Charakter-Beschreibung: "beliebter Dünnbrettbohrer"

ex-mact

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Willkommen zu meiner neuen Experimentierrunde... eine (meinerseits eher flüsternd geführte) Diskussion am vergangenen Wochenende brachte mich auf den Gedanken, dieses Vorhaben nun doch einmal zu realisieren:

Ein Autor hat eher selten den Bedarf, eine seiner Figuren mit Haut und Haar, mit Pickel und Warze, mit jedem einzelnen Wimpernhaar und jeder Zahnschiefstellung zu beschreiben - was er aber möchte/sollte/will ist, lebendige Charaktere zu schaffen. Es gibt zahlreiche "Standard-Regeln" zur Beschreibung von Charakteren in Geschichten, um diese Übung durchzuführen ist es also natürlich auch erlaubt, auf solche Routinen zurückzugreifen. Ein Hinweis sei beispielhaft erwähnt: der Leser kann sich einen Charakter oft leichter vorstellen, wenn statt der "üblichen, positiven" Eigeschaften desselben seine Kanten und Macken erwähnt werden ("...doch statt der bei seinen Kollegen üblichen Schaffnermütze trug Hermann den abgeschnittenen Boden einer Milchkanne. Niemand traute sich, ihm das zu sagen: Hermann konnte wirklich wütend werden, wenn man seine Uniform kritisierte - und er hatte schon manches Mal, wie seine Kollegen es mit ihrer Mütze taten, den Kritiker mit seinem Milchkannenboden verprügelt.")

Die Aufgabe diese Woche ist es, einen Gegenspieler für den Protagonisten zu beschreiben, dessen Eigenschaft es ist, sich bei vielen Menschen schnell beliebt machen zu können, auf "das andere Geschlecht" (er darf also auch eine "sie" sein) anziehend zu wirken (nicht notwendigerweise körperlich, aber "vom Typen her einfach toll") - und für seine Freunde eine Belastung zu sein (vielleicht ist er unehrlich? Vergisst immer alles? Betrügt?). Kurz: es gilt, einen von den meisten Menschen bewunderten, von denen, die ihn kennen, jedoch eher gemiedenen "Typen" zu beschreiben. Er soll lebendig sein, er soll im Leser den Eindruck erwecken: ja, so einen kenne ich auch!
 
R

Rote Socke

Gast
Hallo marc,

Irgendwie habe ich es nicht ganz geschnallt. Diese gegensätzliche und doch positive Beschreibung, zielt doch genau auf den Protagonisten und nie auf den Gegenspieler. Zumindest würde ich meinen Protagonisten so beschreiben oder lesen wollen???
 

ex-mact

Mitglied
Hallo, Volkmar,

vielleicht möchtest Du sogar Deinen Protagonisten so beschreiben, wie ich hier den "bösen Charakter" dargestellt habe (böse meine ich damit einzig als "vom Protagonisten aus betrachtet", nicht absolut) - dagegen spricht ja nichts. Versuche doch einmal, den Charakter AN SICH zu beschreiben - möglichst knapp und dennoch erkennbar - egal, ob es der Held oder der Antiheld ist.
 
R

Rote Socke

Gast
Heile Welt

Mit festen Schritten marschierte der alte Theo Kling die Dorfstraße hinab. Das Kopfsteinpflaster war noch feucht vom Nieselregen, der vor einer Stunde niedergefallen war. Die Kirchglocke verkündete den elften Schlag, und die Laternen wiesen ihm den Weg. Allmählich verzogen sich die Wolkenfelder, um der Sternenflut Platz zu gewähren. Stille und Frieden lag über den schattenhaften Umrissen der Häuser. Theo lehnte seine hagere Gestalt gegen einen Mauervorsprung, zog einen Beutel mit Tabak aus der Hosentasche und begann seine Pfeife zu stopfen. ‚Scheint sich alles verändert zu haben’, überlegte er. ‚Früher zogen wir Bauern noch mit Fuhrwerken durch das Dorf und über die Felder. Dann folgten die Trecker und heute sieht man nur noch Autos. Mit den Autos fahren sie in die Städte zu den Fabriken und in ihre Büros. Das Dorf ist als öde Schlafstätte verkommen. Und ein Sündenpfuhl ist aus ihm geworden’
Theo fuhr schon lange keinen Trecker mehr, ganz zu schweigen von einem Fuhrwerk. Theo war 82 Jahre alt, aber ein gestandenes Mannsbild geblieben. In seinen Augen funkelte die Kraft und Weisheit der Jahre, sein neues Gebiss funkelte auch noch. Was ihn besonders auszeichnete: Nicht eine Gemeinderatssitzung ließ er unbesucht verstreichen. Theo galt als sehr streitlustig im Dorf. Aber die Bürger der Dreihundert-Seelengemeinde wussten, dass er niemals grundlos Streittete. Und die Sitzung an diesem Abend war besonders strittig verlaufen. Theo lief zur Hochform auf und das mit gutem Grund. Seit zwei Jahren regelte ein Großbauer die Amtsgeschäfte, ein Bürgermeister der es faustdick hinter den Ohren hatte. Die Meinung der Bürger über den Dorfchef war gespalten. Erich Bodelbach, der Bürgermeister und Großbauer, führte noch nebenbei so allerlei Geschäfte. Er war Teilhaber einer verruchten Bar in der nahen Kleinstadt und unterhielt ein Kleintransportgewerbe. Das Geld sprudelte wie von selbst in seine Kassen. Erich Bollenbach verstand mit Menschen umzugehen, aber sie auch für seine Geschäfte zu gewinnen. Seine Gegner und Neider befanden ihn als aalglatten Menschen. Seine Bewunderer zollten ihm Stärke und Schläue zu. Die Menschen an Bollenbachs Seite lebten nicht schlecht, fanden alle ein gutes Auskommen bei ihm. Aber was Erich Bollenbach bei der heutigen Sitzung kund gab, verschlug den meisten Bürgern die Sprache. Theo sprang als erster auf und ließ eine wahre Schimpftirade über den Bürgermeister ab. Nie zuvor hatte es einen solchen Zank im Dorf gegeben.
 

ex-mact

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Hier ein Versuch von mir:

"Kommst Du nun mit oder nicht?"
Anja trug wieder diesen "warum-gebe-ich-mich-bloß-mit-Männern-ab" Blick, der bei vielen zu einem Schulterzucken und mit Trotz gedachtem "Dann-eben-nicht" führte. Bei Kai hingegen bewirkte ihr Blick, ihre funkelnden Augen, die steile Linie über der Nase und die schmalen, über zusammengepressten Zähnen leicht geöffneten Lippen nur eines: daß er jeden eigenen Willen fahren ließ.
"Klar. Wird schon nicht so schlimm werden."
Sie zog ihren Mantel an und warf ihm seine Lederjacke zu.
"Mikey ist auch da. Notfalls kannst Du Dich den ganzen Abend mit ihm unterhalten."
"Hmmm."
Mikey war in Ordnung - man konnte mit ihm über fast alles und jeden lachen, er war schlagfertig und intelligent. Kai war noch vor einem halben Jahr jeden zweiten Abend mit ihm von Kneipe zu Kneipe gezogen, hatte ihn auf der Gitarre begleitet und Mikey für seine rauchige, tiefe und sichere Stimme bewundert. Den ersten Knacks erhielt seine Bewunderung, als Mikey das Zigarette-Rauchen auch in seinem, Kais, Auto nicht mehr lasse wollte und im Beisein zweier recht netter Mädchen meinte: "Mach doch die Fenster auf, so kalt ist es nun auch nicht..." Das war Ende Februar gewesen und die leichte Mittelohrentzündung, die auf die erfolgreiche Nacht gefolgt war, hatte Kais Musik-Karriere für das Frühjahr beendet.
Er ließ sich den Seufzer nicht anmerken. Natürlich würde er lieber den Abend - die ganze Nacht - mit Anja reden, Tee trinken, vielleicht Musik hören - aber er wusste, wie gerne sie zu diesen furchtbaren Autorentreffen ging, also hoffte er, daß Mikey dem Ganzen ebenso wenig abgewinnen konnte wie er.
Sie waren beinahe die ersten, ergatterten einen der besten Plätze auf der durchgesessenen Biedermeier-Couch am Küchentisch und begrüßten die nach und nach eintreffenden jungen Leute mit entschuldigenden Blicken: Aufstehen aus diesem Möbel war bekanntlich unmöglich - und sollte es jemand schaffen, verlor er garantiert sein Anrecht auf den Platz.
Ein paar unergiebige Gespräche später - mit einem älteren, dicklichen Herrn über moderne, rhythmusfreie Lyrik und einer glatzköpfigen, alterslosen Frau über feministische Fantasy ohne Magie - war sich Kai sicher, daß Mikey einen Grund gefunden hatte, wen-auch-immer nicht begleiten zu müssen. Er beneidete ihn und fragte sich, ob Anja es ihm übelnehmen würde, wenn er vorsichtig und leise ein Nickerchen machte. Gerade, als er seinen schmerzenden Rücken in eine halbwegs stabile Lage verbogen hatte, weckte ein Tumult auf dem Flur draußen seine Aufmerksamkeit. Auch Anja reckte sich hoch und versuchte, aus ihrem eingesunkenen Tron zu erkennen, was los war.
"Hi, ihr seid ja auch hier."
Mikey verteilte Küsschen auf ein paar Wangen - Kai war schon aufgefallen, daß nicht einmal Jungen ihm das übelnahmen - und setzte sich neben Anja auf die wackelige Lehne der Couch.
"Super, daß Du hier bist", er zwinkerte Kai zu. "Ich habe vom Schreiben keine Ahnung und bin hier bestimmt völlig falsch."
Kai grinste und atmete tief ein. Na also, der Abend war gerettet - ein paar boshafte Bemerkungen über magielose feministische alte Herren oder glatzköpfige Reime würden ihn für die Langeweile entschädigen.
"Von wegen. Du schreibst perfekte Songtexte - also kannst Du doch schreiben!"
Er starrte Anja an. Wie für sie typisch hatte sie ihrem Gesprächspartner die Finger auf eine Hand gelegt, sie liebte es, einen Körperkontakt zu spüren, wenn sie sich unterhielt. Mikey zog seine Hand vorsichtig zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich zurück. Anjas Hand blieb auf seinem Oberschenkel liegen.
"Lieb von Dir, aber so gut wie die meisten hier werde ich nie sein. Du weisst ja, ich bringe nie was zu Ende..."
Kai legte den Arm um Anjas Schultern und sein Rücken protestierte gegen die unbequeme Haltung.
"Aber was Du machst, machst Du mit... ziemlich viel Energie..."
Wenn Anjas Stimme noch leiser wurde, konnte sie bald nur noch Mikey verstehen. Das war auch sicher der Sinn dieses... Schlagabtausches. Aber Kai fand keinen Anhaltspunkt zum Einhaken. Zum Glück unterbrach sie jemand, der es irgendwie geschafft hatte, auf dem Küchenschrank zu sitzen zu kommen.
"Mikey? Hörst Du Dir das hier mal an?"
"Klar, schieß los - um was geht's denn?"
Und es folgten bestimmt vier Seiten Geschwätz über den Sinn des Lebens nach der Uni, vor dem Leben und trotz der Politik... oder so ähnlich. Irgendwann zwischendurch flüsterte Mikey Kai zu: "Musst Du Dir das schon den ganzen Abend anhören? Warum bist Du nicht später gekommen?"
"Anja wollte..."
"Achja, ihr seid ja zusammen. Und Du lässt die kleine Anji nicht aus den Augen, hmmm?"
Anja lachte auf und legte den Kopf an Mikeys Becken. Der stützte seinen Ellbogen auf ihrem Kopf ab und zwinkerte Kai wieder zu.
"Weiber. Furchtbar, oder?"
"Und?"
"Oh - das wars schon? Von mir aus könntest Du ruhig noch weiter erzählen - ich find's prima! Gefühle und Beobachtungen... und... alles stilistisch so ausgefeilt! Ich kann zwar nicht schreiben, aber das hat mir wirklich gefallen!"
Mikeys Kommentar fiel nahezu gleichzeitig mit dem verhaltenen Applaus für die Lesung und letztlich waren die Blicke, die er von mehreren Seiten bekam, deutlich freundlicher als die für den Autor des Pamphlets.

Irgendwann musste Kai die Couch verlassen, sein Rücken tat weh und seine Blase begehrte gegen zuviel grünen Tee und Selterwasser auf. Als er zurück kam, saß Mikey erwartungsgemäß neben Anja.
"Ich würde gerne aufbrechen", bat Kai. "Kommst Du mit oder..."
"Mikey kann mich doch nach Hause bringen... machst Du doch, oder?"
"Kein Problem. Kann aber spät werden, ok?"
Kai nickte und holte seine Jacke. Er fühlte sich auf einmal wie verkatert. Als er sich an der Tür vom Gastgeber verabschiedete, kam Anja hinter ihm her und zog ihn ins Treppenhaus.
"Vielleicht bleibe ich über Nacht, warte also nicht auf mich, ok?"
Er drehte sich zur Treppe um und murmelte: "Hier?"
"Nein."
Nach einer Pause setzte er sich in Bewegung. "Bis morgen." Er war stolz darauf, seine Stimme im Griff zu haben.
"Bis morgen, Schatz. Hab' Dich lieb."
 

Antaris

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Lorenzo Festa

Hallo allerseits,

soll ich oder soll ich die Lupianer nicht mehr mit Textfragmenten von Anna belästigen? Ich tu es einfach mal weil Lorenzo Festa ganz gut zu der gestellten Aufgabe zu passen scheint. Zur Erinnerung: Die gutmütige, etwas naive Anna ist in Marco (in diesem Text nicht anwesend) verknallt, einen neurotischen Musiker, der eine Karriere als Bratschist und bald auch als Dirigent hinter sich hat. Der schöne Lorenzo Festa ist Konzertmeister in dem Orchester


„Wenn du nach Modena willst kannst du gerne mit mir fahren.“ Signore Festa.ließ die Scheibe an der Fahrerseite herunter und öffnete die Beifahrertür.

Zunächst zögerte ich. Nach Gabriellas freimütigem Bekenntnis wollte ich ihr nicht unbedingt unter die Augen treten, ich konnte mir auch nicht vorstellen in Signora Gastoldis Wagen zu steigen, aber mehr Auswahl an Mitfahrgelegenheiten hatte ich offensichtlich nicht, daher bedankte ich mich und stieg in den Wagen.

„Nenn mich ruhig Lorenzo“, forderte er mit einem breiten Lächeln. Aha, der Herr Konzertmeister, der sich sonst eher stolz und förmlich gibt, wird plötzlich leutselig, oder hat er nur einen guten Tag erwischt? Er gab sich erstaunlich gesprächig, erzählte sogar einen Bratschistenwitz und ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte. Ich fühlte mich nicht wohl in seiner Gegenwart, warum eigentlich? Die Fahrt nach Modena wird sich unangenehm in die Länge ziehen, befürchtete ich.

Er sah blenden aus, wie immer. Frisch gewaschen und lackiert federten die schwarzen Locken in jeder Kurve um seinen kräftigen Nacken. Seine Statur ließ eher auf einen sieggewohnten Leistungssportler schließen als auf einen zart besaiteten Künstler. Die schwarze Hose und das weiße Hemd standen ihm ausgesprochen gut. Zumindest das Hemd würde er vor dem Auftritt gegen ein frisches austauschen. Sein Erscheinungsbild pflegte er sehr penibel, und bestimmt war er imstande, sich noch „Joop“ oder irgendetwas anderes Teueres zwischen die Zehen zu tropfen. Im gesamten Innenraum des Autos haftete ein leichter, nicht näher definierbarer Duft von Herrenparfüm.

Als die Sonne von der Fahrerseite her auf das Auto brannte schaltete Signore Festa die Klimaanlage ein. Für einen Sohn reicher Eltern war sein Auto keineswegs protzig ausgefallen, aber ich wusste von dem wertvollem Objekt hinten im Kofferraum. Hin und wieder sprachen die anderen Musiker von der Violine, die zwar nicht aus Strativaris Werkstatt, aber von einem anderen barocken Meister stammte, und von dem Geigenbogen, der vermutlich teuerer als das Auto war.

Wir waren noch nicht einmal auf der Autobahn und Signore Festa redete und redete. Ich versuchte, mich mit der einen oder anderen höflichen Bemerkung aus der Affäre zu ziehen und war zufrieden, solange er nicht auf Marco zu sprechen kam. Zwar redete er ihn stets mit Maestro Prodi an, aber damit endete schon sein Respekt vor seinem direttore und ich fürchtete, er würde sich eher ein Stück von seiner verwöhnten Zunge abbeißen als ein freundliches Wort über ihn zu verlieren.

Wenn ein Geigensolo anstand ließ Signore Festa sich selbst gerne Maestro nennen und ich fragte ihn, ob er sich vorstellen könne, selbst Dirigent zu sein.

Signore Festa funkelte mich aus den Augenwinkeln an. „Momentan nicht“, preßte er hervor und atieg mit voller Kraft auf das Bremspedal. Ein Kleinwagen aus Osteuropa hatte sich in die falsche Spur vor der Mautstation eingeordnet und seinen Irrtum abrupt korrigiert. Grimmig zuckten die kräftigen Augenbrauen, aber der Meister selbst enthielt sich eines Kommentars. Kultivierte Leute fluchen nicht so leicht.

Vom Rücksitz kullerte eine elegante Ledermappe und ergoß ihren Inhalt auf den Boden hinter dem Fahrersitz. Unwillkürlich drehte ich mich um und griff nach dem Wirrwarr aus drucheinander gepurzelten Noten und anderen Papieren. „Wenn du magst kannst dir die Fotos ruhig anschauen“, sagte er und fuhr weiter.

Die beiden Päckchen mit Fütoarbeiten lagen unter den anderen Papieren. Ich öffnete die erste Tüte und ließ die Abzüge durch meine Hände gleiten. Die auffallend gut aussehnde Frau, die nach den Konzerten manchmal auf den Konzertmeister wartete wirkte auf den Fotos fast noch beeindruckender als in natura. „Schöne Fotos, Signore Festa“, bemerkte ich artig.

„Lorenzo“, korrigierte er mit einem breiten Lächeln und strich mit einer Hand durch seine Lockenpracht. Die beiden Kronen über den Schneidezähnen im Oberkiefer waren so sorgfältig gearbeitet dass sie fast nicht auffielen. „Fotografieren ist mein Hobby,“ ergänzte er , „und die Frau meine Verlobte.“

Letzteres wußte ich längst, auch dass sie siebenundzwanzig Jahre alt war, und bald über internationales Recht zu promovieren gedachte. Musiker sind nicht weniger schwatzhaft als andere Leute und wenn ich gerade nicht da war zerrissen sich vermutlich alle Musiker weit und breit ihre Mäuler über die bekloppte Ausländerin, welche sich dem alten Prodi an den Hals warf obwohl sie nicht einmal Musikerin war.

Die Motive in der anderen Tüte unterschieden sich kaum von denen der ersten Tüte obwohl sich Signore Festa viel Mühe gegeben hatte, alles möglichst künstlerisch aussehen zu lassen. Mal exklusiv, mal eher spärlich bekleidet posierte die Schöne auf diversen Möbelstücken, schüttelte ihre blondierte Mähne während der Hobbyfotograf mit Perspektiven und Belichtungsvariationen experimentierte. Das Ergebnis waren bemerkenswert kühle, fast leblos wirkende Bildkonstrukte. Verschlossen und manchmal herablassend blickte Signore Festas Verlobte auf die Kamera oder vor sich hin. Verglichen mit dieser Superfrau war ich bestenfalls eine graue Maus, warum also schielte Signore Festa wieder zu mir hinüber?

Nein, Männer schauen Frauen normalerweise anders an. Sie taxieren sie nicht wie einen Gebrauchsgegenstand.

Ich wandte mich wieder den Fotos zu, betrachtete die zukünftige Doktorin der Rechte auf einer mageren Wiese liegend wie ein vergessenes Kleidungsstück und wusste plötzlich überdeutlich, was mir an Signore Festa mißfiel. In nichts was er tat lag eine erkennbare Form von Zuneigung. Seine Konversation war sachlich, sein Humor strotzte nicht gerade vor Originalität, seine Gesten waren geprägt von nüchternem Pragmatismus, nicht einmal sein Geigenspiel ließ nennenswerte Seelenregungen in seinem Gesicht spiegeln. Wenn ihm eine Griffkombination oder ein ganzes Musikstück mißfiel mochte er verdrießlich seine Augen zusammenkneifen, aber sein großzügig verteiltes Lächeln war aufgesetzt.

Mich beunruhigte die Vorstellung, dass er seine Verlobte mit der gleichen Nüchternheit wie mich betrachtete.

Vermutlich gab er nicht einmal einen stummen Furz ohne berechnende Vorüberlegung von sich. Aus purer Menschenfreundlichkeit hatte er mich bestimmt nicht mitgenommen.

Viel zu langsam fraß Signore Festas Wagen Kilometer um Kilometer Autobahnasphalt. Dass die Fahrt nach Modena so lange dauern sollte hatte ich nicht erwartet, und vor der Rückfahrt graute mir. Ich überlegte, wen ich sonst um die Rückfahrgelegenheit bitten könnte.


So, liebe Lupianer, wenn Ihr bis hier her alles gelesen habt, würde ich furchtbar gerne Eure Meinung über Lorenzo Festa erfahren!

Mit feurigen Grüßen

Antaris

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ex-mact

Mitglied
Hallo, Volkmar,

Deine Beschreibung zeigt IMHO zwei recht intensive Charaktere, allerdings werden beide nur angedeutet und nicht mit viel Leben gefüllt. Ein paar "handwerkliche" Schwächen hat Dein Text (Konstrukte wie "war geworden" oder "befanden ihn..." brechen den Lesefluss) und durch den Schnitt zwischen szenischer Bschreibung ("Theo lehnt...") und Hintergrunderklärung ("was die Dörfler so denken...") kommt der Leser nicht so recht in den Text hinein.
Es ist mir auch nicht ganz klar, ob Du selber im Text Stellung zu Theo und dem Bürgermeister nimmst oder die Sichtweise der Dörfler wiedergibst - mir scheint der erzählerische Standpunkt etwas zu springen.

...und ebenfalls Hallo, Antaris,

Dein Text verwendet - wie ich finde - bereits viele "Standardstrukturen" zur Charakterisierung: objektive Beobachtungen und subjektive Bewertungen derselben wechseln sich ab, was sowohl den Erzähler (Protagonist) als auch den beschriebenen zweiten Charakter gut verdeutlicht. Ein paar "überflüssige" Bewertungen bzw. nachgeschobene Erklärungen könnte man streichen, um den Lesefluss zu erleichtern ("...Für einen Sohn reicher Eltern war sein Auto keineswegs protzig ausgefallen..." - das wird auch anders deutlich...). Etliche Tippfehler wären, wenn es sich denn um einen "eigentlich fertigen Text" handelt, noch zu beseitigen - aber das ist an dieser Stelle zweitrangig. Wichtig erscheint mir zu bemerken, daß die EIGENTLICHE Charakterisierung von Signore Festa in einem kurzen Absatz geschieht, in dem der Erzähler behauptet zu erkennen, was ihm an Festa missfällt. Ich denke, daß dies beinahe ein "Standard-Fehler" ist: der Leser will es SEHEN, nicht erklärt bekommen. Wenn Festa nichts mit Liebe tut, dann sollte eine Szene beschrieben werden, in der dies deutlich wird.

Ich danke euch beiden für die Teilnahme - und hoffe, daß ich mit dieser Art der Textarbeit ein paar mehr Lupos und Lupinchen zur Diskussion des Handwerks "Schreiben" verführen kann. Wie immer sind meine Einschätzungen rein subjektiv und können nur eine beliebige, externe Meinung darstellen - aber auch daran kann und sollte ein Autor sich zu reiben bereit sein :)
 
R

Rote Socke

Gast
Ja marc,

irgendwie tat ich mich schwer mit dieser Aufgabe. Vielleicht habe ich die Aufgabenstellung zu verbissen gesehen. Aber aller Anfang ist schwer. Ich werde mich bemühen.

Es ist gut, dass diese Übung nur zweiwöchentlich stattfindet. Es braucht seine Zeit.

Schönen Gruss
Volkmar
 

Antaris

Mitglied
Lange Leitung

Hallo marc,

danke schön für Deinen Kommentar. Ich hatte eigentlich gehofft, dass der Leser spätestens anhand der Art und Weise, wie Signore Festa die Fotos mit seiner Freundin möbliert, was mit dem Kerle nicht stimmt. Anna ist in einer gewissen Weise begriffsstutzig. Sie merkt vieles erst viel später als der Leser, will auch vieles gar nicht wahr haben. Den Abschnitt, in dem sie es selbst spitz kriegt werde ich wirklich nochmal überarbeiten müssen.

"Fertig" ist der Text nur in dem Sinne, dass es ihn schon vor der Schreibaufgabe gab. Richtig fertig ist der Text wohl noch lange nicht, leider. Viele Texte von mir werden nie wirklich fertig, obwohl sie Anfang Mitte und Schluss haben, und das auch noch einigermaßen flüssig miteinander verbunden. Ich finde diese Übung ideal, um bestehende Text (-auszüge) in dieser Hinsicht zu überprüfen und überlege schon, welchen Abschnitt ich für die nächste Aufgabe nehme. Nette Charaktäre erscheinen einfacher für mich. :D

Meine Tippfehler sind natürlich ein Problem für mich. Leider bin ich auch kein Ortographieschenie, und weder ich noch sonstwer hat bisher meinen Rechner dazu gekriegt, dass er ein Korrekturprogramm annimmt. (Ich habe extra eins gekauft nachdem sich das normale Word Porgramm nicht aktivieren ließ - und es lief auch nicht) Ohne Korrekturprogramm bin ich aufgeschmissen, aber nach einer größeren Reparatur am Auto ist die Anschaffung eines neuen Rechners in weite Ferne gerückt. Ich bin schon froh, wenn ich Texte in die LL kopieren kann ohne dass der PC abstürzt.

Im übrigen verleihe ich Deiner Anja ein goldenes Ehren- T-Shirt mit dem extragroßen Schriftzug Zicke.

Mit feurigen Grüßen

Antaris
 
R

Rote Socke

Gast
Hallo marc,

ich vergaß Deine Story zu beurteilen.
Sorry, ich bin recht verwirrt. Die Story gefällt mir sehr. Sie ist in recht flottem und jugendlichem Schreibstil gehalten. Sie ist interessant und nie langweilig.

Was mich verwirrt: Ich raffe es einfach nicht die Schreibaufgabe weder in Deiner, meiner noch in Antaris Story zu erkennen. Vielleicht gelingt es mir in der 2. Aufgabe. Manchmal kann ich ganz schön auf der roten Leitung stehen!

Volkmar
 

ex-mact

Mitglied
Moin, Volkmar,

danke für Dein Lob - ich denke, daß die Hauptaufgabe bei dieser Übung darin besteht, sich als Autor GEDANKEN darum zu machen, wie bestimmte Charaktere darstellbar sind, so daß sie "echt" wirken. Als Autor weiss ich ja, wen ich beschreibe - aber kann ich diesen "jemand" so beschreiben, daß der Leser darin "seinen Archetypus" wiedererkennt?

Viele Autoren bedienen sich der Schablonen-Charaktere, die wir sattsam aus den unterschiedlichen Bereichen kennen - sie müssen daher ihre Figuren gar nicht mehr mit Leben füllen, das tut der Leser schon, wenn er bestimmte "Standard-Hinweise" bekommt. Ich möchte versuchen, mit dieser Aufgabenstellung Autoren dazu zu bringen, sich SELBST Gedanken zu machen über lebendige, wieder erkennbare Figuren - OHNE Standards zu verwenden.

Wie bei den "Fingerübungen" bleibt es den Autoren selbst überlassen, aus den hier veröffentlichten und besprochenen Texten etwas zu machen, eine Lehre zu ziehen. Ich möchte nur Anregungen geben und, nachdem jemand "angesprungen" ist, in eine (meine...) Richtung weiterschubsen. Mehr kann ich in diesem Rahmen nicht leisten :)
 
R

Rote Socke

Gast
OK,

ich versuch mal in dieser Richtung weiterzugehen.

Gruss und ein schönes Neues

Volkmar
 

Antaris

Mitglied
Dazugelernt

Hallo marc, hallo Volkmar,

danke schön, dass Ihr Euch über meinen Text Gedanken gemacht habt. Ich muss gestehen, dass ich bei marcs Text auch erst beim zweiten Lesen so richtig dahinter gestiegen bin was mit Anja los ist. Anfangs taktiert sie ja noch ziemlich subtil, als sie Kai zu der Veranstaltung lotst mit dem Argument, er könne sich den ganzen Abend mit Mike unterhalten. Dass sie sich während einer Pinkelpause an Mike ranschmeist, finde ich schon ziemlich heftig. Da muss wohl schon länger was am Kochen gewesen sein zwischen beiden. Die Dialoge haben mir das spontane Textverständnis nicht unbedingt erleichtert, aber ich glaube, das war Absicht.

Den Fiesling in Volkmars Text habe ich dafür gleich "gefressen". Gut, dass Volkmar darauf verzichtet, ihm auch noch eine erotische Anziehungskraft zuzuschreiben. Jetzt würde ich nur wissen, wie die Geschichte weitergeht, und was es auf der Ratssitzung gegeben hat. Volkmar, Du hast so ziemlich im verkehrten Moment aufgehört!

Lieber marc, Übungen dieser Art finde ich wirklich nützlich. Wenn sie vielleicht in Zukunft ohne Verfallsdatum (KW) sondern nach Charaktären geordnet(Held, Fiesling, verlassener Liebhaber, Schlampe, oder was auch immer uns Deine Eingebung bescheren mag) laufen könnten, werden sich vielleicht mehr Leute daran beteiligen.

Mit feurigen Grüßen

Antaris
 

ex-mact

Mitglied
Moin, Antaris,

ich habe Deine Anregung aufgegriffen und diese Übung mal als "beliebter Dünnbrettbohrer" betitelt.

Ein Verfallsdatum gibt es sicher nicht - alle diese Übungsvorschläge sind vor allem dazu da, den "lesenden Autor" zum Nachdenken anzuregen, ihn auf Komponenten eines guten Textes aufmerksam zu machen, die ihm sonst vielleicht abhanden kommen. Ich möchte nichts weiter als zum Denken und Experimentieren anregen - jeder muss seinen eigenen Stil und seine eigenen Prioritäten finden. Ich finde es aber sehr interessant und spannend, dabei zuzusehen, wie sich manche Autoren über einen Zeitraum hinweg ändern... und wenn ich, im positiven Sinne, dazu beitragen kann, habe ich mein Ziel erreicht - auch, wenn nur ein oder zwei Autoren diese "Spielchen" annehmen und die anderen sie als (O-Ton!) "albernen Pipifax" abtun.
 

Antaris

Mitglied
nächster Versuch

Hallo marc,

das wäre total schlimm wenn Autoren sich nie änderten und jahrein, jahraus den gleichen Brei verzapften. Einige schaffen das und einzelne sogar ganz erfolgreich. Hoffentlich fällt mir noch viel neues ein, der Rest muss halt in kleinen Schritten kommen.

In meiner Geschichte ist es mir schon wichtig, den Leser entsprechend vorzuwarnen ehe der schöne Lorenzo sein Gift verspritzt, also habe ich die Textpassage nochmal überarbeitet:

„Wenn du nach Modena willst kannst du gerne mit mir fahren.“ Signore Festa.ließ die Scheibe an der Fahrerseite herunter und öffnete die Beifahrertür.

Zunächst zögerte ich. Nach Gabriella Gastoldis freimütigem Bekenntnis wollte ich ihr nicht unbedingt unter die Augen treten, ich konnte mir auch nicht vorstellen in Madame Parettis Wagen zu steigen, aber mehr Auswahl an Mitfahrgelegenheiten hatte ich offensichtlich nicht, daher bedankte ich mich und stieg in den Wagen.

„Nenn mich ruhig Lorenzo“, forderte er mit einem breiten Lächeln. Aha, der Herr Konzertmeister, der sich sonst eher stolz und förmlich gibt, wird plötzlich leutselig, oder hat er nur einen guten Tag erwischt? Er gab sich erstaunlich gesprächig, erzählte sogar einen Bratschistenwitz und ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte. Ich fühlte mich nicht wohl in seiner Gegenwart, warum eigentlich?

Er sah blendend aus, wie immer. Frisch gewaschen und lackiert federten die schwarzen Locken in jeder Kurve um seinen kräftigen Nacken. Seine Statur ließ eher auf einen sieggewohnten Leistungssportler schließen als auf einen zart besaiteten Künstler. Die schwarze Hose und das weiße Hemd standen ihm ausgesprochen gut. Zumindest das Hemd würde er vor dem Auftritt gegen ein frisches austauschen. Sein Erscheinungsbild pflegte er sehr penibel, und bestimmt war er imstande, sich noch „Joop“ oder irgendetwas anderes Teueres zwischen die Zehen zu tropfen. Im gesamten Innenraum des Autos haftete ein leichter, nicht näher definierbarer Duft von Herrenparfüm.

Als die Sonne von der Fahrerseite her auf das Auto brannte schaltete Signore Festa die Klimaanlage ein. Ich dachte an das wertvolle Gut im Kofferraum. Hin und wieder sprachen die anderen Musiker von der Violine, die zwar nicht aus Strativaris Werkstatt, aber von einem anderen barocken Meister stammte, und von dem Geigenbogen, der vermutlich teuerer als das Auto war. Von dem Gerede bekam Signore Festa wenig mit, denn er hasste es, als Sohn reicher Eltern bezeichnet zu werden.

Wir waren noch nicht einmal auf der Autobahn und Signore Festa redete und redete. Ich versuchte, mich mit der einen oder anderen höflichen Bemerkung aus der Affäre zu ziehen und war zufrieden, solange er nicht auf Marco zu sprechen kam. Zwar redete er ihn stets mit Maestro Prodi an, aber damit endete schon sein Respekt vor seinem direttore und ich war mirsicher, er würde sich eher ein Stück von seiner verwöhnten Zunge abbeißen als ein freundliches Wort über ihn zu verlieren.

Wenn ein Geigensolo anstand ließ Signore Festa sich selbst gerne Maestro nennen und ich fragte ihn, ob er sich vorstellen könne, selbst Dirigent zu sein.

Signore Festa funkelte mich aus den Augenwinkeln an. „Momentan nicht“, preßte er hervor und stieg mit voller Kraft auf das Bremspedal. Ein Kleinwagen aus Osteuropa hatte sich in die falsche Spur vor der Mautstation eingeordnet und seinen Irrtum abrupt korrigiert. Grimmig zuckten die kräftigen Augenbrauen, aber der Meister selbst enthielt sich eines Kommentars. Kultivierte Leute fluchen nicht so leicht.

Vom Rücksitz kullerte eine elegante Ledermappe und ergoß ihren Inhalt auf den Boden hinter dem Fahrersitz. Spontan drehte ich mich um und griff nach dem Wirrwarr aus drucheinander gepurzelten Noten und anderen Papieren. „Wenn du magst kannst dir die Fotos ruhig anschauen“, sagte er und fuhr weiter.

Die beiden Päckchen mit Fotoarbeiten lagen unter den anderen Papieren. Ich öffnete die erste Tüte und ließ die Abzüge durch meine Hände gleiten. Die auffallend gut aussehnde Frau, die nach den Konzerten manchmal auf den Konzertmeister wartete wirkte auf den Fotos fast noch beeindruckender als in natura. „Schöne Fotos, Signore Festa“, bemerkte ich artig.

„Lorenzo“, korrigierte er mit einem breiten Lächeln und strich mit einer Hand durch seine Lockenpracht. Die beiden Kronen über den Schneidezähnen im Oberkiefer waren so sorgfältig gearbeitet dass sie fast nicht auffielen. „Fotografieren ist mein Hobby,“ ergänzte er , „und die Frau meine Verlobte.“

Letzteres wußte ich längst, auch dass sie wie Signore Festa achtundzwanzig Jahre alt war, und bald über internationales Recht zu promovieren gedachte. Musiker sind nicht weniger schwatzhaft als andere Leute und wenn ich gerade nicht da war zerrissen sich vermutlich alle Musiker weit und breit ihre Mäuler über die bekloppte Ausländerin, welche sich dem alten Prodi an den Hals warf obwohl sie nicht einmal Musikerin war.

Die Motive in der anderen Tüte unterschieden sich kaum von denen der ersten Tüte obwohl sich Signore Festa viel Mühe gegeben hatte, alles möglichst künstlerisch aussehen zu lassen. Mal exklusiv, mal eher spärlich bekleidet posierte die Schöne auf diversen Möbelstücken, schüttelte ihre blondierte Mähne während der Hobbyfotograf mit Perspektiven und Belichtungsvariationen experimentierte. Das Ergebnis waren beklemmend kühle, fast leblos wirkende Bildkonstrukte. Verschlossen und manchmal herablassend blickte Signore Festas Verlobte auf die Kamera oder vor sich hin. Verglichen mit dieser Superfrau war ich bestenfalls eine graue Maus, fünf Jahre älter als er und mindestens zwei Kleidergrößen breiter als sie, warum also schielte Signore Festa wieder zu mir hinüber?

Nein, Männer schauen Frauen normalerweise anders an. Sie taxieren sie nicht wie einen Gebrauchsgegenstand.

Ich wandte mich wieder den Fotos zu, betrachtete die zukünftige Doktorin der Rechte auf einer mageren Wiese liegend wie ein vergessenes Kleidungsstück. Die Szenerie strahlte ungefähr so viel Romantik aus wie ein Formular für eine Steuererklärung. Plötzlich graute mir vor Signore Festa, vor seiner von vordergründlicher Freundlichkeit durchwebten Konversation, seinem schalen Humor und seinen von nüchternem Pragmatismus geprägten Gesten. In nichts was er tat lag eine erkennbare Form von Zuneigung. Nicht einmal sein Geigenspiel ließ nennenswerte Seelenregungen geschweige denn Leidenschaft in seinem Gesicht spiegeln. Wenn ihm eine Griffkombination oder ein ganzes Musikstück mißfiel mochte er verdrießlich seine Augen zusammenkneifen, aber sein großzügig verteiltes Lächeln setzte er auf wie einen geliehenen Hut.

Mich beunruhigte die Vorstellung, dass er seine Verlobte mit der gleichen Nüchternheit wie mich betrachtete.

Vermutlich gab er nicht einmal einen stummen Furz ohne berechnende Vorüberlegung von sich. Aus purer Menschenfreundlichkeit hatte er mich bestimmt nicht mitgenommen, welche Rolle hatte er mir zugedacht?
 

ex-mact

Mitglied
Moin, Antaris,

ich finde die Passage nun recht gelungen, man merkt aber auch deutlich, daß es sich um einen Ausschnitt einer längeren Erzählung handelt: in der Szene alleine werden weder Lorenzo noch der/die Erzähler/in wirklich lebendig. Andererseits wirken beide "echt", d.h. ich habe den Eindruck, Du (als Autor) weisst genau, wer oder wie die beiden sind. Und das überzeugt den Leser.

Eine andere "Kleinigkeit" fiel mir beim erneuten Lesen auf: eine Szene sollte, folgt man den gängigen "Regeln", immer etwas aussagen: einen Charakter (deutlich) beleuchten, eine Aktion begründen, die Handlung voranbringen. Da der Zusammenhang mit "dem Rest" fehlt, ist die von Dir hier geschriebene Szene losgelöst und lässt den Leser mit einem Fragezeichen zurück: um was geht es (bzw: was daran ist für mich interessant)?
 

Antaris

Mitglied
Wie es weiter geht

Hallo,

ein paar Seiten später hat Marco kräftig Mist gebaut und Anna sitzt wieder im gleichen Auto. Nun wird sie auf ziemlich fiese Weise auf eine Tatsache gestoßen, von der sie lieber nichts gewußt hätte. Im Laufe der weiteren Geschichte wird Lorenzo sie in Ruhe lassen - er vergreift sich ohnehin nur an Schwächeren und auch nur so dass seine Rolle für Außenstehende nicht zu offensichtlich wird - und sich auf sein eigentliches Hassobjekt konzentrieren.



Ich hätte mich ohrfeigen können dass ich versäumt hatte, mich nach einer anderen Mitfahrgelegenheit zu erkundigen.

Eisern schweigend starrte Signore Festa durch die Windschutzscheibe während sein Auto im gleichmäßigen Tempo über die Autobahn rollte.

„Entschuldigung falls ich eine dumme Frage stelle, aber was genau ist eigentlich passiert?“

Signore Festa ließ sich einen tiefen Atemzug Zeit mit der Antwort. „Das Tempo war ungefähr doppelt so schnell als von Rossini beabsichtigt“, erklärte er in jenem gütigen Tonfall in dem Erwachsene Kindern das Universum erklären.

„Schlimm“. Ich versuchte, in meine Stimme das richtige Maß Mitgefühl zu legen.

„Damit muss man rechnen.“ Signore Festas Stimme klang gelassen. Im indirekten Scheinwerferlicht der Fahrzeuge auf der entgegengesetzten Fahrbahn bekamen seine zusammengepressten Lippen einen grostesk verhärmten Ausdruck. „Von Zeit zu Zeit gehen bei Maestro Prodi eben ein bisschen die Gäule durch“, ergänzte er und funkelte mich aus den Augenwinkeln an.

Finster vor sich hinschweigen krallte sich Signore Festa hinter das Lenkrad. Am Horizont war das letzt Abendrot verloschen. Ich beobachtete die giftgrün leuchtenden Ziffern der Digitaluhr am Amaturenbrett, und rechnete mir aus, dass ich wahrscheinlich gerade noch den letzten Buss erwischen konnte wenn Signore Festa das Tempo beibehielt, dann bog er in die Einfahrt einer Raststätte.

„Höchste Zeit zum Essen“, bemerkte er als er das Auto auf dem Parkplatz abgestellt hatte, „willst du nichts?“

„Ich bin nur müde. Lass mich hier.“Ich öffnete die Tür, streckte meine Beine, und sah Signore Festas Silhouette aus dem spärlichen Licht der Parkplatzbeleuchtung verschwinden. Hoffentlich blieb er für eine Weile weg! Merkwürdigerweise kam mir das Lied ohne Noten in den Sinn, welches Marco mich singen lassen wollte. Die Sehnsucht nach den sonnendurchfluteten Nachmittagen unter den Pinien wuchs als seien sie in unerträglich weite Ferne gerückt. Was tat Marco gerade? Hoffentlich hatte jemand an ihn gedacht und ihm eine gute Portion Krabbensalat gesichert. Er selbst würde nicht zum Buffet gehen. Weiß jemand außer mir dass er furchtbar gerne frische Gamberetti ißt, interessiert es irgendwen außer mir?

Eine Papiertüte die lauwarm auf meinen Schoß plumpste riß mich aus meinen Gedanken.

„Ich kann doch keine junge Frau zuschauen lassen wenn ich esse.“ Da war es wieder, das aufgesetzte Lächeln .

Nichts Gutes ahnend öffnete ich die Tüte. Hätte er vorher gefragt hätte ich ihm erklären können dass ich keine Hamburger mag. „Nett“, sagte ich nur.

„Ist was?“

„Vielen Dank, aber ich habe wirklich keinen Hunger.“

„Aber wenigstens einen Kaffee darf es sein, oder?“

Ich nickte. „Das ist eine gute Idee.“

Mit einer weiteren Papiertüte unter einem Arm zwei randvolle Pappbecher Kaffee balancierend wirkte Signore Festa keineswegs elegant. Ich bedankte mich für den Becher, den er mir reichte, rührte mit einem arg dünnen Plastiklöffel Zucker in die schwarze Brühe und verbrannte mir fast die Lippen als ich am Becherrand nippte.

Eilig verschlang Lorenzo Festa seinen Hamburger, und ließ den heißen Kaffe durch seine Kehle rinnen. "Beschließen wir den Abend besser als er angefangen hat", sprach er, packte seine Geige aus und stimmte eine lebhafte Melodie an. Wir befanden uns ziemlich am hinteren Ende des Parkplatzes. Ich fand, der Herr Konzertmeister gab eine merkwürdige Figur ab als Stehgeiger mit dem dumpfen Dröhnen vorrüberrauschender Fahrzeuge im Rücken. Am Treppenaufgang zur Raststätte lärmte eine Gruppe Jugendlicher. Der Geigenbogen tanzte ausgelassen auf den vibrierenden Saiten, alleine Signore Festas verkniffene Mine passte nicht recht zu der überschäumend temeramentvollen Musik.
Wie ein unangemessen kostbares Juwel setzte er den letzten Ton in die abgasduchsetzte Nachtluft, dann erstarrte in seinen Bewegungen für einen Augenblick zu einer düsteren Skulptur. Nur seine Augen rollten beifallheischend hin und her.

„Schön“, sagte ich.

Signore Festas Augenbrauen zuckten. Was habe ich nun schon wieder falsch gemacht?

„Wirklich sehr schön“, bestätigte ich.

Signore Festa verzog keine Mine. „So muss man Paganini spielen, mindestens“, erklärte er und nahm die Geige wieder auf, „aber ich kann auch anders.“

Diesmal floß eine zarte, verträumte Melodie aus den Saiten.

„Dieses Stück aus der Oper Thais kennst du wahrscheinlich“, bemerkte er.

Lag ein herablassender Unterton in seinem Kommentar? Mit meinem maximal acht Wochen alten musikalischen Fachwissen wollte ich mich auf keine Expertendiskussion einlassen. „Wunderbar“, gestand ich. „Ich würde mir gerne auch den Rest der Oper anhören, aber findest Du nicht auch dass es reichlich spät ist? Wir haben fast Mitternacht. Wollen wir uns nicht langsam auf den Heimweg machen?“

Völlig entgeistert ließ er sein Instrument sinken. „Heim?“ hauchte er und selbst im fahlen Licht der Parkplatzlampen war die Zornesröte nicht zu übersehenen, die in Signore Festas Gesicht schoss.

„Bist nichts Gutes gewohnt, aber willst mir sagen wann ich was zu tun habe?“ zischte er und dann ging alles rasend schnell. Eine Hand griff schmerzhaft in meinen Nacken, beugte meinen Oberkörper nieder, eine Hand hielt meine Arme einigermaßen ruhig, eine Hand riss den Reißverschluss der schwarzen Hose auf...

Kein Mann kann so viele Hände haben, auch nicht Signore Festa!

Ich bekam also meinen Kopf frei, ich versuchte, mich nach oben zu drehen, und hätte Signore Festa kaum wieder erkannt. Blanker Hass loderte über sein Gesicht.

Diesmal griff die Hand noch schmerzhafter in meinem Nacken. „Himmelst den Alten an wie das achte Weltwunder“, keuchte er, „ausgerechnet diese Nullnummer, die nichts als Mist baut!“

In Augenhöhe quoll mir der Schwanz des Obergeigers entgegen. Verletzter Stolz, gekränkte Eitelkeit und ungezügelter Hass, merkwürdig, von welchen Gefühlen körperliche Reaktionen getrieben werden können. Leicht käsig riechend stemmte sich Signore Festas Schwanz gegen die Schwerkraft. An der Raststätte heulten Motorräder auf.

„Komm, Mädchen, das kann doch nicht so schwer sein.“ Fast lag etwas Zärtliches in seiner Stimme.

Sie haben einen Riesendachschaden, Maestro Festa!

Die Erkenntnis nützte mir nichts denn seine Finger drückten so sehr auf meinen Kehlkopf dass ich ihm meine Meinung nicht einmal röcheln konnte.Eisern hielt die andere Hand meine Handgelenke.Von der anderen Seite schwenkten Scheinwerferlichtkegel über den Parkplatz aber das Auto bog nicht in diese Gasse.

Ruhig, ruhig, beschwichtigte die Vernunft, es geht hier gar nicht um dich.

Dennoch fand ich meine Lage äußerst unangenehmen. Daumen und Zeigefinger schmiegten sich trügerisch harmlos an meinen Unterkiefer und formulierten nachdrücklich Signore Festas Anliegen.

Nein, ich muss die Eier erwischen. Wenn es klappt wird er sich in Zukunft stärker auf das Musizieren konzentrieren müssen.

Er schlägt mich zu Brei!

Die Geschprächsfetzen, die an meine Ohren drangen hielt ich für eine Sinnestäuschung.

Signore Festas Griff in meinem Nacken wurde unerträglich."Wenn du absolut nicht willst dann musst du es eben diesem Komiker besorgen, der sich für ein verhindertes Musikgenie hält - diesem Säufer!" Bei aller Gehässigkeit sprach er seine Worte auffallend langsam, fast genüßlich aus, und dann schleuderte mich herum. Unsanft fiel ich auf den Beifahrersitz. Die Autotüren fielen wie von selbst zu. Ohne Eile drehte Signore Festa den Zündschlüssel um und manöverierte das Auto aus der Parkbucht. Vorne im Scheinwerferlicht tauchte kurz ein junges Paar mit einem Kleinkind auf. Der Mann zog die Autoschlüssel aus seiner Hosentasche. Vorsichtig gab Signore Festa Gas, und mir wurde übel als habe ich Gift geschluckt. Signore Festas Schweiß stieg mir beißend scharf in die Nase. Ich schloss meine Augen, sah Signore Festas Schwanz, und öffnete meine Augen wieder. Das Gift wirkte schon sehr gut. Marco soll ein Säufer sein? So werden Leute eben bezeichnet, die solche Mengen an Alkohol vernichten können wie Marco es fertig bringt, belehrte mich die Vernunft.

Ich will keinen Säufer, zumindest will ich nichts davon wissen!

Längst wissen es alle außer Dir.

Ich will, dass du dich nie wieder in meine Angelegenheiten mischst.

Ich beugte mich vornüber.

"Hey, bitte nicht in mein Auto!" Ohne einen Blinker zu setzen riss er das Steuer herum und erwischte gerade noch die Abzweigung. Abhauen, dachte ich als sich die Beifahrertüre öffnete, sofort abhauen!

Meine Knie sackten zusammen als ich versuchte, aufzustehen. Geradezu fürsorglich stützten mich seine penibel gepflegten Hände. Ich würgte und spie Kaffee und Galle. Signore Festa hielt mich gerade so fest wie unbedingt erforderlich. Er hatte mich in seiner Gewalt. Ich würgte noch einmal.

"Das...tut mir jetzt richtig leid, glaub mir", stammelte Signore Festa. "Ich hätte nicht gedacht, dass dir das so viel ausmacht."

Ich will bestimmt nicht wissen was du denkst.

Das Gift wirkte weiter. Im Auto verlor ich den Rest meines Zeitgefühls. Ungefragt brachte Signore Festa mich in jene Seitengasse in der Gabriella Gastoldi sonst auch immer hielt.

"Na komm, ist doch nichts passiert", sagte Signore Festa.

Wasch dich wenigstens untenherum, dachte ich als er davon fuhr. Sagen konnte ich nichts.

Marco ist ein Säufer.

:(

Mit feurigen Grüßen

Antaris
 



 
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