Chants de la nuit

Mimi

Mitglied
Ich schlage mit geballten Fäusten gegen das massive Holz der Tür.
Immer und immer wieder, spüre wie die dünne Haut an meinen Knöcheln aufplatzt und wie das warme Blut in gezackten, feinen Rinnsalen meine Hände hinabfließt.
"Mama!", schreie ich und in meiner wunden Kehle brennt ein Feuer aus Wut und Traurigkeit.
"Bitte, lass mich rein!"
Sie hat aufgehört durch die Tür zu rufen, aufgehört mich wahrzunehmen.
Keine Stimme mehr, die schreit, dass es ihr Leid tut und dass sie es nicht ertragen kann.
Nichts rührt sich hinter der Tür. Kein einziges Geräusch ist mehr zu hören.
Ich weiß, sie wird sie nicht mehr öffnen.
Mein Schädel brummt, mir ist speiübel und das weiße T-Shirt klebt durchschwitzt an meinem Bauch.
So fühlte es sich also an.
Ich sinke erschöpft zu Boden, lasse mich einfach fallen, warte bis das Schluchzen in meiner Brust abklingt.


Erschrocken wache ich aus einem merkwürdigen Traum auf. Ich spüre mein Herz wie ein gejagtes Tier rasen, setze mich schwerfällig auf und taste nach dem Wecker auf dem Nachtisch. Das gelbe Display zeigt kurz nach zweiundzwanzig Uhr. Durch die dünnen Vorhängen am Fenster dringt das Licht der Straßenlaterne hinein und taucht das Zimmer in ein mattes Silber.
In der Wohnung ist es völlig still.
Meine beiden Mitbewohnerinnen sind für zwei Wochen auf Studiengang in London.
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, eingeschlafen zu sein und mein Kopf fühlt sich an als wäre er in dicke Watte eingepackt.
Auf dem Nachttisch sehe ich das Pillendöschen, das geöffnet neben der Schachtel mit Kosmetiktüchern steht.
Ich schlage die Bettdecke zur Seite, betrachte meine Beine, fahre mit den Fingerspitzen über die glatte Haut der Oberschenkel. An den Handknöcheln bildet sich eine bräunliche Kruste aus Schorf. Mein Herzschlag hat sich bereits beruhigt.
Langsam stehe ich auf, gehe leicht wackelig in das Badezimmer, betätige den Lichtschalter und lasse hinter mir die Tür geöffnet.
Das Licht erhellt mein Spiegelbild erbarmungslos. Nichts sieht an mir gut aus. Meine Augen sind leicht geschwollen und das Weiß in ihnen ist von feinen, roten Äderchen durchnetzt.
Ich schaue auf meinen nackten Oberkörper, der mir in diesem Moment fremd und hässlich erscheint. Alles daran ist einfach nur falsch. Nichts fühlt sich echt an.
Energisch greife ich zu der Tube mit dem Camouflage, die auf der Ablage neben den Schminkutensilien liegt und beginne das Makeup auf meinem Gesicht zu verteilen.
Mit jeder Schicht fühle ich mich besser, fühle mich schöner und begehrenswerter.
Endlich bin ich zufrieden mit dem Ergebnis, gehe zurück in mein Zimmer, öffne den Kleiderschrank und weiß sofort, was ich anziehen möchte. Zwischen den vielen bunten Kleidern, glitzern die roten Pailletten eines langen Abendkleides. Ich hebe es vorsichtig von der Stange und betrachte es im warmen Licht meiner Zimmerlampe, streiche mit der Handfläche über die Pailletten bevor ich es ordentlich auf das Bett lege.
In der Schublade der Kommode liegen Unterwäsche und Strupfhosen.
Ich nehme einen schwarzen Slip aus Seide, sowie den passenden Büstenhalter heraus und fühle wie meine Finger unter dem zarten Stoff zu prickeln beginnen.
Schnell streife ich die graue Unterhose von meinem Körper, betrachte meine Nacktheit vor dem großen Spiegel meines Schrankes.
Mit der Hand klemme ich vorsichtig meinen Penis zwischen die Oberschenkel zurück, betrachte mich einen Augenblick in dieser Position, lockere dann den Druck wieder. Langsam steige ich mit den Beinen in den Slip, lasse ihn über meine Hüften gleiten, bevor ich nach dem Büstenhalter greife.
Mit geübten Händen verschließe ich den Verschluss am BH, lege die Silikoneinlagen in die gepolsterten Schalen, schiebe sie zurecht bis ich finde, dass sie gut sitzen.
Auf der Kommode stehen drei weiße Styroporköpfe mit unterschiedlichen Perücken. Blond passt perfekt zum Rot des Paillettenkleides, denke ich und nehme die blonde Perücke vom Kopf auf dem sie schmückend thront.


Es ist kurz vor Mitternacht. Der Taxifahrer, der mich vor den Club fährt, ist aufdringlich und unhöflich. Ich ignoriere das verachtende Wort, das er mir nach dem Bezahlen hinterher schmeißt.
Auf meinen glitzernden Highheels schreitet ich zum Eingang.
Der Türsteher lässt mich wortlos hinein.
Kaum betrete ich den Raum, versinken ich im schummrigen Licht und lasse es mich vollkommen ausfüllen. Ich spüre die Blicke der anderen Gäste auf mir und genieße das Gefühl, das sie auslösen.
Die Theke ist groß und u-förmig mit Lederstühlen aus dunklem Holz und bordeauxfarbenen Stoffbezügen. Auf einem freien Stuhl nehme ich Platz und bestelle mir beim Barkeeper Wodka mit viel Eis. Er stellt mir das Glas leise klirrend auf den Tresen. Sein Lächeln ist schön. Die Finger seiner Hände fahren auf dem Mahagoniholz der Theke auf und ab. Ich wünschte, er würde mich berühren, wünschte er würde meine Lippen küssen bis es aufhört tief in mir so weh zu tun.
"Sie ist atemberaubend, nicht wahr?"
Er hebt kurz das Kinn und deutet in Richtung der Bühne hinter mir. Ich drehe mich um, schaue zur Bühne auf der eine elegant gekleidete Gestalt steht und singt, während im Hintergrund Pianomusik zu hören ist.
Ihr Kleid ist tief ausgeschnitten, bis zu ihrem Bauchnabel. Die Haut schimmert wie polierter Marmor neben dem schwarzen Samt ihres Kleides.
"Ja, das ist sie", flüsterte ich mehr zu mir selbst und nippe an meinem Drink.
Ich kenne das Lied. Mon mec à moi.
Die Stimme ist angenehm weich und melancholisch. Sie hat etwas beruhigendes, sinnliches.
Als ich mich wieder zu ihm wende, steht er bereits bei einem anderen Gast und nimmt dessen Bestellung lächelnd entgegen.
"C'est rien qu' du cinéma", singt die schöne Gestalt verträumt.


Ich wische mir mit dem Handrücken über den Mund, dabei verschmiert mein Lippenstift.
Es ist bereits zwei Uhr morgens. Aus meiner Frisur haben sich ein paar Strähnen gelöst, Schweiß beginnt sich unter der Perücke zu sammeln. Ich fühle mich leicht fiebrig, schaffe es mich einigermaßen selbstständig aufzurichten. Der Raum riecht muffig und die Luft ist abgestanden. In den Ecken stapeln sich alte Tische und Stühle. Der junge Mann zieht sich die Hose wieder hoch, schließt den Reißverschluss mit einem kurzen Ruck.
Seine Gesichtszüge haben sich allmählich entspannt, seine Pupillen sind riesige schwarze Löcher.
Er trägt ein figurbetontes Shirt, das seine Bauchmuskeln erkennen lässt. An seinem linken Arm schlängelt sich ein großes Tattoo bis zu seinem Hals empor.
Ich fühle mich benommen vom vielen Wodka.
Der Geschmack auf meiner Zunge ist widerlich.
"Du warst richtig heiß, Prinzessin!" Seine Stimme hat einen leichten Akzent.
"Wenn du willst, fahre ich dich nach Hause." Mein Magen beginnt sich zu verkrampften.
Warum habe ich das getan?
Der staubige Raum bohrt sich mit seiner Kälte durch meine Haut, gräbt sich bis in meine Knochen.
Ich will hier nicht sein, möchte augenblicklich nach Hause, zurück in mein Bett.
Warum? Warum? Warum nur?
"Ist schon in Ordnung, wirklich. Du musst mich nicht fahren, ich hab's nicht weit."
Er betracht mich einen Moment wortlos.
Das Tattoo ist ein von Flammen umrangtes Fabelwesen mit spitzen Hörnern und weit aufgespannten Flügeln.
"Ja, ähm ... wie du willst."
Auf seinem Gesicht erkenne ich den Ansatz eines Lächelns. Es sieht schief und unecht aus.
Der junge Mann macht Anstalten zu gehen, ist fast schon an der Tür. Bevor er sie öffnet, dreht er sich noch einmal zu mir um.
"Du hast mir fast die Seele aus dem Schwarz gelutscht. Du bist verdammt gut, weißt du das?" Sein Akzent klingt leicht osteuropäisch, vielleicht polinsch.
Ich will aus diesem stinkenden Raum raus, raus an die frische Luft.
Nichts an mir ist gut. Nichts in mir ist gut.
"Ich bin ein abstoßendes Monster", zische ich durch zusammengepresste Zähne und spüre wie die Bitternis meine Speiseröhre hinaufsteigt.
"Sie sagt, ich bin ein abstoßendes Monster."
Sein Blick scheint für einen kurzen Augenblick vollkommen nüchtern zu wirken, bevor ich höre wie die Tür ins Schloss fällt.
 
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