Chaos durch Ansage

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Brandenburg kann so schön, so beschaulich sein, doch muss der Berliner irgendwann auch wieder heim … In Dannenwalde hält nur alle zwei Stunden ein Zug, nach Norden wie nach Süden. Ich will zurück in die Hauptstadt, und zwar um vierzehn Uhr einundzwanzig. Minuten vorher stehe ich auf dem Bahnsteig, bereit zum Einstieg, und vernehme aus dem Lautsprecher die Schreckensbotschaft: „Infolge eines Notarzteinsatzes fällt der Zug heute aus. Wir bitten um Entschuldigung.“ Das will erst mal verdaut werden.
Ich bemühe mich um Fassung und dabei fällt mein Blick auf die Laufschrift hoch über dem Bahnsteig. Sie ist sehr lang. Ich erhasche das Wort „Ersatzzug“ und folge dem Bandwurmtext weiter. Da werden ausnahmslos die Namen sämtlicher Stationen aufgeführt, die der Zug vor seinem Ziel Elsterwerda noch passieren wird. Es sind dreiundzwanzig, falls ich mich nicht verzählt habe. Das ist eine Reise eigener Art in die Vergangenheit.. Wo ich überall schon mal war, etwa in Nassenheide, in Rangsdorf, Baruth und Golßen. In Waldrehna war ich noch nicht, muss heute auch nicht sein. Und von Hohenleipisch habe ich nicht mal gehört. Was ist nun mit dem Ersatzzug? Als ich dem Sermon dreimal sehnsuchtsvoll gefolgt bin, weiß ich es: Er fährt um vierzehn Uhr einundzwanzig, und zwar von Gleis zwei. Aber genau da stehe ich ja schon, es ist exakt diese Zeit, nur kein Zug in Sicht.
Jetzt wiederholt eine gut geschulte Frauenstimme aus dem Lautsprecher denselben Text Wort für Wort von Gransee bis Hohenleipisch. Aber der Ersatzzug bleibt dennoch uneingelöstes Versprechen. Die Schrift erlischt und die Stimme verstummt.
Um vierzehn Uhr achtundzwanzig neue Laufschrift: „Infolge eines Notarzteinsatzes fällt der Zug heute aus. Wir bitten um Entschuldigung.“ Mir bleibt ein Rätsel, warum die anderen Passagiere in spe so ruhig bleiben. Soll ich einen ansprechen, Trost suchen? Jetzt ist minutenlang alles still.
Um vierzehn Uhr einunddreißig das Neueste von Geisterhand auf dem Ticker: „Der Zug um vierzehn Uhr einundzwanzig hat heute zehn Minuten Verspätung. Wir bitten um Entschuldigung.“ Und er kam tatsächlich, wenn es auch schon fünfzehn Minuten waren. Eine aufregende Viertelstunde lag hinter mir. Was aber, wenn ich der Horror-Storno-Meldung geglaubt, mich vom Bahnhof entfernt und den Zug dann aus der Distanz noch erblickt hätte?
Selbstverständlich sind Laufschrift wie Stimme automatisiert. Da werden per Knopfdruck Botschaften gesendet, die nur einen losen Zusammenhang mit dem aktuellen Geschehen haben. Bitte nicht alles so wörtlich nehmen ...
 

onivido

Mitglied
Hallo Arno, wenn es bei uns Zuege geben wuerde, waere die von dir geschilderte Situation der Normalfall. Es ist alles Gewoehnungssache und so wie ich die Situation von Weitem sehe, wird so etwas bestimmt das kleinste Uebel in Deutschland sein.
Beste Gruesse///Onivido
 
Danke, Onivido, für Trost und Bewertung. Klar, ich habe keine bleibenden Schäden davongetragen, doch ist der Ablauf symptomatisch für die Bahn wie für weite Teile der öffentlichen Daseinsvorsorge und Verwaltung in Deutschland: miserable Digitalisierung bei weitgehendem Kontrollverlust über die realen Abläufe. Im Raum Berlin ist es heute faktisch unmöglich, auch nur einen Tag lang ohne massive Störung die Bahn zu nutzen. Signalstörung, Kabelbrand oder -diebstahl, Notarzteinsatz, Polizeieinsatz, Notreparatur am Fahrzeug usw. usf. Das nimmt kein Ende mehr. Neulich stank es in einer S-Bahn bei Potsdam intensiv nach verbranntem Gummi und draußen zogen große weiße Qualmwolken vorüber - aber ich will nicht noch mehr ins Detail gehen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
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Gelöschtes Mitglied 24194

Gast
Als ehemaliger Münchener und nun Großraum Berliner kann ich berichten, sämtliche Wege werden zu Fuß zurückgelegt. Es ist eine neue Freiheit und Unabhängigkeit.
 
Meinen Respekt, Samoth. Gehe selbst sehr viel zu Fuß, doch würde mir dieser Radius nicht genügen. Wie käme ich dann nach Dannenwalde?

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

John Wein

Mitglied
Hi Arno,
Dabei war die Bahn einmal das Synonym für deutsche Pünktlichkeit, jedenfalls, wie ich sie erlebte. Mittlerweile meide ich den ÖPNV soweit als möglich, Maskenzwang, Unverlässlichkeit und Verlotterung sind mir einfach zuwider. Irgendwie ist das alles ein Abbild der gegenwärtigen Lage in diesem Land und seiner woken Jünger. Wäre ich jünger, dann würde ich es verlassen. Meine Tochter ist schon weg.
LG; John Wein
 
Danke, John Wein, für deine Meinung. Das Hauptübel scheint mir gegenwärtig allerdings doch in technischen Unzulänglichkeiten zu liegen und insoweit ist es nicht auf die Bahn beschränkt. Es sind ja z.B. gleichermaßen eine Vielzahl von Bahnbrücken wie -autobahnbrücken marode. Man kann sagen, dass die öffentliche Infrastruktur generell einen großen Sanierungsstau aufweist und dass die Schere zwischen Leistungsfähigkeit und Erwartungshaltung sich immer weiter geöffnet hat. Und unter Materialmängeln, Pfusch und Facharbeitermangel leiden inzwischen weite Teile von Volkswirtschaft und Gesellschaft.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
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