Casino – die Kugel rollt

„Auf die Sieben!“ ruft der Mann mit der grauen Krawatte, da rollt die Kugel bereits im Kessel und fängt auch schon an, lustig über die silberglänzenden Erhebungen zu hüpfen, welche den Lauf des Glücksspiels lenken, sodass der Ausgang auch wirklich ungewiss bleibt.
„Zu spät“ befindet der Croupier und schiebt dem Mann seine fünf Jetons wieder zurück anstatt sie wie geheißen auf die Sieben zu setzen.
Klack, klack, klack macht es, ehe die Roulette-Kugel schlussendlich liegen bleibt.
„Achtzehn!“ stellt der Ansager mit monotoner Stimme fest und setzt die Glasfigur auf die entsprechende Zahl auf dem grünen Spielfeld.
Der Mann schaut gleichgültig zu, zündet sich eine Zigarette an und fängt auch schon wieder an, das Feld mit seinen wasserblauen Jetons zu pflastern.
Ein ganzer Haufen auf Rot, dazu die ersten Drei, 27/30 en cheval, etliche Carrés und kleinere Stapel plein auf 7, 16, 18, 25 und 34.
„Rien ne va plus!“ sagt der Croupier, aber der Mann wirft trotzdem noch eine extra Spielmarke auf die 22.
Diesmal lässt es ihm der Spielleiter durchgehen. Sowieso kommt wieder was anderes.
„Fünfundzwanzig!“ ist angesagt.
„Au ja!“ freut sich da eine glockenhelle Stimme neben mir.
Die Stimme gehört zu einer schmalen Blondine im kleinen Schwarzen. Sie muss an die dreißig sein. Nicht übel.
Die Blonde klopft der grauen Krawatte anerkennend auf die Schulter, aber der Mann reagiert kaum. Schwer zu schätzen, ob er mit dieser Runde einen Gewinn eingefahren hat.
Mit dem Schieber räumt der Croupier das Spielfeld ab. Viele hellblaue Jetons wandern in die Sortiermaschine; einen neuen, monströsen Stapel gibt es fürs Erraten der roten Fünfundzwanzig.
„Ist ja immerhin mein Geburtstag!“ orakelt die Blondine weiter, während der Kerl seine Chips zusammenrafft. Sie küsst den Mann, was dieser nur halbherzig erwidert, und erinnert ihn aufgekratzt: „Unseren Hochzeitstag musst du aber auch mal setzen!“
Unschlüssig drehe ich die drei Jetons, die ich noch habe, in meiner Hand.
Als der Croupier fertig ist mit Auszahlen, setze ich schließlich einen Fünfer auf die Fünfundzwanzig, obendrauf auf den Gewinnjeton des Mannes, den dieser liegen lässt.
Indes der Mann legt wieder ein blaues Muster auf dem Tableau. Irgendwo darunter muss sich wohl auch besagter Hochzeitstag befinden; ist aber nicht auszumachen, wo.
Und wirklich: „Fünfundzwanzig!“
Erneut kommt die Kugel auf der Fünfundzwanzig zum Liegen.
Die Blondine jauchzt.
Ich selbst kriege jetzt auch wieder einen ganz ansehnlichen Stapel in die Hand.
„Haben wir schon gewonnen?“ fragt die Blonde ihren Mann.
„Jetzt fangen wir erst richtig an!“ meint dieser. „Weißt du, man sollte einen Jeton, mit dem man gewonnen hat, nie vom Feld nehmen. Kann sein, die Zahl kommt noch einmal, wie grade eben. So einen Zahlendoppler gibt es beim Roulette ganz häufig. Sogar ganze dreimal hat sich dieselbe Zahl schon wiederholt, ich habe es selbst erlebt, aber das ist sehr selten…“
Richtig Zeit zum Quatschen hat er ja nicht, schon geht’s an die nächste Runde.
Ich selbst beschließe zu pausieren. An ein Triple der Fünfundzwanzig ist ja doch nicht ernsthaft zu glauben, so nehme ich meinen Einsatz wieder vom Tisch.
Vielleicht werde ich heute sogar mit meinem Gewinn nach Hause gehen. Über hundertachtzig Euro habe ich nun in meiner Tasche; mit fünfzig hatte ich angefangen. Schau an, die Blondine bringt mir Glück.
Ich trete weg vom Spieltisch und bestelle mir an der Bar einen Drink.
An Tisch drei steht immer noch wie angewachsen die Blonde bei ihrem Mann und redet ab und an dezent von hinten auf ihn ein, beugt sich zu ihm hinab. Kaum, dass er sich jemals richtig umdreht.
Einmal gibt er ihr etwas in die Hand und deutet eifrig auf die Automaten, die rechts im Raum stehen.
Die Blonde seufzt und begibt sich aber alsbald in die gewiesene Richtung, um die blinkenden Maschinen eine ganze Weile mit Münzen zu füttern. Sie tut das sehr gelangweilt und fast schon so, als wäre es ihr peinlich, dass diese lächerlichen Früchte und Zahlen vor ihr aufblinken und einen Heidenlärm machen mit Pling! und Peng! und Sirenengeheul.
Irgendwie passt diese Frau nicht hier rein.
Ihre Gesichtszüge sind fein geschnitten und ihr Blick ist wach, aber nicht durchgehend gebannt auf den Spielablauf gerichtet wie bei den meisten hier.
Ich merke, wie sie ihrerseits die Anwesenden mustert, mich eingeschlossen.
Nachdem sie all ihre Münzen im Automaten versenkt hat, kehrt sie wieder an Tisch drei zurück.
Ich folge ihr unauffällig.
Die graue Krawatte sitzt immer noch in der gleichen Position da. Wie eine Qualle hockt er mittig vorm Tableau, sodass er mühelos alle Zahlenfelder erreichen kann, um wieder und wieder seine blauen Jetons draufzusetzen. Scheinbar hundert Quallenarme werfen nur so um sich mit den Plastikchips. Zudem bellt er dem Croupier immer wieder Befehle zu, damit der noch zusätzlich seine Spielmarken wie gewünscht da und dort platziert: Große Serie. Finale 3. Acht/Elf.
Bis zur letzten Sekunde versucht er, sein Geld zu setzen und ignoriert das „Rien ne va plus“ wiederholt. Ich glaube, der Croupier ist auch schon genervt von dem Typ.
Kaum eine Zahl, die er nicht setzt.
Besonders die Zero scheint es ihm angetan zu haben, aber sie kommt nicht. Den ganzen Abend nicht. Sowas gibt’s.
Es entgeht mir nicht: Stapel für Stapel blauer Jetons verschwinden in der Versenkung des Tisches. Ratternd zählt und neusortiert die Maschine und hat ordentlich zu tun.
Das Casino ist jetzt ziemlich voll und an den Tischen herrscht reges Gedränge.
Ich nutze die Situation, um mich näher an das Ehepaar ranzuwanzen. Irgendwie interessieren mich die beiden.
Genau hinter der Blonden komme ich zum Stehen.
Ich sehe, wie sich die feinen blonden Härchen in ihrem Nacken kräuseln. Ihre Haare trägt sie zu einem lockeren Knoten gebunden, sieht aus wie ein goldener Türknauf. Ich beobachte das zuckende Muskelspiel, wenn sie ihren Kopf bewegt, um mal in den Kessel zu starren, mal den Blick im Saal schweifen zu lassen.
Es gibt Leute, die sagen, es bringt Unglück, zu der tanzenden Kugel hinein zu starren, aber an sowas glaubt die Blonde bestimmt nicht.
Ich tu so, als würde auch ich meinen Blick auf die Kugel heften, die grad mit neuem Drall durch den Kessel geschossen wird und trete noch einen Schritt näher heran. Fast schon berühren sich unsere Körper. Sie duftet nicht schlecht, nach frisch gewaschenem Leinen oder Maiglöckchen, auf jeden Fall frisch. Sie könnte mir gut gefallen.
Aber sie dreht sich nicht zu mir um. Sie rückt, im Gegenteil, ihrerseits noch näher an ihren Mann heran.

*****​


Später, als ich nach einer matten Runde Black Jack aus den Waschräumen trete, sehe ich die Blonde allein an der Bar sitzen.
Ihr Mann: Immer noch an Tisch drei mit den blauen Plastikchips beschäftigt. Ihn interessiert scheinbar nichts außer das geistlose Roulette.
Sie: stochert gedankenverloren in einem Martiniglas herum und zerquetscht die Olive mit dem Cocktailpick.
„Darf ich Sie vielleicht auf einen Drink einladen?“ versuche ich es spontan auf die direkte Art – und merke aber gleich, das wird ein Reinfall.
Fast ängstlich huscht ihr Blick über mein Gesicht, ehe sie dankend ablehnt. „Ist schon bezahlt“ sagt sie und schaut demonstrativ in ihr Martiniglas.
Ich nicke ihr freundlich zu, was sie vielleicht aus den Augenwinkeln sehen kann und bestelle mir selbst ein Glas Wein. Setze mich etwas abseits auf einen Barhocker.
Als mir der Barkeeper das Getränk bringt, stehe ich kurz auf, um mein Portemonnaie aus der Hosentasche zu fischen, dabei beuge ich mich wieder ein wenig zu ihr rüber.
„Entschuldigen Sie, normalerweise spreche ich fremde Frauen nicht einfach so plump an. Aber wissen Sie, ich bin wahnsinnig guter Laune, ich habe grad eben gewonnen und mir ist nach Feiern zumute. Die Fünfundzwanzig hat mir heute so richtig Glück gebracht!“
„Die Fünfundzwanzig - das ist mein Geburtstag“ flüstert die Blondine leise, aber hörbar.
„Na dann: stoßen wir an“ sage ich und unsere Gläser klirren aneinander. „Auf die Fünfundzwanzig!“
Ich nehme einen Schluck, dann tue ich so, als würde ich weiter hinten im Raum jemanden kennen, den ich begrüßen muss.
„Ich wünsche noch einen schönen Abend!“ verabschiede ich mich.


*****​


Am Samstag in der Woche drauf ist von der Blonden keine Spur.
Ihr Mann ist nicht zu übersehen, aber seine Frau hat er nicht mitgebracht.
Wieder hält er Tisch drei in Beschlag, spielt heute mit der Farbe Gelb.
Seine Frau scheint ihm nicht zu fehlen. Völlig versunken ist er in das Spiel mit der Kugel.
Von Zeit zu Zeit raucht er eine. Ich glaube, wenn er verliert, raucht der Mann mehr als sonst.
Gleichwohl er nahezu jede erdenkliche Zahl zu setzen scheint, wird sein Stapel zusehends kleiner.
Er will es sich nicht anmerken lassen, aber seine Laune ist schlecht.
Ich merk es wohl.
Den ganzen Abend verbringe ich an seiner Seite und schaue zu, wie er vor meinen Augen mehr und mehr verarmt.
„Was soll ich nur setzen?“ fragt er mich an einem seiner Tiefpunkte auf einmal unvermittelt und ich weiß, seine Verzweiflung ist nur halb gespielt. Ja, wirklich, mich fragt er, seinen Nebenmann! Überrascht bin ich, dass er überhaupt von mir Notiz genommen hat.
Ich antworte ihm, er solle doch eine Zahl setzen, die ihm persönlich was bedeutet. Ein Geburtstag vielleicht? Oder eine Hausnummer?
„Hausnummer, das ist gut. Dann auf die Siebzehn. Geranienweg 17, da wohne ich.“
„Ich ziehe mit“ sage ich und lege wiederum einen meiner Jetons auf die gelben des Mannes, welche auf der Siebzehn ruhen.
„Tot toi toi“ sage ich, aber da ignoriert mich der Mann auch schon wieder. Klack, klack, macht die Kugel in diesem Kessel aus Edelholz.
Allzu viele Jetons sind nicht mehr übrig. Gleich wird er wieder einen Hunderter aus der Tasche holen, um ihn gegen Spielsteine zu wechseln, denke ich bei mir.
„Siebzehn!“ ist angesagt und wir gratulieren uns gegenseitig.
Die gewonnenen Jetons verspielen wir dann aber beide ziemlich rasch und sind schnell wieder bei null.
Als ich mit leeren Händen vom Tisch aufstehe, fingert der Mann grad einen neuen Schein aus der Geldbörse.
Ich deute ihm einen Gruß, weil ich weiß, wann man aufhören muss, aber er reagiert nicht.


*****​


Es dauert ein paar Wochen, aber irgendwann taucht die Blonde wieder auf.
Natürlich im Schlepptau mit ihrem Mann.
An ihrem zweiten Abend im Casino trägt sie eine veilchenblaue Chiffonbluse mit Pünktchen drauf und einen nugatfarbenen Bleistiftrock, der zeigt, dass ihr schlanker Körper auch Kurven hat.
Ich halte mich im Hintergrund. Beobachte bloß.
Mir scheint, ihr Mann reißt sich heute erstaunlich gut zusammen.
Weder pflastert er das Spielfeld mit Jetons zu, noch missachtet er die Ansage, dass nichts mehr geht.
Er bemüht sich redlich, seiner hübschen Frau jene Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdient. Die beiden machen heute einen fast schon harmonischen Eindruck.
Ein einträchtiges Paar, das sich Samstagabend ein bisschen amüsieren will, ausgeht und zum Spaß ein bisschen Geld verpulvert. Sitzen miteinander an der Bar und lachen.
Ihr Besuch dauert auch gar nicht lange.
Bereits nach zwei Stunden sind sie wieder weg.
Irgendwas allerdings sagt mir, dass das heute nur Show war.


*****​


Im Folgenden: Fünf Samstage kreuzt er allein auf, ohne sie.
Wie gehabt spielt er wie ein Besessener.
Ich glaube, er kommt sich groß vor, wenn er mit Moneten um sich schmeißen kann.
Wenn es gut für ihn läuft, gibt er dem Croupier gern ein Trinkgeld.
„Stück für die Angestellten“ sagt er dann großmäulig und extralaut und sieht zufrieden zu, wie der Spielleiter den ihm zugeworfenen Jeton aufgreift und damit mehrmals auf Holz klopft, ehe er das gute Stück in der Trinkgeldkasse verschwinden lässt – damit es auch jeder mitkriegt.
Ich gebe es zu, ich bin jetzt schon mehrmals in die Geranienstraße gefahren. Sie liegt quasi auf meiner Route, wenn ich in den Baumarkt muss. Ist eine hübsche, grüne Straße mit gepflegten Häusern.
Die Nummer 17 ist terracottafarben mit weißen Fensterläden. Mediterran angehaucht das Ganze. Eine Zypresse im Garten, ein Kräutergarten. Auf den Terrassenmöbeln fläzt zumeist die Katze.
Ich habe das Gefühl, dass ich die Bewohner dieses Hauses kenne, auch wenn das natürlich Blödsinn ist.


*****​


Am sechsten Samstag ist es endlich wieder soweit. Die Blonde ist da.
Ihr Mann natürlich auch.
Heute sieht sie besonders umwerfend aus.
Nicht, dass es jemandem auffallen würde. Sind ja doch alle nur in ihr Spiel um den schnöden Mammon vertieft. Aber ich sehe, die Frau hat das gewisse Extra.
Ihr Haar trägt sie offen. In seidigen Bahnen fällt es ihr auf die Schultern. Ein knielanges, ausgestelltes Kleid, bordeauxrot, umspielt ihren Körper, der schmale Gürtel betont die Taille. Sexy.
Jedoch es scheint, von Anfang an steht der Abend unter keinem guten Stern.
Schon beim Reinkommen scheint das Ehepaar verstimmt, sie ganz besonders. Ihr feines Gesicht lächelt kaum.
Ob sie überhaupt hier sein will?
Die Stimmung wird auch nicht besser, als der Mann nach und nach seine Jetons und seine Contenance verliert.
Die Blonde spielt mal wieder gar nicht. Steht stumm hinter ihrem Mann, der Qualle.
Missmutig schaut sie zu, wie dieser Mann sie nicht und nicht beachtet und mit Feuereifer alles Geld verspielt, das er bei sich trägt.
Die Luft steht und ist zum Schneiden dick. Geraune, Getratsche, Geklimper.
Ich wage mich mal aus meiner Deckung hervor und lausche, was an Tisch drei so abgeht.
Keiner der beiden bemerkt mich. Beide starren sie jeder für sich abwechselnd auf den grünen Filz mit den Jetons drauf oder in den Kessel mit der rollenden Kugel. Auch die Blonde hat heute kein Auge für was anderes. Allerdings nicht so spannungsgeladen wie ihr Mann, eher müde wirkt sie.
So geht das zwei geschlagene Stunden lang, dann sind die Jetons und ist das Geld offenbar alle.
Der Mann schaut aus, als würde er gleich in die Tischkante beißen, das kann er nicht verbergen. Für heute ist der ziemlich am Ende.
„Können wir jetzt gehen?“ fährt die Frau in Rot ihren Mann auch noch unvermittelt an, trippelt ungeduldig mit den Füßen.
Er schaut gehetzt aus.
Steht auf, macht aber keine Anstalten, sich vom Tisch wegzubewegen, flüstert ihr was ins Ohr.
„Waaas? Jetzt soll ich dir auch noch Geld borgen? Mein Geld? Du hast sie wohl nicht alle!“
Die Blonde bemüht sich zwar, mit gesenkter Stimme zu sprechen, aber ich höre sie wohl.
Wieder redet er leise auf sie ein.
Sie: Rollt mit den Augen. Schüttelt verständnislos den Kopf.
Er wiederum ist jetzt ganz ruhig. Legt ihr die Hände auf die Schultern, schaut sie eindringlich an und will sie küssen.
Zwar verzieht sie zuerst unwillig die Lippen, aber sie lässt es zu.
Nochmal flüstern sie miteinander.
Sichtlich brüskiert atmet die Blonde tief ein und aus, wirft ihrem Mann noch einen mahnenden Blick zu und macht sich dann aber auf zum Schalter, um frisches Geld zu holen.
Als sie wiederkommt, küsst und umarmt sie der Mann überschwänglich, was seine Frau genervt über sich ergehen lässt. Seinen Stammplatz am Tisch hat die Qualle besetzt gehalten. Der Mann rührt sich nicht vom Fleck, bis seine Frau ihm die bestellten Scheine in die Hand gibt.
Die Blonde hält ihm die Scheine zuerst hin wie einen Köder, zieht sie aber nochmal zurück, als er gierig danach greift, ehe sie ihm das Geld natürlich doch überlässt. Machtspiele.
„So, da hast du. Mehr kann ich heute nicht mehr abheben. Die vierhundert kannst du jetzt noch verspielen - aber dann ist Schluss!“ höre ich sie sagen, weil ich meine Ohren gespitzt halte.
Aber Schluss ist dann noch lange nicht.
Mit dem Geld von der Blonden schafft es der Mann, weitere zwei Stunde hin und her zu spielen, ohne dass sein Chipsstapel erheblich größer oder kleiner würde. Mal gewinnt er, mal verliert er, in Summe bleibt sein Einsatz aber gleich.
Ich merke, die Blondine verliert ihrerseits nach und nach die Nerven - ER ignoriert das gekonnt.
Zufällig stehe ich mit am Tisch, als die Sache eskaliert.
„Richard, ich will jetzt gehen! Jetzt gleich!“ quengelt die Blonde nun schon zum hundertsten Mal, jetzt aber mit einer Wut in der Stimme, die neu ist. Ihre Geduld ist jetzt wohl endgültig aufgebraucht, soviel ist klar.
Er: Macht eine abwehrende Bewegung, sagt: „Warte noch ein bisschen, gleich geht’s bergauf, wirst schon sehen“ und sowas in der Art, aber sie lässt nicht locker.
Halb tuscheln sie miteinander, halb kann man ihren Streit mit anhören.
Kurz drauf wird er laut, aber so richtig.
„Na, dann geh doch! Nimm dir ein Taxi und schleich dich! Ich bleibe! Du nervst mich sowieso nur die ganze Zeit!“ schleudert er ihr zornig ins Gesicht.
Die Blonde wird erst blass, dann rot und schlussendlich sehr still.
Offensichtlich ist es ihr sehr peinlich, dass ihr Mann so mit ihr redet vor all den Leuten hier.
Sie hebt ihre rechte Hand, als wollte sie etwas gestikulieren, aber der Mann schaut ja doch nicht.
Übers Spielfeld gebeugt setzt er grad die nächste Runde als gäbe es kein Morgen.
Die Blonde lässt ihre Hand wieder sinken. Auf einmal sieht sie sehr traurig aus und ohne jede Kraft.
In der nächsten Sekunde überlegt sie es sich anders. Macht sie energisch einen wütenden Schritt nach hinten, um einen beleidigten Abgang hinzulegen:
Da passiert es.
Ein volles Tablett trägt die Kellnerin in der Hand, mit Bier und Wein und Cola drauf, mehrere Whiskeygläser und ein Kaffee, so eilt sie von der Bar zu den Tischen, um den Gästen das Gewünschte zu servieren.
In ihrer beschämten Wut bemerkt die Blonde natürlich nicht, dass die Serviererin grad in ebenjener Minute an den Tisch herantritt, und mit einer unbedachten Bewegung schlägt sie der anderen Frau das Tablett regelrecht aus der Hand.
Es klimpert und klirrt, die Gläser rutschen, fallen und verschiedentliche Flüssigkeiten ergießen sich auf den buntgescheckten Teppichboden. Etwas zerbricht.
Für einen Moment sind die beiden Zusammengestoßenen wie erstarrt, die Blonde besonders.
Ich merke, wie sich ihre Augen nun endgültig mit Tränen füllen, ehe sie sich zur Kellnerin auf den Boden kniet, um ihr bei der Sauerei zu helfen.
„Bitte, entschuldigen Sie, das tut mir ja so leid, ich hab sie nicht gesehen…“ stammelt sie dabei und ist jetzt wirklich kurz davor loszuheulen.
Die umstehenden Gäste glotzen bloß.
Und der Mann? Der Mann hat ja noch nicht mal mitgekriegt, was direkt hinter seinem Rücken geschehen ist.
Ich: Begebe mich zu ihr nach unten in die Hocke und nehme ihr behutsam die Glasscherbe aus der Hand.
„Vorsicht, Sie schneiden sich noch“ spreche ich mit ruhiger Stimme zu ihr, fast schon wie zu einem kranken Pferd.
„Lassen Sie nur, ich mache das schon“ sagt auch die Kellnerin, die gute Miene machen muss. „Ist ja nicht so schlimm, das haben wir gleich!“
„Das Teppichmuster ist sowieso grauenhaft hässlich und Flecken fallen hier gar nicht auf!“ raune ich ihr zu, zwinkere schelmisch, während Cola und Kaffee warmkalt ineinanderfließen. Das bringt sie nun tatsächlich zum Schmunzeln.
„Wissen Sie was, Scherben bringen Glück, so sagt man doch?“ setze ich noch eins drauf.
Jetzt lächeln wir uns schon offen an. Verschämt, verschmitzt.
Hocken beide immer noch auf dem scheckigen Casinoteppichboden rum, nur wir beide, ganz intim. Die Kellnerin holt wohl grad irgendwas zum Saubermachen. Schon seltsam, die Situation.
„Vielleicht möchten Sie ja heute was mit mir trinken? An der Bar? Sie erinnern sich? Ein kleiner Schluck zur Beruhigung?“
Ich weiß ja doch, diesmal treffe ich bei ihr voll ins Schwarze. Heute geht was.
Ihr Blick schweift zu Tisch drei, wo der Mann noch immer nix checkt, dann nickt sie sachte.
„Aber nur einen Kaffee“ stellt sie eine Bedingung, als würde das unschuldige Getränk die Situation mit ihr und mir an der Bar entschärfen.
„Einverstanden“ sage ich und biete ihr, ganz Gentleman, meine Hand, um ihr aufzuhelfen.


*****​


Noch ehe wir Zucker in den Cappuccino rühren, erfahre ich ihren Namen: Barbara.
Barbara - das passt.
„Moritz Feldmann“ stelle ich mich vor.
„Sie müssen wissen, ich bin nicht alleine hier“, räumt Barbara gleich zu Beginn sämtliche Missverständnisse aus. „Da hinten, an Tisch drei, spielt mein Mann.“
Sie macht eine Pause und überlegt wohl, was sie mir über ihren Mann erzählen soll.
Ich tu so, als wüsste ich von nix.
„Ach, ich sag Ihnen, es ist so furchtbar. Er spielt und spielt, jetzt schon jede Woche und – ich fürchte, er verspielt noch unser ganzes Geld!“ bricht es schließlich aus ihr heraus. „Entschuldigen Sie bitte, dass ich das so sage, aber es hat ja doch keinen Zweck, es zu leugnen. Mein Mann ist ganz klar spielsüchtig. So: Jetzt hab ich es gesagt.
Ich weiß nicht, wie lange das schon so geht.
Vor ein paar Wochen, da hat er mich zum ersten Mal hergeschleppt, da hätte ich es schon wissen müssen. Wenn er spielt, vergisst er einfach alles um sich herum, Sie sehen es ja selbst.
Es wird langsam wirklich… zum Problem.“
Barbara erzählt mir, wie ihr Richard früher anders war. Aufmerksam, liebevoll – wie halt Ehemänner am Anfang so sind.
„Wie lang seid ihr denn schon verheiratet?“ frage ich, nachdem wir später bereits beim Du angelangt sind.
„Sieben Jahre schon“ rechnet Barbara und ich feixe was vom verflixten siebten Jahr.
Keine Kinder.
Sie lacht verlegen.
Ich erfahre, dass sie beide im selben Verlag arbeiten. Barbara als Lektorin, er im Marketing.
„Das heißt, eigentlich ist er der Kreative von uns beiden“ behauptet Barbara in diesem Zusammenhang.
„Das glaube ich nicht“, entgegne ich schlagfertig und setze hinzu: „Ich glaube viel eher, dass dein Mann jemand ist, der ein Buch vor allem nach dem Umschlag beurteilt.“
Oh ja, das war gut.
Ich glaube, das hat sie gern gehört. Das wollte sie hören. Man kann sagen, ich fange an, sie zu durchschauen.
„Wo du doch von Berufs wegen lesen musst, liest du in deiner Freizeit dann auch noch oder was machst du gern?“, will ich von ihr wissen und im Grunde kenne ich die Antwort bereits. Natürlich liest sie gern.
Erzählt mir was von Jane Eyre und Jane Austen und ist beeindruckt, weil ich weiß, dass das eine ein Buchtitel und das andere Autorin ist.
„Ist aber nicht ganz mein Genre“ sage ich vorsorglich und verziehe ein wenig das Gesicht, lasse das Prädikat „Frauenliteratur“ aber bewusst außen vor.
„Was ist denn dein Lieblingsbuch?“ fragt sie mich prompt zurück.
„Steppenwolf“: Damit habe ich noch einen weiteren Stein bei ihr im Brett, soviel steht fest. Gut gepokert.
Alles in allem legen wir aber echt eine flotte, ungezwungene Unterhaltung hin.
Nur einmal zuckt sie leicht zusammen, als sie mich nach meiner eigenen Tätigkeit ausfragt.
Dass ich in einer Bank arbeite und meinerseits auch nichts anderes tue als den ganzen Tag Geld hin und her zu schieben, scheint ihr irgendwie nicht zu gefallen.
Dass wir uns in einer Spielbank befinden und Barbaras Ehemann keine zwanzig Meter entfernt sitzt, habe ich indes ganz vergessen.
Ich hänge an diesen zartrosa Lippen.
Besonders gefällt es mir, wenn sie von ihren Romanheldinnen anfängt. Überhaupt Bücher sind ihr Leben, das merkt man ganz deutlich.
„Jetzt ist es doch noch ein schöner Abend geworden“ sagt sie dem Ende zu, als es ans Verabschieden geht.
„Und? Nimmst du dir jetzt ein Taxi?“ frage ich sie.
Sie: Grinst bübisch und zieht die Autoschlüssel aus ihrer Handtasche. „Soll ER doch ein Taxi nehmen!“
Er, ihr Mann, nimmt währenddessen keinerlei Notiz von dem, was abseits des Spieltisches passiert.
Ich glaube, Barbara und ich könnten ohne weiteres nebenan im Hotel ein Zimmer nehmen, gemütlich frühstücken und hinterher noch einen Einkaufsbummel machen, ohne dass er was merkt – jedenfalls solange ihm die Jetons nicht ausgehen.
„Vielleicht trinken ja wir mal wieder Kaffee miteinander – aber nur, wenn du versprichst, dass du keine Kellnerinnen zu Boden stößt!“
Barbara lächelt leise.
„Bist du oft hier?“ fragt sie mich noch, ehe sie geht. Beinah klingt es so, als würde sie gradezu drauf hoffen, mich an Ort und Stelle wiederzutreffen.
Aber, bei Gott, ich wünschte, das hätte sie eben nicht getan.
Ach, Barbara! Es lief doch grade so gut mit uns.
Jetzt muss ich sie leider anlügen, dabei wollte ich das doch so gern vermeiden.
„Ja, schon“, sage ich, „an den Wochenenden, manchmal. Aber nicht primär zum Spielen. Du musst wissen, ein Freund von mir arbeitet hier als Chef de Table und wenn er Pause hat, quatschen wir ein bisschen.“ – Ich tu so, als würde ich dem Chef de Table vertraulich zuwinken – „Ich selbst spiele nur selten und setze auch nur kleine Beträge ein.
Aber ist interessant hier. Prima, um Leute auszuspähen. Man könnte eine Milieustudie anlegen, nicht wahr?
Und naja… Was soll man sagen: Manchmal trifft man hier auch richtig sympathische Leute…
Also, gute Nacht: Barbara.
Und mach dir keinen Kopf wegen deinem Mann. Der kommt schon wieder zur Vernunft und bestimmt weiß er, was er an dir hat.“
Einmal lächelt sie noch.
Dann ist sie fort.
An Tisch drei sitzt ihr Mann noch bis spät in die Morgenstunden.


*****​


Es war dies das letzte Mal, dass ich Barbara gesehen habe.
Gott, was tut es mir leid, dass ich sie bei unserem letzten Mal anlügen musste.
Ist so: Die Lüge hat alles verdorben.
Ich bin jetzt kein bisschen besser als ihr Mann, der ihr erzählt, er zieht mit alten Kumpels um die Häuser, während er im Casino sogar noch ihr hübsches Häuschen verzockt.
Ich hätte nicht lügen dürfen.
Nach der Lüge gibt es keine Aufrichtigkeit mehr, die halbwegs echt ist und auf die man was aufbauen kann.
Fast schon hoffe ich drauf, dass Barbara nicht wieder herkommen wird.
Ich weiß nicht, ob ich ihr nochmal in die Augen sehen möchte.
Erst kürzlich war ich bei ihrem Haus und hab mir eingebildet, ich hätte vom Auto aus einen mittelschweren Ehestreit mitangehört.
Dann ist sie auf die Terrasse getreten, Barbara, ist sie herausgekommen in ihren Garten, und hat eine ganze Weile ins Nichts gestarrt. Hat dabei unendlich traurig gewirkt und ich musste mich zusammenreißen, um nicht aus dem Wagen zu stürmen und sie an mich zu drücken.
Die Katze huschte ihr zwischen den Beinen hindurch.
Ich ertappe mich: Stelle mir vor, wie es wohl wäre, neben Barbara im Bett zu liegen, aufzuwachen. Barbara schlafend, das goldene Haar fließt wie Honig übers Kissen und ihr Körper zeichnet eine tröstlich warme Kontur unters Laken, das sich behände hebt und senkt mit jedem ihrer Atemzüge. Da, hinter den hellen Fensterläden. Sie und die Katze vielleicht.
Ach, Barbara!
Ich muss dich vergessen.
Du musst raus aus meinem Kopf.
Du hast alles verändert.
Die Lust am Casino ist mir schon ordentlich vergangen, zumindest an den Samstagen, da ich dich erwarte.
Nicht so bei deinem Mann, das kann ich dir sagen.
Oh, Barbara, wie leid mir das alles tut!
Keiner von uns hat dich wirklich verdient.
Heute sitzt er wieder da, die Qualle, und hundert Arme haben nur eins im Sinn: nach Geld grabschen - und noch mehr Geld.
Derweil du, Barbara, sitzt einsam zu Hause.
Ich wette, du sitzt bei einer Tasse Tee und liest eins deiner Bücher. Ich kann dich regelrecht vor mir sehen. So klar, wie ich grad deinen Mann vor mir sehe.
Der: Er hat wohl heute den Lauf seines Lebens.
Der Tisch biegt sich regelrecht unter der Last seiner gewonnenen Jetons und sie werden von Minute zu Minute mehr. Glückspilz.
Bestimmt sitzt er um drei Uhr morgens immer noch hier. Vielleicht auch noch um drei Uhr nachmittags.
Ich nehme an, du wirst ihn anrufen, weil du dir Sorgen machst und Mittagessen ist auch schon vorbei.
Was du wohl gekocht haben wirst? Bestimmt kochst du gut. Eine Sonntagssuppe vielleicht? Warm und mollig und riecht würzig bis auf die Straße hinaus.
Ach, Barbara…

*****​


…Und plötzlich weiß ich, was zu tun ist.
Denn jetzt, Barbara, ist die Zeit. Unsere Zeit. Wir haben die Zeit auf unserer Seite, soviel steht fest.
Deinem Mann wende ich den Rücken zu, in dieser Sekunde, ich drehe mich um.
Gewiss, noch für Stunden ist der beschäftigt und wird noch nicht mal aufschauen oder auch nur aufs Klo gehen. Ich sag dir, sogar das verdrückt er sich noch, so voller Angst, er könnte was verpassen, die richtige Zahl oder so.
Aber ich –
Ich gehe zu meinem Wagen.
Ich öffne die Fahrertür und steige ein.
Hole das Navi raus.
Du hast recht, ich brauch es nicht wirklich, ich kenne den Weg, aber ich will auf Nummer sicher gehen. Ich will es zelebrieren, verstehst du?
Zärtlich streiche ich wie beiläufig über das Buch, das liegt nun schon seit Tagen auf meinem Beifahrersitz: „Stolz und Vorurteil“.
Ist eine Ausgabe von 1906, so wunderschön gebunden. Wunderschön wie du.
Hab ich im Antiquariat entdeckt, es wird dir gefallen.
Ins Navi gebe ich ein: „Geranienweg 17“, dann los.
Dann aber los.
Die Kugel rollt.
 



 
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