Ich weiß nicht, warum – ich weiß nur, dass
(1991)
Melinda
Ich wünschte, dieses Mädchen wäre eine Geschichte. Eine Geschichte in meinem Leben. Dann könnte ich sie aufschreiben.
Aber Melinda ist keine Geschichte. Sie ist kaum mehr als ein Bild. Ein wunderschönes Bild. Das sah ich auf den ersten Blick. Sofort, als sie eintrat. Vielleicht fühlte ich es auch. Ich weiß nicht mehr genau.
Ich weiß nicht, wer vor ihr war. Irgendwer. Vielleicht jemand von dem Typ, der ewig in seiner Tasche kramt, ehe er sich soweit gesammelt hat, daß ich mit dem Testat beginnen kann. Oder einer, der unschlüssig dasteht und dem ich ausdrücklich den Stuhl mir gegenüber anbieten muß, ehe er sich setzt. Irgendwelche Studenten, die mit einer Nummer kommen und erst mit Namen und Gesicht da sind, wenn sie schon wieder gehen.
Melinda war sofort da. Nicht, weil sie so laut gewesen wäre. Im Gegenteil. Sie wirkte still und fremd. Wie man in anderer Leute Wohnung fremd ist. Ich hatte das Bedürfnis, das Mädchen bei der Hand zu nehmen und sie willkommen zu heißen. So als hätte ich nur auf sie gewartet. Auf dieses Gesicht. Auf dem zu Anfang mädchenhafte Scheu lag. Das so sanft wirkte. So weich gezeichnet. Wer dieses Gesicht mit spitzer Feder darzustellen sucht, hat schon verloren.
Ich habe eine Devise: Ich will keine Routine in meinen Fragen. Natürlich gibt es sie, aber ich versuche, sie zu brechen. Indem ich stur auswendig Gepauktes aufspüre und nachhake, korrigiere, präzisiere. Zusammenhänge zeige. Ich möchte, daß der Student hinterher sagt: Ich bin bei dem Testat klüger geworden. Dazu muß ich konzentriert zuhören.
Ich habe also Melinda zugehört. Ich habe dem Klang ihrer Stimme gelauscht. Er war samten. Wie ihre Haut. Weich wie ihr Haar, das braun mit rötlichem Schimmer in krauser Fülle ihr Gesicht rahmt. Melinda streicht es ab und zu mit einer verhaltenen Bewegung aus der Stirn. Es fällt immer wieder zurück. Ich bemerkte mich lächeln. Wie man jemand anderes lächeln spürt. Das rief mich zur Ordnung. Ich wandte mich wieder Melindas Worten zu. Und den Notizen, die sie auf das Blatt schrieb.
Ich brauche das. Notizen. Ich bin ein optischer Typ. Es irritiert mich, wenn jemand auf meine Fragen antwortet, ohne etwas zu schreiben oder zu zeichnen. Dann übernehme ich das. Doch die meisten halten sich gern selbst am Stift fest.
Ich fand mich schnell wieder in den Stoff. Stellte eine Zwischenfrage, die ich immer dort stelle. Melinda schaute auf.
Ihr Blick traf mich.
Ihr Blick traf mich, ehe ich mich dagegen wappnen konnte. Er knipste meine Gedanken aus wie eine Taschenlampe. Da blieb nur dieses tiefe, unergründliche, glühende Schwarz von Melindas Augen. Augen, in denen die ganze Welt liegt. Augen, die all das halten, was meine Phantasie mir je versprach.
Und dann nahm Melinda diesen Blick zurück.
Melinda nahm diesen Blick zurück, einfach so, ohne Mühe. Sie ahnte nicht, wie tief er mich erschüttert hatte. Melinda nahm diesen Blick zurück, und ich klaubte meine Gedanken aus allen Ecken des Universums zusammen.
Sie sprach. Ich korrigierte sie. Fragte nach. Ich schaffte es, mich auf das Fachliche zu konzentrieren. Versteckte mich dahinter. Ich sah nur manchmal heimlich in ihr Gesicht. Betrachtete den kleinen Mund, der sanft geschwungen ist und wie mit Seide bezogen. Man möchte ihn berühren, um sich von seiner Realität zu überzeugen. Ich dachte dabei - keine Ahnung warum - an eine dunkelrote Rosenknospe. Wirklich!
Ich bemerkte nicht sofort, daß das Mädchen einen Fehler gemacht hatte. Ich versuchte, ihr einen neuen Ansatzpunkt zu geben. Ich hörte mich wirres Zeug reden, mußte eine kleine Pause machen, um den Faden wiederzufinden, und schalt mich einen Idioten, daß ich mich so verlieren konnte.
Was mich nicht daran hinderte, auch in den weiteren drei Testaten Melindas Blick zu provozieren. Nur um mir zu beweisen, daß diese Augen ganz normale Augen wären. Und später - als ich mich abgeklärter glaubte -, um zu ergründen, woher sie ihre magische Kraft nahmen.
Ich habe dem Blick nie standgehalten.
Nach Melinda gab es viele. Peter zum Beispiel, dessen Lächeln mich aus dem Konzept brachte. Andreas, von dem ich bis heute nicht weiß, wieso ich mir sicher bin, daß ich ihn hätte lieben können.
Melinda aber ist das größte Wunder, das mir je begegnete. Zart, leise, von einer ruhigen Kraft erfüllt - wie ein stetiges wärmendes Feuer.
Unauslöschlich.