiges Tosen bricht los und der Weltuntergang erscheint persönlich in pechschwarzer Robe. Ich wusste bis jetzt nicht, dass man in
Wanderstiefeln so flink zuwege sein kann und renne los. In der Mitte von Nowhere liegt das Meson Quatro Vientos, ein Fernfahrer-Restaurant an der Einfallsstraße. Mit letzter Kraft und gegen den Sturm reiße ich die Eingangstür auf. Das „Vierwinde“ ist an diesem Sonntagmittag proppenvoll. Auch in Spanien bleibt bei Mutti gerne einmal die Küche kalt. Die Luft dunstet in Frittenfett und Bier. Über dem Tresen brüllt es vom Riesenschirm „Bailando, Bailando“ während draußen die Trompeten von Jericho vom Weltuntergang künden. Gerettet, ich finde gerade noch einen Stehplatz zum Abwettern.

Mit Grollen verabschieden sich die aufgeladene Natur in Galicien und ich aus dem Quatro Ventos. Vorsichtshalber habe ich die Gummistopfen auf die Stockspitzen gesteckt, ein bisschen Vorsicht muss sein in dieser elektrisch aufgeladenen Natur.

Gegen 17 Uhr trudele ich in Fonsagrada ein. Der letzte Kilometer hinauf in die Stadt ist in seiner Steilheit eine Kriegserklärung und während ich das alles rekapituliere, pladdert es, das ist Norddeutsch, unten auf das Pflaster der Herberge.

Das Abendmenu, Pulpo a la Gallega, ist für mich eine Provokation. Aber, da muss ich durch! Es gibt nichts anderes in der Pulperia Caldera in Fonsagrada und die genießt in Galicien 5 Pulpos im Geschmacksmesser der heimischen Küche. Ich habe mordsmäßigen Hunger. Auf dem Teller liegt gekochter Krake in Scheibchen an Olivenöl, grobem Salz mit Paprika, dazu Kartoffeln und Pimentos de Padron. Der echte Caballero schwört auf diese Leckerei. Ohne Blickkontakt und ohne längeres Verkosten, bei kurzer Verweildauer im Schlund, wird der Kopffüßler mit einem roten Tropfen runtergespült. Geschafft! Das Fleisch, wenn ich es denn so bezeichnen kann, ist fest und mit der Würzung durchaus bekömmlich, die Impressionen zwischen Zunge und Gaumen jedoch, nein dieses Saugnapfgefühl, bei aller Liebe zum Land, es hat nie und nimmer für mich das Zeug einer Leibspeise.

Die schweren Gewitter ziehen ostwärts ab, Fonsagrada liegt im Abendfrieden. Die letzten Schritte in der Herberge sind verhallt. Es ist 22:00 Uhr. Jeder Schlag der Kirchturmuhr zieht ein langes und tiefes Oommm hinter sich her, und während noch der Mond über den nassglänzenden Dächern aufzieht und das Städtchen traulich bescheint, bauen hier in der Kammer die Träume ihre Kulissen auf.

-Fortsetzung folgt-
 
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John Wein

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10. Tag, Der Camino Primitivo 2018, Tagebuch

3. Juli Cadavo Baleira - Lugo 33 km

Muss das Leben schon wieder wehtun! Um 8 Uhr ist die leere Gaststube mein Gefängnis. Der Ausgang mit einem Gitter verschlossenen und meine Wanderschuhe sind noch auf dem Trockner im Anbau nebenan, keine Menschenseele rührt sich. Dabei hatte ich der Señora, „ocho horas“, meine Wunschfrühstückszeit doch korrekt artikuliert und dabei auch die Finger benutzt. In Spanien ist mañana eben mañana! Verschlafen? Himmela….und Zwirn! Heute habe ich die längste Etappe vor der Brust, habe dafür mindestens 8 Stunden veranschlagt und jetzt das! Nach 15 Minuten tut sich was.

„¡Buenos días Señor! ¿Ha dormido bien?“ zwitschert sie in ihrem verstrubbelten Schlafdekor, „haben sie gut geschlafen?“ Als normaltickender Mitteleuropäer hätte ich jetzt eine Entschuldigung erwartet, aber sie erkundigt sich nur beiläufig: „¿Quiere café y tostado?“

Nein, ich mag sie nicht, diese aufgeschnittenen, gerösteten Baguettebrote. Was soll ich machen, es gibt nichts anderes als diese trockenen Dinger, dazu zwei Töpfchen eingeschweißte Butter und portionierte mermelada, melocotón und fresa, für spanische Verhältnisse üppig. Ich schmiere alles in die Brotlöcher und spüle mit Milchkaffee nach. You made my day! Damit schaffe ich keine Langstrecke, hoffe auf die nächste Bar.

Draußen ist wieder dieses grauenvolle Hochgebirgsgeniesel. Regen, Regen, Regen! Die ganze Welt trieft und unter den Sohlen spritzt es. Im Nu hat das Gras die kaum getrockneten Wanderstiefel wieder durchnässt. Unten am Dorfende hat gerade ein Bus angehalten, oh mein Gott, und entlässt ungefähr 60 oder 70 mehr oder weniger gerüstete Wanderpilger in die ungeschützte Natur, alle mit Jakobsmuschel am Rucksack. Nein, das Leben meint es heute nicht gut mit mir, hier jagt eine Herausforderung die nächste! Bergauf versuche ich den Truppen zu entkommen, keuchend passiere ich die schnatternden Grüppchen eins nach dem andern, und immer wieder: „¡Hola, Buen Camino!“ Es tut weh!

Immerhin hat es aufgehört zu regnen. Den gefiederten Meistersängern scheinen die Bedingungen höchst willkommen. Vielleicht sind ihre meteorologischen Gefühle präziser als mein Allgemeinwissen über das Wetter. Ich lausche ihrem Gesang: „Morning has broken, like the first morning“, Cat Stevens, „Blackbird has spoken, like the first bird.“ Die galicische Wetterfee zaubert sogar Blau mit ein paar Schäfchen verziert in den späten Morgenhimmel. Geht da dem fröstelnden Jakobspilger nicht ein Herz auf? Mit dem Grashalm zwischen den Zähnen und federnden Schrittes setze ich meinen „Spaziergang“ nach Lugo fort. Na, wer sagt’s denn!? Vor meiner ungarischen Freundin Ilona allerdings kann ich jetzt nicht mehr glänzen. Die olympiaverdächtige Gazelle ist gewiss schon weit hinter Lugo, vollfedernd, versteht sich!

In der Bar O CAMIÑO in Castroverde bestelle ich mir ein gehaltvolles zweites Frühstück, Spiegeleier mit Serrano, fantástico, bombástico, 5 Sterne! Damit sollte ich bis Lugo durchhalten.

Gegen Mittag bricht mehr und mehr die Sonne durch und das Land ebnet sich. Ich lasse die Berge hinter mir, das Auf und Ab hat ein Ende. Jetzt wird die Etappe wirklich ein Spaziergang, allerdings ein ausgedehnter. Der Weg führt in einen wuchernden Urwald mit uralten Esskastanien. In ihrer verwunschenen Urwüchsigkeit erscheinen die knorrigen Riesen als eine Ansammlung stummer, erdverwurzelter Geister.

Die letzten Kilometer nach Lugo führen auf dem Seitenstreifen der Nationalstraße. Was für ein Bruch nach der unberührten Lieblichkeit der Waldnatur. Der Stein mit der Muschel ist eigentlich stumm, aber mir erzählt er eine Geschichte: 120 Santiago steht da und will heißen, ich bin jetzt 200 km unterwegs. Da fliegt es sich auch über den Asphalt wie von selbst. Noch ein paar Flügelschläge und ich staune über die Silhouette des Stadtgebirges mit seinen Türmen und den hohen Bögen der Eisenbahnbrücke über dem Tal davor.

Ich bin jetzt im 2000-jährigen Lugo, der Stadt mit den wuchtigen, römischen Mauern. Durch Puerta San Pedro erobere ich den historischen Stadtkern. Die Kathedrale liegt wie überall direkt am Camino gleich hinter dem Praza Mayor. Schnell noch den Stempel ins „Logbuch“ und dann marschiere ich die letzten Schaufenstermeilen auf dem belebten Trottoir zum Hostal.

Den Rucksack und die Stöcke fliegen in die Ecke, ich streife die Klepper ab und sinke, oh wie schön, auf das jungfräuliche Bett. Mit ausgestreckten Beinen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, schaue ich an die Decke. Der Tag zieht wie ein Schwarm Vögel an mir vorüber, Seligkeit und Wonne durchströmen mich. Oben geht eine Spinne spazieren, ganz entspannt. Ich bin nicht allein heute Nacht.

-Fortsetzung folgt-
 
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John Wein

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11. Tag, Der Camino Primitivo 2018, Tagebuch

Lugo, 4. Juli

Auf der gegenüberliegenden Seite meiner Traumwelt sitzt eine Spinne in der Mitte ihres Geflechts und spinnt mit ihrem Faden eine Fliege ein. Zäh spinnt sie an dem Grab, bis nichts mehr zu sehen ist von dem Opfer. Was bleibt ist ein Netz und ein versponnenes Knäuel darin.

Eigentlich wollte ich ja einmal richtig ausschlafen, doch ich habe nicht mit der Präzision meines inneren Weckers gerechnet. Lautlos aber nachdrücklich meldet er sich bereits um 7 Uhr in Gestalt meiner Blase. Traumverkatert schäle ich mich aus den kuscheligen Laken.

Heute überlasse ich das Kilometer abspulen anderen, heute bin ich Tourist, fast ist es mir ein bisschen peinlich. Die Wanderschuhe habe ich an den Nagel gehängt und schlüpfe stattdessen in bequeme Straßenschuhe. Ich habe mir vorgenommen, mich als Flaneur zwischen den Einheimischen zu bewegen, den Lugoern oder heißt es Luganen, Lugoranern, Lugonesen? Egal, ich lasse mich treiben, lasse mich mit dem Kompass meiner Augen und meiner Neugier führen. In serotoningesättigter Stimmung starte ich in diesen Tag.

Lugo ist nicht Venedig oder Barcelona. Hier legen keine Kreuzer an und auf den Piers der Stadt ankern keine Busflotten, es gibt keine Schlangen, keine Blitzlichtgewitter, kein Schieben und kein Rempeln. Doch innerhalb der Mauern gibt es viel zu sehen und zu entdecken. Die Welt ist ein wenig kleinteiliger, verspielter, historischer, gemütlicher und weniger aufgesetzt, protzig gespreizt oder schreiend. Cafés, Bars und Restaurants auf den Plätzen und in den Gassen sind nicht überlaufen, man bekommt immer ein Plätzchen, man kann schauen, verweilen und genießen.

Draußen vor der Tür macht der Morgen zum wiederholten Mal seine graue Aufwartung, wenigsten ist es trocken. Ich habe mir einen Stadtrundgang auf der römischen Wehrmauer ausgedacht, von dort oben hat man einen exzellenten Überblick über die kompakte Altstadt mit ihren Gassen und Plätzen. Lugo ist eine römische Stadtgründung und mit über 2000 Jahren ist es die älteste Stadt Galiciens mit ungefähr hunderttausend Einwohnern. Der Stadtkern ist eingefasst von einem vollkommen intakten bis 12m hohen Mauerring, auf dem ein breiter Weg auf 2 km zur Besichtigung einlädt. Hier oben eröffnen sich ungewöhnliche und beeindruckende Perspektiven auf die Struktur und den Organismus der Stadt.

Natürlich ist auch die Kathedrale in Lugo ein „Hotspot“ mit Staun Faktor. Das alle Dächer überragende Gotteshaus zeugt von der Baukunst früherer Generationen und dem unermesslichen Reichtum des römischen Klerus im Gefolge und im Verein mit dem kolonialen Goldrausch in Spanien. Irdische Schönheit für Himmelslohn errichtet mit Schweiß, Tränen und Hunger, für ein Leben, eins nach dem Tod. Mit der Gottesfurcht der Menschen wurden Schätze geschaffen, Menschen die heute keiner mehr kennt, man kennt nur die Herrscher und ihre Baumeister. Der Glaube wurde aus der Welt der Natur in die Tempel verbannt und der liebe Gott zum Kirchenasyl verdonnert.

Auf der Praza de Santo Domingo spricht sie mich ganz unvermittelt an, meine Freundin Marijke aus Nimwegen. Es ist ein herzliches Umarmen, aber eine traurige Begegnung. Lächelnd verbirgt sie resignierende Gefühle und berichtet mir vom Ende ihres Pilgerwegs. Die Füße geben es nicht mehr her, die Niederländerin hatte sich schon in den letzten Tagen über Berg und Tal gequält, hatte sich gar mit dem Taxi abholen lassen. Ihr Sohn ist nun allein unterwegs Richtung Santiago. Sie, ein Häufchen Elend mit einem viel zu großen, viel zu schweren Rucksack, wartet hier auf einer Bank auf den 18 Uhr Bus nach Oviedo und die Heimreise. Ich nehme sie noch einmal in den Arm: „Goede reis Marijke!“ Wir waren Freunde für ein paar Tage, Bruder und Schwester im Geist des Camino. Ein paar Tränen: „tot de volgende keer, Marijke!“. Mit Tränen in den Augen sitzt sie da und blickt in eine unbegrenzte Weite. In ihrer Heimat, hinter dem fernen Horizont, wachsen jetzt bunte Tulpen. Dort laufe ich gedankenverloren über die Deiche und träume mir ein weites Meer dazu.

Mein Weg wird morgen die Fortsetzung finden, es ist mir, als hätte ich schon heute etwas vermisst. Es sind die täglichen Veränderungen, die Herausforderungen, das kleine Glück der Begegnungen, die Weite des Horizonts, das Unwegsame der Natur, die Unbill des Wetters, die Stille der Schöpfung und die Ruhe in mir, die mich zum Pilger werden ließen. Morgen werde ich mich wieder des Tages Sichseins unterwerfen, mit meinen Stimmungen, Gefühlen und Schmerzen. Es ist die wohltuende Befindlichkeit innerer Ausgeglichenheit, das Leben zu spüren und den Geist, der ihm innewohnt.

Oben, über dem Bett, da wo die Putzfrau mit ihrem Besen nicht hinreicht, krabbelt sie an der Decke und spinnt ohne Argwohn an ihrem Netz, einen Faden um den anderen. Sie tut mir nichts und ich ihr auch nicht.

- Fortsetzung folgt -
 
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John Wein

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12. Tag, Der Camino Primitivo 2018, Tagebuch

Juli 2018 Lugo - Ponte Ferreira 27 km

Der Erholungstag in Lugo hat mir gutgetan, insbesondere meinen Füßen. Die Wehwehchen sind gesalbt und alle Druckstellen entlastet, es gibt kein Grund zur Klage. Auf der Walz schicke ich ohnehin die Gedanken nicht in meine Füße, damit komme ich gut zurecht.

Durch die Puerta Santiago verlasse ich die Stadt und überquere unten im Tal die lange Brücke über den Rio Miño. Der junge Fluss zwischen Portugal und Spanien, mündet im Atlantik. Der Meteo-Dienst hatte für heute eine Regenpause vorhergesagt, doch jetzt ziert graues Gewölk den Himmel. Vielleicht noch ein Schmetterlings-Flügelschlag in Indien und es könnte ein Sonnentag werden mit aller Drum und Dran. Es gibt also Hoffnung!

Der Weg ist heute schlecht gelaunt, er hat wieder einmal einen Asphalt Belag für die Füße dabei. Natürlich mögen das die Mimosen da unten überhaupt nicht, aber was will man machen!? Ich weiß, nach 5 oder 6 Kilometern werden sie wieder Protest einlegen: „uns ist‘s so heiß!“ Wie gesagt, ich denke mich einfach nicht in ihr Gefühl, dann ist’s gut!

Eine Stunde nachdem der Fluss passiert ist, streune ich durch eine hügelige, bäuerlich geprägte Landschaft ohne aufgeregtes Zubehör, doch mit viel unberührte Natur. Es gibt keine größeren Orte, nur ein paar Streusiedlungen, die sich an der Straße reihen und hier und da duckt sich eine kleine Hofstatt unter ein kräftiges Grün.

Der Himmel ist mittlerweile mit Schichtbewölkung behangen. Die Farben sind gedämpft, sie leuchten nicht und die Kontraste verwischen. Es dominiert sattes Grün. Ein grünes Galicien hat den Atlantik mit seinen Niederschlägen im Rücken, alles treibt, alles wächst, alles wuchert, und während noch die Mauern überwuchern und verfallen, treibt es die Menschen in die Städte.

Ich erinnere mich an ein kleines Gasthaus dort hinten in der Abgeschiedenheit, Meson Crecente gleich hinter Bacurin, abseits des Wegs. Es ist heute eine der wenigen Einkehr Möglichkeiten; eigentlich die einzige. In 2015 hatte ich es entdeckt und erinnere mich an den sympathischen und einfachen Charakter des Gasthauses, alles scheint ein bisschen aus der Zeit gefallen. Jetzt hoffe ich, dass es geöffnet ist und freue mich auf ein Wiedersehen.

Es gibt nur ein Menu auf er Tafel und zwar das, das die Köchin für den Tag vorgesehen hat. Es ist in der Regel ein typisch galicischer Eintopf deftig und kräftig bereitet mit Kohl, Kartoffeln, Bein- und Knochenfleisch. Auf der Herdplatte schmort’s, brutzelt’s und köchelt‘s in Töpfen und Pfannen und ködert mit seinem deftigen Aroma die hungrigen Gäste. Gekocht und gegessen wird direkt an dem großen, altertümlichen Herd, der auch gleichzeitig Tisch und Anrichte ist. Familie und Gäste schauen beim Bereiten und Servieren zu, sitzen auf den Bänken um das Mehrfachmöbel herum und palavern jeder mit jedem über alles und nichts. Wo in der Welt gibt es das nochmal!?

Gegen 2 Uhr mittags bin ich zurück auf dem Weg und dem endlosen Band der Landstraße mit ihrem grässlichen Asphalt. Hospital, San Pedro de Baixo, Taboeiro, San Róman, Burgo de Negral heißen die Dörfer, die eigentlich keine mehr sind, meistens nur noch Schlaforte für die Menschen, die tagsüber ihrer Beschäftigung in der Stadt nachgehen. Am Hundegebell erkennt man, dass niemand außer den Wächtern daheim ist. Viele Häuser, die sich unter den schwerem Granitplatten ihrer Dächer ducken, sind dem Verfall preisgegeben.

Der Tag kriecht dahin und ich mit ihm. Doch Wanderer zwischen den Welten warum so eilig? Warum nicht erst einmal ankommen in sich selbst mit offenen Sinnen und offenem Herzen. Die Eindrücke auf dem Weg, auch wenn sie unscheinbar und unspektakulär sein mögen, bewusst erleben, das erst gibt dem Ganzen einen Sinn. Dann wachsen Flügel mit denen wir ohne nach dem Warum zu fragen weiter fliegen an Orte, die tief in uns verwurzelt Heimat sind.

Mein Ziel und heutiger Sehnsuchtsort in ländlicher Abgeschiedenheit, das Landhaus Casa da Ponte, ist ein verstecktes, kleines Paradies hinter einem großen schmiedeeisernen Tor. Es ist ein geschichtsträchtiger Ort. Unten über das Flüsschen Ferreira führt die kleine römische Brücke, seinerzeit die Verbindung von Lugo nach Iria Flavia, dem heutigen Padrón, im Westen.

Ich bin nicht der erste Gast an diesem späten Nachmittag. Bernard und Mathilde aus Puerto Rico kühlen ihre Füße hinten im Gewässer und die beiden Wiener, Wolfgang und Barbara, beziehen ihre Kammer.

Der Österreicher setzt sich zu mir. Wir unterhalten uns über Literatur. Wolfgang sagt, dass er in den hiesigen Ortsnamen Poesie fände und natürlich auch in den Gesichtern der Menschen hier. Zu mir gewandt, meinte er: „du bist ein typisch dreinblickender Frühlingsmensch!“ und fragt mich doch tatsächlich, ob ich auf Dope wäre. Nein, entgegne ich, es sei nur das kühle Bier, das mich so strahlen lässt.

Mit dem Glas in der Hand setze ich mich erst einmal hinten in den Garten auf eine Bank. Im Schatten der Reben blättere ich in der prächtig bebilderten Biographie von Rosalia de Castro, der großen Poetin Galiciens. Die Frau hat vor über hundert Jahren mit ihren Gedichten dem Gallego zu literarischer Blüte verholfen. Es ist ein Idiom, dem Portugiesischen ähnlich und in der Tat, Portugal liegt kaum um die Ecke. Die Sprache erlebt heute gerade bei jungen Leuten ihre Renaissance. In all den Jahren war mir dieses Idiom eigentlich nie aufgefallen, in den Städten spricht man überwiegend das kastilische Spanisch.

Nach dem gemeinsamen Abendessen, ist im Haus an der Brücke die Stille der Nacht mit den Händen zu greifen. Sie wird nur unterbrochen, wenn der Hund von einem streichenden Nachtjäger geweckt wird. Es ist noch immer sehr warm, weit sind die Fenster meiner Kammer geöffnet. Der Mond, himmlischer Nachtwandler auf seiner Runde über die Baumwipfel, schaut neugierig herein. Seinen Strahlen spielen Harfe mit den Gardienen, die sich sacht im Luftzug wiegen. Geruhsam wandert er an der Wand entlang, über den Van Gogh hinweg und hin zur Tür: Ich erinnere mich nach Jahren weit zurück. „Leuchte guter Mond leuchte!“ Der Kleine Häwelmann war unsere Bettgeschichte und die Kleinen antworteten in Chor: „leuchte guter Mond leuchte!“

Prados, ríos, arboredas, pinares que move o vento, paxariños piadores, casiña d’o meu contento.

Wiesen, Flüsse, Baumalleen, Kiefern so sanft wiegend im Wind, all ihr Vöglein im Gezwitscher, hier ist mein Heim, mein Glück‘.

Rosalia de Castro

- Fortsetzung folgt -
 



 
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