“Child In Time” oder die Vogelspinne

GerRey

Mitglied
Aus “Mot der Rocker” (Romanfragment).

Das Ufercafe lag am Rand eines riesigen Schotterteiches, den man als Freibad nutzte, nachdem das Schottervorkommen abgebaut worden war. So kamen immer wieder viele Badegäste aus der näheren und ferneren Umgebung, von denen viele auch gerne auf der Terrasse des Ufercafes saßen, um etwas zu trinken oder zu essen und dabei einen schönen Ausblick auf den Teich zu haben. Und Abends, wenn die Sonne untergegangen war und die Windlichter angezündet wurden, verirrten sich auch Liebespaare auf diese große Terrasse, um die romantische Abendstimmung nahe dem Wasser, auf dessen Wellen Lichtspiegelungen hüpften, zu genießen. So ging in den Sommermonaten der Betrieb des Cafes, das anfänglich von einem jungen Ehepaar geführt wurde, recht gut. Über den Winter half man sich mit wöchentlichen Discoveranstaltungen, schrieb Preisschnapsen aus (Höchstpreise bis zu einer halben Schlachtsau), oder machte auch ausgiebig Urlaub. Allerdings war dem Besitzer-Ehepaar langes Glück nicht vergönnt; der Mann starb nach ein paar Jahren an Krebs. Bald danach entdeckten Mot und seine Freunde das bereits etwas aus der Mode gekommene Ufercafe, und es kam wie es kommen musste: Die kinderlos gebliebene, nicht mehr ganz so junge - aber noch schöne Frau, mit dem Cafe allein gelassen, nahm zu den jungen Dorfrockern Zuflucht. Da die Schöne, die sich “Marli” nennen ließ, genau wusste, was sie wollte, wirkte sich die beginnende Freundschaft zwischen den beiden Parteien notgedrungen auch bis in das Schlafzimmer der Dame aus, wobei Mot einmal nicht den Anfang gemacht hatte, sondern Ritchie. Von da ab war das Ufercafe zu ihrer zweiten Heimat geworden - was durch die Reihe der Motorräder, die vor dem Eingang geparkt standen, schon von außen eindrucksvoll sichtbar war.
Zu einer Zeit, da der neueste Hit von den Rolling Stones “Angie” hieß, kam es wiederum zu einer dieser leisen Veränderungen, über die man anfänglich kaum nachdenkt.
Barbara und Klaus, die frisch verheiratet, in dem Dorf ein Haus als Hochzeitsgeschenk von Barbaras Vater, einem Primararzt, bekommen hatten, waren bei einem Spaziergang, wobei sie ihre neue Umgebung erkundeten, auf das Stammlokal der Rocker aufmerksam und neugierig geworden, als es vor dem Lokal auf der Straße eine Auseinandersetzung gab.
“Wo habt ihr mein Moped versteckt? Ich hatte es hier abgestellt”. Der blonde Bursche war aufgebracht und zeigte an eine Stelle an der Wand neben dem Eingang des Lokals.
“Was geht mich dein Moped an?” fragte Mot zurück. Auf seiner ärmellosen Jeansjacke, die über die Lederjacke gestülpt war, hatte er einen Patch mit der Bezeichnung SCHARFRICHTER in goldenen Lettern aufgenäht. “Am Ufer unten beim See habe ich ein rotes Nummerntaferl liegen sehen. Vielleicht hat das Moped sich ausgezogen und ist baden gegangen?”
Alle lachten. Der Bursche fand das weniger lustig; seine Augen wurden schmal; scheinbar wollte er sich vor Mot aufbauen. Jedenfalls rückte er bedrohlich näher.
“Rock “n” Roll”, murmelte Mot gedämpft, um sich in Stimmung zu bringen, und strich die brustlangen Haare über die Schulter nach hinten. Dann versetzte er dem geschniegelten hellblonden Kerl, der nach seinem Moped gefragt hatte, einen Kopfstoß mitten ins Gesicht. Dem Aufrührer platzte die Nase; Blut lief. Von Schmerz, Wut und Unverständnis verzerrte sich das Gesicht, und als Mot die Hand mit geballter Faust erhob, verließ den Mopedfahrer vollends der Mut. Er nahm Reißaus, rannte auf die andere Straßenseite und verschwand dort hinter den Büschen, die zu dem Uferpfad führten, an dem sein Moped “baden gegangen” war. Nicht einmal zu einem Drohruf aus sicherer Entfernung reichte es bei ihm mehr. Das Schmäh-Gelächter derer, die sich zu dem “Wickel” vor der Lokal-Tür versammelt hatten, folgte ihm. Natürlich hatten sie dem Blonden das Moped im Teich versenkt.
“Was hat der denn getan?” wandte sich Barbara sogleich an Mott, der immer schon eine Schwäche für vorlaute Frauen hatte.
“Dem hat unsere Musik nicht gefallen”, antwortete Mot.
Der Zynismus reizte erneut zum allgemeinen Lachen.
“Welche Musik spielt ihr denn? fragte Barbara neugierig.
“Sicher keine Blasmusik”, mischte sich ihr Mann Klaus ein.
“Das kannst du annehmen”, sagte Mot, “aber ihr könnt gerne mit hinein kommen, wenn ihr auf Hardrock steht.”
Barbara sah aus wie eine pummelige Janis Joplin, mit üppigen Füllungen an den richtigen Körperstellen, wie Mot bemerkte. Sie war Diplomkrankenschwester in dem Krankenhaus, in dem auch ihr Vater - “Gott in Weiß” - war. Dort hatte sie kürzlich Klaus, der sich als Krankenpfleger versucht hatte (aber kaum einen Monat durchhielt), kennengelernt und gleich geheiratet. Barbaras Vater war über diese Verbindung nicht begeistert. Er fügte sich vorerst jedoch, klug, wie es strategisch vorgehende Menschen sind. Nachdem er seine Bemühungen, beide voneinander wieder zu trennen, fruchtlos sah, investierte er sein gut verdientes Geld in ein altes Haus und übergab es den beiden als Hochzeitsgeschenk. So gelang es ihm, seine Tochter und ihren frischgebackenen Ehemann an den Stadtrand oder zumindest aus seinem Einflussbereich zu drängen. Ausgemacht wurde, dass Klaus das sanierungsbedürftige Haus renovieren sollte - damit er wenigstens etwas Sinnvolles tat, wie der Arzt nicht nur meinte, sondern mit Betonung seiner Tochter Barbara gegenüber behauptete. Sehen wollte der berühmte Doktor den unliebsamen Schwiegersohn allerdings nicht.
Klaus hatte eine große Klappe. Mot fand das schnell heraus. Wenn Klaus besoffen war, steigerte er seinen Hang zu Übertreibungen ins Unrealistische. So erzählte er, dass er manchmal hinter den Eisernen Vorhang in die Tschechoslowakei ginge, um “für unseren Heeresnachrichtendienst” zu spionieren. Mot fragte ihn, ob er die Sprache verstünde - aber Klaus winkte ab. Das sei nicht nötig. Meist ginge es darum, Dokumente aus einem Versteck im Wald zu holen und sicher über die Grenze zu bringen.
“Willst du Mondgestein?” fragte Klaus plötzlich Mot, als sie eines Abends bei einigen “Cola-mit” an der Theke des Ufercafes standen
“Mondgestein?”
“Ja, Steine vom Mond”, lallte Klaus. “Ich kann welche besorgen. Ich habe da meine Beziehungen.”
“Aha”, sagte Mot abschließend und legte so viel wie möglich von seiner Ungläubigkeit in den Ton der Stimme. Aber Klaus war zu betrunken, um darauf zu hören.
Dann fragte Klaus Mot, nachdem er erwähnt hatte, dass er von Mots Orgel-Künsten erfahren hätte, ob er bei ihm vorspielen wollte. Klaus gedächte in Bälde eine Rockband zu gründen, zu der noch ein passender Organist fehlte. Mot war von dem Gespräch ein wenig abgeturnt, da Marli, die hinter der Theke stand, ihm dauernd Zeichen machte, er solle Klaus loswerden und mit auf ihr Schlafzimmer kommen.
“Aber ich spiele doch schon in einer Rockband Orgel”, sagte Mot. “Soll ich in zwei spielen?”
Jedoch ließ Klaus nicht locker und beschwatzte Mot so lange, bis er sich einverstanden erklärte, mit ihm nach Hause zu kommen, wo er eine Orgel stehen hatte. Sie gingen nach draußen. Zuvor hatte Mot Marli zu verstehen gegeben, dass er Klaus nur heimfahren und später wiederkommen würde. Marli machte ein bedauerliches Gesicht und ließ ihre Blicke über den Raum schweifen, als wollte sie sich jemand anderes suchen, der mit ihr kommen sollte. Und Mot nickte - er hatte verstanden.
Draußen startete er “Gina”, die weiße sieben-fünfziger Moto Guzzi Special aus dem Jahr 1969, und bedeutete Klaus hinten aufzusteigen.
Dieser zögerte.
“Was ist?” fragte Mot.
“Bist du nicht besoffen?”
Mot lachte.
“Ohne Sprit oder Shit kann ich überhaupt nicht fahren.”
Klaus fasste sich dann doch ein Herz, stieg hinten auf und packte Mot, der “Gina” kommen ließ, an den Hüften, als Mot auch schon einen Gang einlegte. Die Moto Guzzi machte einen Satz und donnerte dann in einem geschmeidigen Schwung los.
Leider ernüchterte die kurze Fahrt weder Klaus noch Mot - im Gegenteil schien sich die frische Luft auf deren alkoholisierte Zustände noch vernichtender auszuwirken. Mot fuhr in der Straßenmitte, da es zu dieser nächtlichen Stunde in den wenigen Gassen zwischen den Häusern und Grundstücken so gut wie gar keinen Verkehr gab. Während Klaus wie ein scharfes Mädchen an Mots Rücken klebte und wie verrückt vor Ausgelassenheit schrie, den Kopf nach oben gerichtet und mit den Augen, die vom Fahrtwind und Alkohol verschleiert waren, im nachtschattigen Geäst der Bäume das sternenbesetzte fliehende Band des Himmels beschaute.
Das Haus von Barbara und Klaus lag nur ein paar Fahrminuten vom Ufercafe entfernt, in der Nähe eines Spielplatzes, der zu einem öffentlichen Gemeindebau gehörte. “Gina” brachte sie schnell und ohne Zwischenfälle dorthin. Klaus sprang ab und lief vor, um die Eingangstür zu öffnen, während Mot das Motorrad ständerte und abstieg. Es war eine warme Julinacht, die Fenster des Hauses standen straßenseitig weit offen und zeigten in nächtliche Schwärze im Rauminneren.
“Schläft Barbara schon?” fragte Mot. Er hatte gehofft sie wiederzusehen.
“Nein, die hat Nachtdienst”, antwortete Klaus.
“Weil die Fenster offen sind.”
“Ach, egal. Habe ich zu schließen vergessen, als ich vorhin wegging. Bei uns gibt’s nichts zu fladern.”
Mot folgte Klaus ins Haus. Dieser führte ihn durch ein Vorzimmer ins Wohnzimmer, das zur Straße hin lag. Klaus machte Licht, und gleich darauf strömten durch die beiden offenen Fenster allerhand Insekten in den erleuchteten Raum. Sie schwirrten und surrten kurz durch das Wohnzimmer, bis sie sich in einem der zahlreichen Insektenklebefallen, die in ausgerollten Streifen von der Decke baumelten, fingen. Aus dem Raum führten zwei Türen zu Räumen auf der Rückseite des Hauses, die zu einem kleinen Garten hin lag. In der Mitte des Raumes, den beiden Fenstern zugewandt, stand eine alte, abgewetzte Ledercouch, auf die sich Mot setzen sollte. Unterdessen verließ Klaus das Wohnzimmer durch eine der beiden Türen und wollte für Getränke sorgen. Noch im Stehen fiel Mots Blick hinunter auf den unaufgeräumten Couchtisch, auf dem er eine Handvoll bunter Damen-Slips entdeckte, die wahrscheinlich Barbara gehörten. Mot griff danach, trachte allesamt mit der Hand zu erfassen und kniff sie in seiner Faust zusammen, die er an seine Nase hob, um an dem Stoffknäuel zu schnuppern. Die Slips rochen frisch - durften also aus der Wäsche gekommen sein, bevor sie auf dem Couchtisch gelandet waren.
Da erblickte Mot die Orgel, die an der Wand neben dem Schreibtisch stand, dessen linke Seite sich zum Fenster hin richtete. Er ließ die Unterwäsche auf den Couchtisch fallen, umrundete diesen und ging zur Orgel hinüber. Es war ein elektronisches Musikinstrument für den Hausgebrauch. Mot schaltete es ein, zog sich den Schreibtischstuhl heran und probierte ein Stück von Deep Purple, das er zu dieser Zeit sehr liebte.
Klaus steckte den Kopf zur Tür herein.
“Wie ich sehe, hast du die Orgel gefunden … >Child In Time< - super!”
Klaus stimmte den Text zur Melodie an und sang ein paar Takte, in dem er sich rhythmisch zur Musik bewegte. Dann sagte er:
“Ich habe leider kein Bier mehr. Darf’s was anderes sein?”
Mot verzog unwillig das Gesicht, das er abgewandt hatte, sodass Klaus nicht seine Mimik lesen konnte. “Warum wundert mich das jetzt nicht”, wollte er sagen, blieb aber freundlich und sagte stattdessen:
“Was hast du denn?”
“Eine halbe Flasche Wein, die aber schon ein paar Tage im Kühlschrank steht. Und eine Flasche Eierlikör, aus der sich Barbara ihre Drinks mit Fanta mischt.”
“Ich will mir ja nicht den Magen verkleben”, antwortete Mot abfällig. “Probieren wir den Wein.”
“Okay”, antwortete Klaus und verschwand wieder aus dem offenen Türrahmen.
Mot hörte zu spielen auf und starrte auf die Tasten vor sich. Er hörte Klaus in dem nebenan liegenden Raum, der wohl die Küche sein mochte, hantieren. Allmählich dämmerte ihm die Frage: “Was mache ich hier eigentlich?”
Er drehte sich von der Tastatur weg, und sein Blick fiel wieder auf die Unterwäsche.
“Scheiße”, rief Klaus in dem anderen Raum.
Mot merkte auf.
“Was ist denn?”
“Pass auf, wo du hintrittst! Die Vogelspinne ist wieder einmal aus dem Terrarium entkommen.”
"Bist du irre?" entfuhr es Mot panisch. Er sprang aus dem Sessel hoch und blickte sich gehetzt im Raum um. Barbaras Unterwäsche, die für ihn eine Bedeutung hatte, die er nicht (oder noch nicht ganz?) fassen konnte, schwamm bereits nur mehr am Rande seiner Wahrnehmung, kaum mehr zu sehen vom hervor gestossenen Dampf dieser schauderhaften Nachricht.
In diesem Moment sah er die Vogelspinne auf der alten Ledercouch, den pelzigen Leib, handtellergroß, in ihren angewinkelten, beflaumten Beinen. Sie kroch langsam, als müsste sie jeden Schritt vorfühlen, unter dem Kissen hervor, auf das sich Klaus hatte setzen wollen, als ihm Barbaras Unterwäsche abgelenkt hatte.
Im Anblick des Viehs schlug seine Spinnenphobie durch und es schüttelte ihn vor Grauen. In einem lauten Aufschrei stürzte er ans Fenster und war auch schon mit einem gelenkigen Schwung durch die offenen Fensterflügel hinaus und in den Vorgarten gejumpt. Im selben Atemzug sprang er auf die Moto Guzzi, startete und sauste auch schon die Gasse hinunter.
Jetzt gab es nur noch den Weg in Marlis Arme.


Feelings:
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