Carmen am Band

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Hera Klit

Mitglied
Ich war Student kurz vor dem Abschluss,
mir fehlte noch ein Schein, deswegen
musste ich noch ein Semester dranhängen.

Ein Kommilitone hatte einen Job in einer
Großbäckerei und weil die noch einen
brauchten, schaffte er mich auch da rein.
Sie zahlten gut und man musste nicht schuften.

Wir sollten einen Steuerschrank für ein
neues Fließband verdrahten.
Für angehende Elektro-Ingenieure kein Ding.
Obwohl ich kein großes Interesse an der
Sache hatte, machte ich wohl einen guten Job,
denn ein Chef raunzte mir eines Tages im Vorbeigehen zu,
man sei zufrieden mit mir.

Ich konnte allerdings meine Augen nicht
von den Arbeiterinnen am Band lassen.
Zwei Semester war ich schon nicht mehr
zum Zug gekommen und da waren einige
heiße Schnitten dabei.
Alle blutjung, kaum über zwanzig
und ich war doch schon siebenundzwanzig.
Der Druck war immens.

Ein Girl schien auch was zu brauchen,
denn sie erwiderte meine Blicke lebhaft
und ihre Bluse klaffte täglich etwas mehr.
Sie plante wohl, mich zu verführen.
Sie ahnte nicht, wie leicht
verführbar ich war.

Es sollte diesmal nichts Festes werden,
nur Spaß machen, weiter nichts.
Was Unverbindliches ohne den ganzen
Rattenschwanz hinten dran.

Die Kleine war Deutsche, musste aber was Südländisches
drin haben, denn ihre Augen waren schwarz wie Kohlen.
Ich musste an Carmen denken, wenn ich sie sah.

Nach drei Wochen lag sie in meinem Bett
in meiner Studentenbude und wir hatten
jede Menge Spaß.
Ich machte es sechsmal beim ersten Date.
Es war schön mit ihr und sie war schön, fast rassig
und sie kannte alle Tricks.

Ich wollte mich nicht verlieben, ich musste
dagegen ankämpfen, ein Drama lag erst kurz hinter mir.
So was brauchte ich so schnell nicht wieder,
außerdem hatte sie Friseuse gelernt und kannte
nichts von Nietzsche, Benn, Hölderlin und Bukowski.
Wie sollte das gehen? Was sollten wir reden?

Wir trafen uns immer häufiger, gingen ins Kino,
zum Essen, auf Konzerte, was man so macht,
nicht nur Sex.
Sex war mir aber doch das Wichtigste mit ihr.
Reden konnten wir wenig, und wenn ich ihr
meine Lieblingsgedichte vortrug, schien sie zu leiden,
aber sie verließ mich nicht.

Es kam, wie es kommen musste, sie
wollte mich ihren Eltern vorstellen.
Ich geriet in Panik, allein bei dem Gedanken,
auf einem Familiensofa sitzen zu müssen
und ihren Eltern vorspielen zu müssen,
ich meinte es ehrlich mit ihrer Tochter.
Ich meinte es nicht ehrlich, ich war eine Ratte.
Sie würden mir das ansehen.
Es war auch sonst nicht meine Art,
ich spielte wirklich das erste Mal
mit gezinkten Karten.

Und der Tag kam und ich saß auf dem Sofa
und es war schlimmer,
als ich es mir je hätte ausmalen können.
Sie hatte liebe, gut situierte, herzliche Eltern,
die mich in ihrem Haus willkommen hießen
und drei Schwestern nebst
gutbürgerlichen, gut verdienenden Ehemännern,
die alle ihren Neuen endlich kennenlernen wollten.

Ich hatte das Gefühl, das Wort Lügner sei mir
in riesigen roten Lettern auf die Stirn tätowiert.

Aber alle machten keine Anstalten, mich zu hassen,
Sie behandelten mich überaus freundlich
und zuvorkommend.
Mich, den Langzeitstudenten mit Aussteigerambitionen.
Ich tat so, als hätte ich gute berufliche Erfolgsaussichten,
um mich als gute Partie darzustellen.
Das war vollkommen daneben.

Meine neue Freundin küsste mich in der
Haustür lange zum Abschied an diesem Abend
und war ganz aus dem Häuschen,
wie gut alles gelaufen war.
Ich hörte schon die Hochzeitsglocken.

Am nächsten Tag rief ich sie an und erklärte ihr,
ich sei nicht überzeugt, dass es mit uns passe.
Ich hörte ein Schluchzen in der Leitung und legte auf.

Unterdessen war Krieg in Nicaragua.


Hera Klit, Dezember 2021
 

Aufschreiber

Mitglied
Ahja

wenn ich diesen
Satz zer
hacke

wird es Lyrik
ohne Mist

wär zwar auch
als Prosa
...

was jedoch
wenn ich die
Satzstruktur nur
knacke

nicht gleich
zu bem
erken ist

***

Langsam befürchte ich, meine Verständnisfähigkeit und Empfinden sind nicht zur höheren Kunst geeignet.
 



 
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