Wie es weiter geht
Hallo,
ein paar Seiten später hat Marco kräftig Mist gebaut und Anna sitzt wieder im gleichen Auto. Nun wird sie auf ziemlich fiese Weise auf eine Tatsache gestoßen, von der sie lieber nichts gewußt hätte. Im Laufe der weiteren Geschichte wird Lorenzo sie in Ruhe lassen - er vergreift sich ohnehin nur an Schwächeren und auch nur so dass seine Rolle für Außenstehende nicht zu offensichtlich wird - und sich auf sein eigentliches Hassobjekt konzentrieren.
Ich hätte mich ohrfeigen können dass ich versäumt hatte, mich nach einer anderen Mitfahrgelegenheit zu erkundigen.
Eisern schweigend starrte Signore Festa durch die Windschutzscheibe während sein Auto im gleichmäßigen Tempo über die Autobahn rollte.
„Entschuldigung falls ich eine dumme Frage stelle, aber was genau ist eigentlich passiert?“
Signore Festa ließ sich einen tiefen Atemzug Zeit mit der Antwort. „Das Tempo war ungefähr doppelt so schnell als von Rossini beabsichtigt“, erklärte er in jenem gütigen Tonfall in dem Erwachsene Kindern das Universum erklären.
„Schlimm“. Ich versuchte, in meine Stimme das richtige Maß Mitgefühl zu legen.
„Damit muss man rechnen.“ Signore Festas Stimme klang gelassen. Im indirekten Scheinwerferlicht der Fahrzeuge auf der entgegengesetzten Fahrbahn bekamen seine zusammengepressten Lippen einen grostesk verhärmten Ausdruck. „Von Zeit zu Zeit gehen bei Maestro Prodi eben ein bisschen die Gäule durch“, ergänzte er und funkelte mich aus den Augenwinkeln an.
Finster vor sich hinschweigen krallte sich Signore Festa hinter das Lenkrad. Am Horizont war das letzt Abendrot verloschen. Ich beobachtete die giftgrün leuchtenden Ziffern der Digitaluhr am Amaturenbrett, und rechnete mir aus, dass ich wahrscheinlich gerade noch den letzten Buss erwischen konnte wenn Signore Festa das Tempo beibehielt, dann bog er in die Einfahrt einer Raststätte.
„Höchste Zeit zum Essen“, bemerkte er als er das Auto auf dem Parkplatz abgestellt hatte, „willst du nichts?“
„Ich bin nur müde. Lass mich hier.“Ich öffnete die Tür, streckte meine Beine, und sah Signore Festas Silhouette aus dem spärlichen Licht der Parkplatzbeleuchtung verschwinden. Hoffentlich blieb er für eine Weile weg! Merkwürdigerweise kam mir das Lied ohne Noten in den Sinn, welches Marco mich singen lassen wollte. Die Sehnsucht nach den sonnendurchfluteten Nachmittagen unter den Pinien wuchs als seien sie in unerträglich weite Ferne gerückt. Was tat Marco gerade? Hoffentlich hatte jemand an ihn gedacht und ihm eine gute Portion Krabbensalat gesichert. Er selbst würde nicht zum Buffet gehen. Weiß jemand außer mir dass er furchtbar gerne frische Gamberetti ißt, interessiert es irgendwen außer mir?
Eine Papiertüte die lauwarm auf meinen Schoß plumpste riß mich aus meinen Gedanken.
„Ich kann doch keine junge Frau zuschauen lassen wenn ich esse.“ Da war es wieder, das aufgesetzte Lächeln .
Nichts Gutes ahnend öffnete ich die Tüte. Hätte er vorher gefragt hätte ich ihm erklären können dass ich keine Hamburger mag. „Nett“, sagte ich nur.
„Ist was?“
„Vielen Dank, aber ich habe wirklich keinen Hunger.“
„Aber wenigstens einen Kaffee darf es sein, oder?“
Ich nickte. „Das ist eine gute Idee.“
Mit einer weiteren Papiertüte unter einem Arm zwei randvolle Pappbecher Kaffee balancierend wirkte Signore Festa keineswegs elegant. Ich bedankte mich für den Becher, den er mir reichte, rührte mit einem arg dünnen Plastiklöffel Zucker in die schwarze Brühe und verbrannte mir fast die Lippen als ich am Becherrand nippte.
Eilig verschlang Lorenzo Festa seinen Hamburger, und ließ den heißen Kaffe durch seine Kehle rinnen. "Beschließen wir den Abend besser als er angefangen hat", sprach er, packte seine Geige aus und stimmte eine lebhafte Melodie an. Wir befanden uns ziemlich am hinteren Ende des Parkplatzes. Ich fand, der Herr Konzertmeister gab eine merkwürdige Figur ab als Stehgeiger mit dem dumpfen Dröhnen vorrüberrauschender Fahrzeuge im Rücken. Am Treppenaufgang zur Raststätte lärmte eine Gruppe Jugendlicher. Der Geigenbogen tanzte ausgelassen auf den vibrierenden Saiten, alleine Signore Festas verkniffene Mine passte nicht recht zu der überschäumend temeramentvollen Musik.
Wie ein unangemessen kostbares Juwel setzte er den letzten Ton in die abgasduchsetzte Nachtluft, dann erstarrte in seinen Bewegungen für einen Augenblick zu einer düsteren Skulptur. Nur seine Augen rollten beifallheischend hin und her.
„Schön“, sagte ich.
Signore Festas Augenbrauen zuckten. Was habe ich nun schon wieder falsch gemacht?
„Wirklich sehr schön“, bestätigte ich.
Signore Festa verzog keine Mine. „So muss man Paganini spielen, mindestens“, erklärte er und nahm die Geige wieder auf, „aber ich kann auch anders.“
Diesmal floß eine zarte, verträumte Melodie aus den Saiten.
„Dieses Stück aus der Oper Thais kennst du wahrscheinlich“, bemerkte er.
Lag ein herablassender Unterton in seinem Kommentar? Mit meinem maximal acht Wochen alten musikalischen Fachwissen wollte ich mich auf keine Expertendiskussion einlassen. „Wunderbar“, gestand ich. „Ich würde mir gerne auch den Rest der Oper anhören, aber findest Du nicht auch dass es reichlich spät ist? Wir haben fast Mitternacht. Wollen wir uns nicht langsam auf den Heimweg machen?“
Völlig entgeistert ließ er sein Instrument sinken. „Heim?“ hauchte er und selbst im fahlen Licht der Parkplatzlampen war die Zornesröte nicht zu übersehenen, die in Signore Festas Gesicht schoss.
„Bist nichts Gutes gewohnt, aber willst mir sagen wann ich was zu tun habe?“ zischte er und dann ging alles rasend schnell. Eine Hand griff schmerzhaft in meinen Nacken, beugte meinen Oberkörper nieder, eine Hand hielt meine Arme einigermaßen ruhig, eine Hand riss den Reißverschluss der schwarzen Hose auf...
Kein Mann kann so viele Hände haben, auch nicht Signore Festa!
Ich bekam also meinen Kopf frei, ich versuchte, mich nach oben zu drehen, und hätte Signore Festa kaum wieder erkannt. Blanker Hass loderte über sein Gesicht.
Diesmal griff die Hand noch schmerzhafter in meinem Nacken. „Himmelst den Alten an wie das achte Weltwunder“, keuchte er, „ausgerechnet diese Nullnummer, die nichts als Mist baut!“
In Augenhöhe quoll mir der Schwanz des Obergeigers entgegen. Verletzter Stolz, gekränkte Eitelkeit und ungezügelter Hass, merkwürdig, von welchen Gefühlen körperliche Reaktionen getrieben werden können. Leicht käsig riechend stemmte sich Signore Festas Schwanz gegen die Schwerkraft. An der Raststätte heulten Motorräder auf.
„Komm, Mädchen, das kann doch nicht so schwer sein.“ Fast lag etwas Zärtliches in seiner Stimme.
Sie haben einen Riesendachschaden, Maestro Festa!
Die Erkenntnis nützte mir nichts denn seine Finger drückten so sehr auf meinen Kehlkopf dass ich ihm meine Meinung nicht einmal röcheln konnte.Eisern hielt die andere Hand meine Handgelenke.Von der anderen Seite schwenkten Scheinwerferlichtkegel über den Parkplatz aber das Auto bog nicht in diese Gasse.
Ruhig, ruhig, beschwichtigte die Vernunft, es geht hier gar nicht um dich.
Dennoch fand ich meine Lage äußerst unangenehmen. Daumen und Zeigefinger schmiegten sich trügerisch harmlos an meinen Unterkiefer und formulierten nachdrücklich Signore Festas Anliegen.
Nein, ich muss die Eier erwischen. Wenn es klappt wird er sich in Zukunft stärker auf das Musizieren konzentrieren müssen.
Er schlägt mich zu Brei!
Die Geschprächsfetzen, die an meine Ohren drangen hielt ich für eine Sinnestäuschung.
Signore Festas Griff in meinem Nacken wurde unerträglich."Wenn du absolut nicht willst dann musst du es eben diesem Komiker besorgen, der sich für ein verhindertes Musikgenie hält - diesem Säufer!" Bei aller Gehässigkeit sprach er seine Worte auffallend langsam, fast genüßlich aus, und dann schleuderte mich herum. Unsanft fiel ich auf den Beifahrersitz. Die Autotüren fielen wie von selbst zu. Ohne Eile drehte Signore Festa den Zündschlüssel um und manöverierte das Auto aus der Parkbucht. Vorne im Scheinwerferlicht tauchte kurz ein junges Paar mit einem Kleinkind auf. Der Mann zog die Autoschlüssel aus seiner Hosentasche. Vorsichtig gab Signore Festa Gas, und mir wurde übel als habe ich Gift geschluckt. Signore Festas Schweiß stieg mir beißend scharf in die Nase. Ich schloss meine Augen, sah Signore Festas Schwanz, und öffnete meine Augen wieder. Das Gift wirkte schon sehr gut. Marco soll ein Säufer sein? So werden Leute eben bezeichnet, die solche Mengen an Alkohol vernichten können wie Marco es fertig bringt, belehrte mich die Vernunft.
Ich will keinen Säufer, zumindest will ich nichts davon wissen!
Längst wissen es alle außer Dir.
Ich will, dass du dich nie wieder in meine Angelegenheiten mischst.
Ich beugte mich vornüber.
"Hey, bitte nicht in mein Auto!" Ohne einen Blinker zu setzen riss er das Steuer herum und erwischte gerade noch die Abzweigung. Abhauen, dachte ich als sich die Beifahrertüre öffnete, sofort abhauen!
Meine Knie sackten zusammen als ich versuchte, aufzustehen. Geradezu fürsorglich stützten mich seine penibel gepflegten Hände. Ich würgte und spie Kaffee und Galle. Signore Festa hielt mich gerade so fest wie unbedingt erforderlich. Er hatte mich in seiner Gewalt. Ich würgte noch einmal.
"Das...tut mir jetzt richtig leid, glaub mir", stammelte Signore Festa. "Ich hätte nicht gedacht, dass dir das so viel ausmacht."
Ich will bestimmt nicht wissen was du denkst.
Das Gift wirkte weiter. Im Auto verlor ich den Rest meines Zeitgefühls. Ungefragt brachte Signore Festa mich in jene Seitengasse in der Gabriella Gastoldi sonst auch immer hielt.
"Na komm, ist doch nichts passiert", sagte Signore Festa.
Wasch dich wenigstens untenherum, dachte ich als er davon fuhr. Sagen konnte ich nichts.
Marco ist ein Säufer.
Mit feurigen Grüßen
Antaris