Candy Dandy

Dimpfelmoser

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Candy Dandy

Nachdem er das kleine Waldstück durchquert hatte, stoppte er seinen SUV an einer schmalen Haltebucht. Vor ihm lag ein weites Rapsfeld, und er blickte auf die prächtige gelbe Weite, die unter dem abenddämmernden Himmel allmählich blasser wurde. Weit und breit war kein Haus oder irgendein anderes Zeichen menschlicher Existenz zu sehen. So sieht sie wohl aus, die Einsamkeit. Was mag das für ein Leben sein, so abseits jeglicher Zivilisation, dachte er. Seine Augen fanden den Rückspiegel und stellten stumm die Frage, welcher Typ Mensch es hier in dieser schon irgendwie schönen und dennoch gottverlassenen Gegend auf Dauer aushalten könne. Ob das etwas für mich wäre? Die einzige Antwort jedoch kam in Form eines erstickten Glucksens vom Motor, und ein Blick auf die gnadenlose Tankanzeige, die sich tief im roten Bereich befand, ließ ihn das Fahrzeug ausschalten. Dem kurzen Surren der Feststellbremse folgte eine Stille, die ihn an den Moment erinnerte, den es nach dem Ende eines großartigen Konzerts vor dem aufbrausenden, nicht endend wollenden Applaus des Publikums gab. Nur dass es für ihn, den Solisten in einer Symphonie, die nun wohl ihren Abschluss gefunden hatte, keinen Applaus geben würde, ganz im Gegenteil. Er sank etwas tiefer in den Sitz, und wurde sich des Geruchs gewahr, welcher von den teuren Polstern ausging. Nein, den er selber in diesen Sitz hineingearbeitet hatte. Das ist mein Duft, dachte er. Tja, das junge, ölige Aroma der Freiheit ist vergänglich. Alles was bleibt, ist der Gestank meiner Sünden. So sieht’s aus, Süße. So sieht’s aus. Um die aufdringlichen Kopfnoten aus altem Rauch und frischem Schweiß zu verdrängen, öffnete er die Fahrertür und ließ die kalte Landluft in den Innenraum strömen. Seine Hand fand die Wodkaflasche auf dem Sitz neben ihm. Verdammt, läuft auch schon auf Reserve. Scheiß drauf. Er kippte den Rest der klaren Flüssigkeit in einem Zug hinunter. Dann soll es halt so sein, seufzte er, ließ sich in den Sitz zurückfallen, schloss seine Augen und wartete, bereit, sich seinem Schicksal zu ergeben, wie auch immer dies aussehen mochte.

Den Fusel hatte er sich an einer Tanke besorgt, einige Kilometer hinter dem Kaff, welches das ursprüngliche Ziel seiner Reise gewesen war. Er sollte ihm dabei helfen, die eine Frage zu beantworten, die ihn bis zum Zerbersten ausfüllte: Was, in aller Herrgottsnamen, mache ich jetzt bloß? Den fast leer gefahrenen Tank nahm er dabei genauso wenig wahr wie das permanente Tröten seines Smartphones. Im Sekundentakt meldete sich das Gerät mit neu eintreffenden Nachrichten auf seinen Social Media-Kanälen. Doch seine intellektuellen Kapazitäten ließen gerade ausschließlich den Gedanken an Alkohol zu. Er musste seinen Kopf gründlich ausspülen, sein Innerstes irgendwie desinfizieren und von all seinen Amok laufenden Empfindungen befreien, um dann ganz sicher, na ja, vielleicht, verdammt, hoffentlich wieder genau zu wissen, was nun zu tun sei. Er musste irgendwie zurück finden in den Modus des selbstsicheren, welterfahrenen Geschäftsreisenden, denn dann käme die Lösung doch sicher von alleine. Mit der Flasche in der Hand verließ er den kleinen Verkaufsraum und stand einen Moment unschlüssig vor dem Wagen, überlegte, ob er sich direkt hier ein paar erlösende Schlucke genehmigen sollte. Nach einem Blick auf den Rücksitz stieg er dann doch ein, fuhr mit quietschenden Reifen los und begann, das Fahrzeug eher zufällig auf der Straße haltend, mit tiefen Schlucken seine hochprozentige Therapie.

Es war erst einen Tag her, dass er morgens, bei einer Tasse Kaffee, zum wiederholten Male über die letzte Nachricht der Landjungfer gegrübelt hatte. Den Namen fand er von Anfang an ziemlich geil, und nicht zuletzt deswegen tendierte er dazu, sein Bauchgefühl zu ignorieren und sich beizeiten auf den Weg nach Hamburg zu machen. Trotzdem, diese Rhythmusstörung im Kribbeln, welches ihn immer dann befiel, wenn er kurz vor einer Dienstreise mit Zuschlag stand, war schon seltsam. Auch wenn er glaubte, dass er sich einen solchen Zuschlag durchaus mal wieder genehmigen könnte. Er goss sich noch etwas Kaffee nach und betrachtete das Display seines Smartphones, welches nur vier schlichte Wörter zeigte: den Namen des Dorfes, sowie die Bezeichnung des Treffpunktes, „Zur alten Eberschänke“. Was für ein eigenartiger Name, könnte man ja glatt als Anspielung auf, tja, eine spezielle Performance vielleicht, verstehen. Überhaupt, warum hatte sie denn ausgerechnet einen so öffentlichen Ort ausgesucht? Und wo liegt der eigentlich? Landjungfers Freundin, diese Rothaarige, hmm, wie war gleich noch ihr richtiger Name, gespeichert hatte er sie ja nur als „Hamburg, Rothenbaum“, man weiß ja nie, wer so ein Adressbuch noch zu sehen bekommt. Überhaupt, die Chats sollte er auch endlich mal wieder leeren. Ach, egal, jedenfalls die aus Hamburg, die hatte ihn mit der Landjungfer digital verkoppelt. Er hatte, vielleicht ein Vierteljahr nach dem letzten Hamburg-Trip, ganz gegen seine Gewohnheit nochmals Kontakt mit dem kleinen Teufel gesucht. Verdammt, die war wirklich gut, das wollte er noch ein zweites Mal erleben. Als Antwort aber hatte er von diesem Feuerkopf einen Link zu einem dieser Portale bekommen, verbunden mit einer Wolke aus Herzsmileys, roten Küsschen, und der Frage, ob er nicht vielleicht mal eine gute Freundin von ihr kennenlernen wolle, denn sie selber würde demnächst ein wenig Urlaub machen. Wow, das war ja mal eine schöne Überraschung, und ein sehr angenehmer Service. Die wenigen Bilder, die er zu sehen bekam, reichten aus, ihm ordentlich Appetit zu machen auf den nächsten Trip in den Norden. Und auf ein kleines Tête-à-Tête mit ihr, der kleinen Landjungfer.

Ja, er freute sich auf diese Tour, auch wenn es nicht unbedingt üblich war, dass ein Kontakt den nächsten vermittelte. Aber gut, eigentlich sprach nichts dagegen. Ganz im Gegenteil, so war eben für ihn weniger zu organisieren. Ist ja vielleicht auch mal ganz nett. Und groß etwas zu erklären hatte er ohnehin niemandem. Er, der erfolgreiche Key Account Manager, war regelmäßig auf Achse, und von dem Resultat seiner Reisen konnte vor allem auch seine Frau sehr gut leben. Seine im Regelfall mehrtägigen Abwesenheiten waren für sie ein vollkommen akzeptabler Preis für ein Leben, das sie doch sehr zu genießen schien. Wohlwollend goutierte sie die gelegentlichen Aufmerksamkeiten, die er ihr gewährte, freute sich über das eine oder andere schicke Mitbringsel, das er von seinen Reisen mitbrachte. Und manchmal fand sie es dann angemessen, sich mit Gegenleistungen zu bedanken, die er selbstverständlich nicht ablehnte und bei denen sie ihn dann hin und wieder ihren Candy Dandy nannte. Der gemeinsame luxuriöse Jahresurlaub, den sie grundsätzlich im immer gleichen Ressort in Marbella verbrachten, und der eine oder andere Trip in die Metropolen dieser Welt, all dies finanzierte sich natürlich auch nicht von allein. Und er wusste, wenn er seinen Zuschlag genoss, lebte sie ihre sozialen Bedürfnisse gerne mit ihren Freundinnen im lokalen Sportverein aus. Oder sie spielte die große Organisatorin bei der lokalen Flüchtlingshilfe, brachte den jungen und manchmal nicht ganz so jungen Geflüchteten etwas von deutscher Sprache, deutscher Kultur, deutscher Gründlichkeit und Ordnung bei. Manchmal konnte er, wenn sie ihm davon erzählte, wie toll, wie sinnstiftend diese Tätigkeit sei, die zynischen Kommentare, die ihm auf der Zunge langen, nur schwer unterdrücken. Er stellte sich dann vor, wie sie in ihren edlen Klamotten, die sie von den gelegentlichen, von seiner Kreditkarte finanzierten Ausflügen auf Kö oder Zeil mitbrachte, und die sie ihm gerne im Rahmen einer privaten Modeschau präsentierte, vor irgendwelchen abgerissenen Gestalten vortanzte und dabei offenbar eine spezielle, ihm völlig fremde Erfüllung fand. Na, dachte er sich dann, wenn dich dies so befriedigt, dann spricht doch nichts dagegen, wenn auch ich mich mit eigenen, mich erfüllenden sozialen Aktivitäten beschäftige und dabei auch noch Gutes tue. Dies glaubte er tatsächlich, und hierfür kleine Gegenleistungen zu erhalten, war doch sicher mehr als angemessen.

Er starrte auf die digitale Karte, um sich zu vergewissern, dass es dieses Dorf und den Gasthof tatsächlich gab. Na klasse, irgendwo im Niemandsland von Meck-Pomm. Wenigstens eine Stunde Fahrt von der Alster. Verdammt, das hätte sie mir ja mal früher schreiben können. Seine Gemütslage war ein Potpourri zwischen Erregung, Unsicherheit und Ärger. Nein, so sollte es eigentlich nicht sein, denn seine kleinen Abenteuer fanden immer irgendwo in den dunklen Schatten der gesichtslosen Stein- und Betonsilos größerer Städte statt. In der Anonymität der Massen, die nicht hinschauten, sich nicht interessierten oder schlicht ignorierten, was um sie herum an Absonderlichem passierte. Nun aber diese Eberschänke, ein Gasthaus irgendwo im Nirgendwo. Er wechselte zu seiner Galerie und betrachtete erneut die dort gespeicherten Bilder der Landjungfer. Mensch, Alter, das kannst du dir nicht entgehen lassen. Und wenn dich tatsächlich jemand da sehen sollte, den du zufällig kennst, hast du halt schlicht einem anderen Geschäftskontakt in seiner Datscha besucht, an irgendeinem dieser Seen, die es da doch zuhauf gibt. Die Fahrt, na ja, eine Stunde, das geht schon noch klar, dann schmeckt die Belohnung um so besser. Und dir, Landjungfer, bringe ich natürlich auch ein kleines Geschenk und deinen Lohn mit, den du dir sicher verdienen wirst. So fuhr er schließlich los, und fühlte sich, als er über die Autobahn raste und an den anstehenden Ausflug in unbekannte Gefilde dachte, wie ein Abenteurer, der sich aufmachte zu einem wilden Volk, um es zu zivilisieren, um es zu unterwerfen.

Den Geschäftstermin brachte er kurz und schmerzlos über die Bühne, und nach einer einigermaßen ruhigen Nacht im Hotel an der Alster und der weniger entspannten Fahrt, die ihn in knapp zwei Stunden von seinem Hamburger Hotel zuerst durch den ätzenden Großstadtverkehr und anschließend durch die mecklenburgische Einsamkeit ans Ziel führte, stand er schließlich vor einer Treppe, über der von einem zerbeulten Blechschild ein finster dreinblickender Keiler auf ihn herabblickte. Sein Wagen hatte er neben dem Landgasthof abgestellt, auf dem Schotterplatz, der ebenso öde und leer war, wie es auch diese Lokalität zu sein schien. Das kleine Dorf lag ein paar Hundert Meter hinter ihm, und er fragte sich, welches Publikum die Eberschänke wohl angezogen hatte, als sie noch in Betrieb war. Denn der Laden war sehr offensichtlich schon seit geraumer Zeit geschlossen. Er öffnete den Chat mit Landjungfer und schrieb ihr, dass er nun vor der Schänke wartete. Die Antwort kam postwendend und versprach ihm, sie wäre in wenigen Minuten da. So viel zum vermeintlich öffentlichen Treffpunkt, dachte er. Sehr viel einsamer als hier kann man es ja kaum haben. Und ausgerechnet hier irgendwen zufällig zu treffen, der einen kannte, dürfte noch unwahrscheinlicher sein als die Fahrt über eine baustellenfreie A1, was er zu seinen Lebzeiten, dessen war er sich sicher, nicht mehr erleben würde. Trotzdem, allmählich könnte sie sich ja wirklich mal blicken lassen, die Süße. Wer weiß, vielleicht hat sie ja einen Geheimschlüssel zu dieser Ruine. Ein Liebesnest mit morbidem Ostcharme. Ja, das wäre tatsächlich wirklich mal etwas neues.

Damit bekam seine Lust auf die Landjungfer einen weiteren Schub, und um sich etwas abzulenken betrachtete er die alte, zerrissene Speisekarte, die in einem schlichten Blechkasten neben dem verrammelten Eingang zum Gasthof hing. Na schau mal an, hier durften die Schnitzel also noch so heißen wie es sich gehörte, wie es in der guten alten Zeit halt üblich war. Er musste an einen früheren Geschäftspartner denken, der sich bei einem tatsächlich ziemlich erfolgreichen Geschäftsessen ausführlich über die sprachliche Political Correctness unserer Zeit lustig machte, sich dann bei der offensichtlich aus dem östlichen Teil Europas stammenden Servicekraft aus schierer Lust an der Provokation ein Sinti-und-Roma-Schnitzel bestellte, und danach nicht aufhören konnte, die arme Frau anzubaggern. Nicht dass es ihn irgendwie peinlich berührt hätte, in gewisser Weise fand er es eher charmant und bewundernswert. Schließlich muss man es sich leisten können, sich bestimmte Sachen zu leisten. Er grinste und musste an diese seltsame Redewendung denken, nach der man sich wie ein Schnitzel auf etwas freuen könne. Und jetzt will ich endlich meines, forderte die Region unterhalb seines Magens. Ich muss jetzt etwas vernaschen. In diesem Moment hörte er schnelle Schritte auf dem Kies neben dem Haus. Na endlich, wurde auch Zeit. Vielleicht gibt es ja tatsächlich einen versteckten Eingang da hinten. Also, auf geht’s, kann dann ja gleich auch das Geschenk mitnehmen.

Er ging ein paar Schritte zurück in Richtung seines Wagens, um sein junges Frischfleisch in Empfang zu nehmen. Doch neben dem Fahrzeug stand nicht etwa die Landjungfer, sondern ein stämmiger Mittvierziger, breitbeinig und mit einem Blick, der ganz eindeutig nichts Gutes verhieß. Mit seiner Lederkluft und den militärisch kurz geschorenen Haaren erinnerte ihn der Kerl an einen eben aus der Haft entlassenen Rockerboss auf Suche nach Stress, nach richtig üblem Stress. Scheiße, nicht gut, gar nicht gut. Er stand konsterniert wenige Meter vor dem Rockertyp, blickte zwischen ihm und seinem Wagen hin und her, wollte irgendetwas sagen, aber war nicht imstande, auch nur einen Laut hervorzubringen. Klar war nur dies: Das hier lief hier gerade so richtig schief.

Damit hast du wohl nicht gerechnet, du Wichser. Na, willst Du mir keinen Begrüßungskuss geben? Oder vielleicht lieber der Kleinen hier?“ Der Kuttenträger ging einen Schritt zur Seite, und zum Vorschein kam nun doch eine junge Schönheit. Jedoch war dies nicht etwa die Landjungfer, sondern jene Rothaarige, mit der er sich das letzte mal in Hamburg vergnügt hatte. Die ihn hierhin, tja, verkuppelt hatte. „Pass auf, Arschloch. Ich hätte zwar große Lust, dich jetzt und hier gründlich in den Boden zu stampfen. Bekommt hier ja ohnehin keine Sau mit. Aber Melli hatte eine bessere Idee“. Oh verdammt, stimmt, Melli, Melanie, das war ihr Name. Aber der Kerl hier, und Melli auch, in dieser Einöde? Was passierte hier gerade? „Was soll das alles? Wer bist Du? Und was willst … was wollt ihr überhaupt?“ Er sah, wie Melli zu lächeln begann. Kein süßes, unschuldiges Lächeln wie damals in Hamburg, ihr Gesicht wirkte hart, diabolisch verzerrt. Frischfleisch, dachte er, Scheiße, ich bin hier das Frischfleisch. Der Rocker stieß ein kurzes, kehliges Lachen aus, das ihn an eine Szene unmittelbar vor dem typischen Showdown eines Westerns denken ließ. Es fehlte nur noch die dramatische Musik und ihr abruptes Ende, bevor dann schließlich der entscheidende Schuss fiel. Kutte beendete sein Kopfkino: „Melli ist meine Tochter. Ja, denk dir bloß, auch die Mädchen, die Deinesgleichen so gerne flachlegen, haben Väter. Und solche nach Geld stinkenden Penner, wie du einer bist, machen sie systematisch kaputt. Aber für Melli ist das jetzt vorbei, ich habe sie raus geholt aus dieser Scheiße. Und ich habe ihr geschworen, dass ich euch fertig mache, alle, die ich in die Finger bekomme. Und mit Dir kleinem Scheißer geht’s los. Also, Feuer frei, Melli.

Erst jetzt realisierte er, dass Melli schon die ganze Zeit ein Smartphone in seine Richtung hielt. Und nun fing sie an zu erzählen. „Also Leute, ich bin die Melli. Ich bin fünfzehn Jahre alt, und hier seht ihr den Schwanzlutscher, der mich vor drei Monaten vergewaltigt hat. Sein Name ist Frieder Wirmer, er wohnt in Bonn in der …“. Ein paar Augenblicke lang starrte er Melli an, unfähig zu begreifen, was hier vor sich ging. Dann durchfuhr ihn eisige Panik, ein Tsunami, der ihn hinaus riss aus seiner Schockstarre, und seine Gedanken schossen hin und her wie fehlgeleitete Raketen. Nein, nein, NEIN, dachte er, das passiert hier gerade nicht, das kann nicht, das war keine, nein, du hast doch vierhundert Euro, das hatten wir vorher, war doch alles so abgemacht, Vergewaltigung, oh Gott, nein, du lügst, das kannst du nicht, verdammt, was machst du? Er wollte schreien und fluchen, brachte jedoch erneut nichts hervor, stürmte schließlich wortlos die wenigen Schritte zu seinem Fahrzeug, wo ihm Mellis Vater bereitwillig Platz machte, während er viel zu lange benötigte, um die Tür zu öffnen. Er sprang auf den Sitz und schoss zurück auf die Straße, weg von dem Ort, an dem sein Leben gerade in Trümmern gelegt worden war. Er hörte nicht mehr, dass ihm Mellis Vater noch hinterherrief, er hätte sämtliche seiner Kontakte, die nun alle erfahren würden, was für ein Monster er sei. Ein Vergewaltiger, der sich an Minderjährigen verging. Im Rückspiegel wurde die Eberschänke schnell kleiner, doch der große Stoffhase mit seinen bonbonfarbenen Schleifen, an denen der Geldumschlag hing, sein großzügiges Geschenk für die Landjungfer, saß immer noch angeschnallt auf dem Rücksitz und fixierte ihn mit schwarzen Knopfaugen.

Die Dämmerung war inzwischen einer sternenklaren Nacht gewichen, und ein prächtiger, kugelrunder Vollmond beschien die baufällige Bushaltestelle, an der er nun seit mehr als zwei Stunden zusammengesunken in seinem schicken Luxusgefährt saß. Nur wenige Fahrzeuge waren an ihm vorbeigerauscht, doch keines hatte mit Blaulicht angehalten, um ihn einzusammeln, und das verwunderte ihn durchaus. Er hatte auch keinem Bus Platz machen müssen, und nicht ein einziger Mensch war an ihm vorbeigelaufen, hatte ihn angesprochen und gefragt, ob alles in Ordnung sei. So war die Resignation, die ihn nach der geleerten Flasche wie ein dunstiger Nebel umschlossen hatte, allmählich einer seltsamen Gleichmut gewichen, die durchzogen war mit einer guten Portion Melancholie. Leise füllte Musik den Innenraum des Fahrzeugs aus, denn in der Zwischenzeit hatte er das Radio angeschaltet und einen Sender gefunden, der etwas Klassisches für die späten Stunden des Tages spielte. Schubert, ach ja, die Winterreise. Wo hatten wir das gleich noch mal gehört, muss in der Kölner Philharmonie gewesen sein, damals, als wir noch manchmal mit der Bahn unterwegs waren. Ja, das würde ich gerne noch einmal live hören. Auch wenn keiner an Fischer-Dieskau heranreicht. Tja, der ist auch schon länger tot. Naja, irgendwann geht halt alles einmal zu Ende, oder, Hasi?

Sein Smartphone meldete sich nur noch selten, doch als die Musik „von einer schönen Maid“ erzählte und parallel hierzu eine weitere Nachricht eintraf, nahm er es endlich doch in die Hand. Es muss dieser vermaledeite Link gewesen sein, den ich von Melli bekommen habe, durchfuhr es ihn. Vielleicht war ihr Vater gar kein Rocker, sondern irgendein Hacker, einer von denen, die nichts besseres zu tun hatten, als auf Rechnern und Smartphones Chaos oder noch Schlimmeres zu erzeugen. Wie nennen die das gleich noch, Fischen, oder etwas in dieser Art? Himmel, Was bin ich doch für ein Idiot. Er öffnete seinen bevorzugten Messengerdienst, und war nicht wirklich überrascht über die allein dort aufgelaufenen vierundsechzig ungelesenen Nachrichten in dreiundzwanzig Chats. Ganz oben der eben aktualisierte, der Privatchat mit seiner Frau. Er öffnete ihn, und alles was er sah, war dieses eine Wort: Vergewaltiger. Im Hintergrund sang Fischer-Dieskau mit eleganter Stimme über die Einsamkeit.
 
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