choral des göttlichen abbilds

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Mimi

Mitglied
choral des göttlichen abbilds


du blickst mit stummem mund empor
in einen trüben himmel
aus nah ertönt ein donnerchor
hinein ins stadtgewimmel

vom dach erhebt ein schatten sich
es schwirren fort die tauben
ihr gurren wirkt verwunderlich
an frieden wollt ich glauben

aus fenstern kräuselt schwarzer rauch
gefolgt von flammenzungen
er dringt als kalter todeshauch
in haut und haar und lungen

auf deinem weißen hemd erwächst
in scharlachrot die blüte
ich stehe da zu stein verhext
du träumst von gottes güte

mein menschenherz ist kalt und hart
nicht gnade noch erbarmen
in meiner brust zu eis erstarrt
und du in meinen armen


Homo homini lupus
Homo homini deus
(Thomas Hobbes)
 
G

Gelöschtes Mitglied 24777

Gast
Hallo Mimi,

dies ist ein Gedicht aus deiner Feder, wie ich es von dir bisher noch nicht kannte - interessant. Wir haben es laut Titel mit einem sakralen oder auf das Sakrale anspielenden Text zu tun - wenngleich es sich auch um einen Titel mit einem ironischen Unterton handeln könnte, denn das göttliche Abbild könnte ja auch der Mensch sein, welcher dieser hehren Idee in der Regel nicht entspricht. Schauen wir mal...

du blickst mit stummem mund empor
in einen trüben himmel
aus nah ertönt ein donnerchor
hinein ins stadtgewimmel
EIn Lyrisches Du bewegt sich in einem städtischen Umfeld. Möglicherweise ist es in einer Kirche, das Adverb empor könnte auf eine Empore hindeuten. Der Donnerchor wäre dieser Deutung entsprechend dann der Lärm der Stadt, möglicherweise der Straßenverkehr - allerdings würde die Richtungsangabe hinein ins Stadgewimmel nicht unbedingt für meine These sprechen. Hm... Wir schauen mal weiter.

vom dach erhebt ein schatten sich
es schwirren fort die tauben
ihr gurren wirkt verwunderlich
an frieden wollt ich glauben
Städtisches Getier wir aufgescheucht. Es sind Tauben, Symbole des Friedens, dieses Mal wahrgenommen von einem Lyrischen Ich. Die Tauben aber fliegen fort, und damit der Glaube an den Frieden, welcher nur im Konjunktiv (wollt) erwünscht werden kann.

aus fenstern kräuselt schwarzer rauch
gefolgt von flammenzungen
er dringt als kalter todeshauch
in haut und haar und lungen
Nun brennt es, möglicherweise die ganze Stadt und auch das Lebende bleibt nicht verschont, wie die Klimax in Vers 4 anschaulich macht.

auf deinem weißen hemd erwächst
in scharlachrot die blüte
ich stehe da zu stein verhext
du träumst von gottes güte
Hm, möglicherweise bin ich in der falschen Richtung unterwegs, denn jetzt denke ich, dass es sich möglicherweise um einen Bildhauer handeln könnte, welcher versucht, etwas göttliches in den Marmor zu zaubern. Ich muss an Michelangelo denken.

mein menschenherz ist kalt und hart
nicht gnade noch erbarmen
in meiner brust zu eis erstarrt
und du in meinen armen
Vielleicht wird hier eine Statue personifiziert, welche freilich nicht in der Lage ist, über ihre Zuschreibungen hinaus eines Gefühls fähig zu sein. Der menschliche Bildhauer würde demnach regelrecht einem Götzen die Ehre erweisen.

Nun, wie du siehst, hat dein Gedicht einige Assoziationen bei mir ausgelöst, aber ich war nicht in der Lage, ein schlüssiges Gesamtbild für mich zu erkennen. Dies muss nicht bedeuten, dass dein Text Schwächen hätte, denn es könnte auch einfach mangelnde Erkenntnis meinerseits sein. Um diese zu beheben, würde ich mich über eine Hilfestellung bezüglich der Intepretation freuen.

Liebe Grüße
Frodomir
 
Hi @Mimi

anbei ein paar Gedanken zu Deinem Gedicht:

1. Zunächst deutet der Titel in den Bereich der Kirchenmusik. Wikipedia weiß, dass ein Choral (lateinisch: Cantus firmus, italienisch: Corale, auch Canto fermo, französisch: Plain-chant), die Melodie ist, nach welcher die geistlichen Lieder beim öffentlichen Gottesdienst von der ganzen Gemeinde gesungen werden. Das Thema des Gedichts bewegt sich also, will man dies wörtlich nehmen, im Kreise der Melodie des göttlichen Abbildes. Möglicherweise ist hier Choral auch im Sinne von Kirchenlied selbst gemeint. Jedenfalls wird die Leserin durch das Bild in eine singende Kirchengemeinde entführt. Die Stimmung ist damit ausgelegt: ernsthaft, fromm, wichtig, vielleicht feierlich.

2. Strophe (1) führt das lyrische Du ein, welches streng genommen auch ein lyrisches Ich ist. Wir erfahren, dass die Person mit "stummem Mund" emporblickt in einen trüben Himmel, während aus der Nähe ein Donnerchor ins Stadtgewimmel ertönt. Vom sprachlichen her, könnte man auch sagen "von nah". Gemeint sein soll vermutlich das gleiche, nämlich aus der Nähe herkommend. Der Donnerchor greift den Choral aus der Überschrift auf, wenngleich in dem Donnern des Chores etwas Lautes, Bebendes liegt. Das ist also kein frommer, feierlicher, getrageneder Chor, sondern ein Unwetter: ich denke an Carl Orff, die Carmina Burana. Der Donnerchor ertönt ins Stadtgewimmel, vordergründig möglcherweise aus einer Kirche in die Einkaufszone, hintergründiger aus einem inneren Konfliktplatz in den Alltag des LI hinein, ein alles übertönendes Singen des Chores, das sich kraft seiner unwetterhaften Größe bis in den Alltag (Stadtgewimmel) fortsetzt.

3. In Strophe (2) folgt eine Beschreibung der Szene, die das lyrische Ich betrachtet. Hier wird es interessant insofern, als sich "ein Schatten" vom Dach erhebt. Die Tauben erheben sich und gurren "verwunderlich". Die Schatten, die sich vom Dach erheben deuten für mich die Verdunkelung der Bilder an, die folgen werden und die im Grunde schon durch das Emporblicken mit "stummem Mund" und den Donnerchor eingeleitet worden sind. Die Schatten haben offenbar ein Eigenleben, sie erheben sich ohne ihre "Schattenspender". Daher wird es sich bei diesen Schatten vermutlich um dunkle, noch ungeklärte Anteile (Seelen)anteile handeln, die nun die Dynamik "übernehmen" und die folgende Entwicklung einläuten. Wollte man die vorhergehenden Sinneseindrücke als noch realitätsnah begreifen, wird es nun traumhafter: Tauben "schwirren", ein fast schon beunruhigendes Geräusch, das man von Insekten kennt, ein helles, zitterndes Geräusch, sie gurren "verwunderlich", befremdlich, intuitiv nicht stimmig. Die Taube als Allegorie des Friedens passt ja auch gut zum Schluß der Strophe. Diese Störbilder kulminieren in der rationalen Erklärung am Ende der zweiten Strophe: Das LI wollte an Frieden glauben wurde darin aber offensichtlich überraschend enttäuscht.

4. In Strophe (3) kippt die Stimmung nun ins Dramatische: Aus Fenstern kräuselt schwarzer Rauch, dann Flammenzungen. Interessant, dass dieses explosive Gemisch keineswegs mit der Hitze, die man nun eigentlich erwarten würde die Lungen geradezu verbrennt, sondern als "kalter Todeshauch" überall (in den Menschen) eindringt. Dies spricht für die Traumhaftigkeit der Bilder, in denen oft jegliche Widersprüche zu Gunsten einer tieferen symbolischen Bedeutung aufgehoben sind. Möglicherweise ist der schwarze Rauch aber in seiner Reise vom Feuerherd fort auch bereits erkaltet.

5. Strophe (4) habe ich dann auch konsequent als Fortsetzung dieses Totenbildes gelesen. Über das LD wird uns berichtet, dass eine "scharlachrote Blüte" auf dem weißen hemd erwächst. Das LI steht da "zu Stein verhext", das LD träumt von "gottes Güte". Hier musste ich intuitiv an eine (tödliche) Wunde des LD denken. Der stumme Mund aus Strophe eins, der Blick zum Himmel, die rote Blüte auf dem weißen Hemd, ergaben in mir das Bild eines tödlich Verwundeten, der möglicherweise (sterbend) in den Armen des LI liegt und "Gottes Güte" träumt, also auf Gottes Güte hofft. Über Das LI erfahren wir, dass es "zu Stein verhext" steht, mithin sich nicht mehr bewegen kann, kalt, unnahbar, eingefroren im Moment.

6. In Strophe (5) erfahren wir, dass das Menschenherz des LI kalt und hart ist, was gut zu der Verhexung in Stein passt. Die Bilderfamilie bleibt sich sozusagen treu. Das Herz ist in der Brust des LI zu Eis erstarrt, kennt weder Gnade noch Erbarmen und das LD wird in den Armen des LI kalt und erstarrt, wie Sterbende erstarren, wenn das Leben aus ihnen schwindet. Die Attribute "Gnade" und "Erbarmen" deuten an, dass das LI von sich glaubt hierzu Stellung nehmem zu müssen, diesbezüglich also von ihm Gnade und Erbarmen erwartet werden können, wobei es diese Erwartungshaltung abweisen muss.

7. Ich persönlich las das Gedicht als Abschiednehmen von einer "vergöttlichten" Person, das nicht ohne Selbstverwundung und Selbstvorwürfe von sich gegangen ist, von einem Kampf der Elemente bei denen das Eis, das Kalte, das Eingefrorene, das steinerne am Ende siegt. Das LI überlebt in meiner Lesart zwar die Verwundungen aber zu einem hohen Preis. Die Figur des LD bleibt bis zum Ende hoch ambivalent. In dem gedicht könnte ein Loslösungsprozess von einer schwierigen, herausfordernden Liebesperson geschildert sein. Damit wird auch die Notwendigkeit eines Donnerchores klar: In vielen altgriechischen Dramen drückte der Chor dem Publikum gegenüber ja aus, was die Hauptcharaktere nicht zu sagen vermochten, wie etwa Ängste und Geheimnisse. Üblicherweise sang der Chor, sprach aber auch kurze Sätze. In meiner persönlichen Lesart Deines Werkes geht es um den Frieden mit einer wichtigen Bezugs(liebes)person, der sich nicht (mehr) einstellen wird und die daraus resultierenden Schockzustände und die vielen widersprüchlichen Gefühle (Feuer, Kalter Rauch, Todeshauch, Donnerchor, an Frieden glauben)

In einem ähnlich spannend-mysteriösen Dunkel entlässt uns Dein starkes Gedicht zurück in den Alltag, wo der letzte Hauch von Kälte nur langsam vergehen will. Bravo !

mes compliments

Dionysos
 
Zuletzt bearbeitet:

Kaetzchen

Mitglied
Hallo Mimi
Das ist ein starkes Gedicht, welches berührt. Der Choral ist die Musik, die ein wirksames Abbild des Göttlichen schafft. Mit kraftvollen Bildern in deinem Text schaffst du das auch. Wobei ich mehr eine enttäuschte Liebesgeschichte in deinen Worten spüre.
Übrigens, sehr saubere Reime und eine perfekte Metrik erleichtern das Lesen und lenken nicht ab.
Man muß es einfach öfter lesen und die Worte genießen, meine Lieblingsstelle ist die charlachrote Blüte auf weißem Hemd, erinnert an einen Dolchstoß und man muß an Jesus denken.
Gern gelesen
LG Kaetzchen
 

Mimi

Mitglied
Lieber Frodomir, lieber Dionysos,

ich möchte an dieser Stelle gerne anmerken, dass ich sehr beeindruckt bin von der Art und Weise, wie Ihr mit (nicht nur unter meinen Gedichten) Euren Gedanken, Interpretationen, Verbesserungsvorschlägen oder allgemein mit "Textarbeit" dieses Literaturforum bereichert.
Ich finde das jedenfalls ausgesprochen anregend ...


Wir haben es laut Titel mit einem sakralen oder auf das Sakrale anspielenden Text zu tun - wenngleich es sich auch um einen Titel mit einem ironischen Unterton handeln könnte, denn das göttliche Abbild könnte ja auch der Mensch sein
Ja, Frodomir, der Titel "choral des göttlichen abbilds", meint hier den Menschen, der in seinem Wesen leider oft das genaue Gegenteil von "göttlich" sein kann, als das, was er in seinen Chorälen litaneiartig besingt ...
Religiosität als Überbegriff ist sicherlich ein wichtiger Aspekt, der zwischen den Zeilen mitschwingt.
Ich selbst bin ja nicht nur multikulturell, sondern auch multikonfessionell aufgewachsen und fühle mich im "Dazwischen" mittlerweile wohl, bzw. versöhnt, was nicht immer der Fall war.

Das Werk resümiert in seiner letzten Strophe:

"mein menschenherz ist kalt und hart
nicht gnade noch erbarmen
in meiner brust zu eis erstarrt"


Die Antonyme von Gnade oder Erbarmen sind demnach Grausamkeit und Gleichgültigkeit, die nicht nur menschliche (menschenherz) Eigenschaften sind, sondern eben Teil der Menschheit selbst.
Sie sind tief im Menschen verwurzelt, stets allgegenwärtig ...


Ich habe mich beim Titel auch ein wenig vom Gedicht
"A Divine Image" von William Blake inspirieren lassen. Es ist ein sehr starkes Gedicht, wie ich finde:

Cruelty has a Human Heart
And Jealousy a Human Face
Terror the Human Form Divine
And Secrecy, the Human Dress

The Human Dress, is forged Iron
The Human Form, a fiery Forge.
The Human Face, a Furnace seal'd
The Human Heart, its hungry Gorge.



Ich denke mir, wenn ich als Autorin alle Intentionen, die ich beim Schreiben vor dem geistigen Auge hatte, preisgebe, verengt sich dadurch auch die Leseart des Lesers, und dies wäre (so meine Auffassung) nicht wirklich in meinem, noch im Interesse des Lesers ...
Ich schreibe gerne so, dass dem Leser ein gewisser Raum für verschiedene Interpretationensansätze und eigene Assoziationen bleibt.
Diesbezüglich kann man jetzt natürlich verschiedener Meinung sein, aber für mich gilt der Grundsatz: "Der Leser macht das Gedicht."


Vielen lieben Dank, Frodomir und Dionysos, für die tolle Beschäftigung und Aufmerksamkeit, die Ihr meinem Gedicht habt zukommen lassen.

By the way, lieber Dionysos,
ich denke an Carl Orff, die Carmina Burana
...diese Orff'sche Kantate höre ich bei mir zuhause des Öfteren, wenn ich am "Werkeln" bin ...



Gruß
Mimi
 

Mimi

Mitglied
Grüß Dich, Kätzchen,

Übrigens, sehr saubere Reime und eine perfekte Metrik erleichtern das Lesen und lenken nicht ab.
Man muß es einfach öfter lesen und die Worte genießen,
ich freue mich sehr über Dein Lob ...

Mir war neben dem Inhalt natürlich auch der handwerkliche Aspekt, sprich die Metrik, wichtig. Das Gedicht sollte in seiner Gestaltung, einem melodisch-rhythmischen Gebilde nahekommen.

Dankeschön für Deinen Kommentar, Kätzchen!

Gruß
Mimi
 
G

Gelöschtes Mitglied 24777

Gast
ich möchte an dieser Stelle gerne anmerken, dass ich sehr beeindruckt bin von der Art und Weise, wie Ihr mit (nicht nur unter meinen Gedichten) Euren Gedanken, Interpretationen, Verbesserungsvorschlägen oder allgemein mit "Textarbeit" dieses Literaturforum bereichert.
Ich finde das jedenfalls ausgesprochen anregend ...
Das ist sehr nett, vielen Dank!

Die Antonyme von Gnade oder Erbarmen sind demnach Grausamkeit und Gleichgültigkeit, die nicht nur menschliche (menschenherz) Eigenschaften sind, sondern eben Teil der Menschheit selbst.
Sie sind tief im Menschen verwurzelt, stets allgegenwärtig ...
Ich glaube nicht, dass diese negativen Eigenschaften eine wirkliche Wurzel im Menschen haben. Ich denke, sie sind eine Folgeerscheinung von Verletzungen am ursprünglich Guten im Menschen. Es wäre mir sonst zu einfach zu sagen, der Mensch hat gute und schlechte Anteile in sich. Denn mir stellt sich dann stets die Frage: Woher rühren die schlechten?

Der Leser macht das Gedicht.
Das glaube ich auch nicht, zumindest nicht nur :cool:

Nun ja, das ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist: Frohe Weihnachten!

Liebe Grüße
Frodomir
 



 
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