Hi
@Mimi
anbei ein paar Gedanken zu Deinem Gedicht:
1. Zunächst deutet der Titel in den Bereich der Kirchenmusik. Wikipedia weiß, dass ein
Choral (lateinisch: Cantus firmus, italienisch: Corale, auch Canto fermo, französisch: Plain-chant), die Melodie ist, nach welcher die geistlichen Lieder beim öffentlichen Gottesdienst von der ganzen Gemeinde gesungen werden. Das Thema des Gedichts bewegt sich also, will man dies wörtlich nehmen, im Kreise der Melodie des göttlichen Abbildes. Möglicherweise ist hier Choral auch im Sinne von Kirchenlied selbst gemeint. Jedenfalls wird die Leserin durch das Bild in eine singende Kirchengemeinde entführt. Die Stimmung ist damit ausgelegt: ernsthaft, fromm, wichtig, vielleicht feierlich.
2. Strophe (1) führt das lyrische Du ein, welches streng genommen auch ein lyrisches Ich ist. Wir erfahren, dass die Person mit "stummem Mund" emporblickt in einen trüben Himmel, während aus der Nähe ein Donnerchor ins Stadtgewimmel ertönt. Vom sprachlichen her, könnte man auch sagen "von nah". Gemeint sein soll vermutlich das gleiche, nämlich aus der Nähe herkommend. Der Donnerchor greift den Choral aus der Überschrift auf, wenngleich in dem Donnern des Chores etwas Lautes, Bebendes liegt. Das ist also kein frommer, feierlicher, getrageneder Chor, sondern ein Unwetter: ich denke an Carl Orff, die Carmina Burana. Der Donnerchor ertönt ins Stadtgewimmel, vordergründig möglcherweise aus einer Kirche in die Einkaufszone, hintergründiger aus einem inneren Konfliktplatz in den Alltag des LI hinein, ein alles übertönendes Singen des Chores, das sich kraft seiner unwetterhaften Größe bis in den Alltag (Stadtgewimmel) fortsetzt.
3. In Strophe (2) folgt eine Beschreibung der Szene, die das lyrische Ich betrachtet. Hier wird es interessant insofern, als sich "ein Schatten" vom Dach erhebt. Die Tauben erheben sich und gurren "verwunderlich". Die Schatten, die sich vom Dach erheben deuten für mich die Verdunkelung der Bilder an, die folgen werden und die im Grunde schon durch das Emporblicken mit "stummem Mund" und den Donnerchor eingeleitet worden sind. Die Schatten haben offenbar ein Eigenleben, sie erheben sich ohne ihre "Schattenspender". Daher wird es sich bei diesen Schatten vermutlich um dunkle, noch ungeklärte Anteile (Seelen)anteile handeln, die nun die Dynamik "übernehmen" und die folgende Entwicklung einläuten. Wollte man die vorhergehenden Sinneseindrücke als noch realitätsnah begreifen, wird es nun traumhafter: Tauben "schwirren", ein fast schon beunruhigendes Geräusch, das man von Insekten kennt, ein helles, zitterndes Geräusch, sie gurren "verwunderlich", befremdlich, intuitiv nicht stimmig. Die Taube als Allegorie des Friedens passt ja auch gut zum Schluß der Strophe. Diese Störbilder kulminieren in der rationalen Erklärung am Ende der zweiten Strophe: Das LI wollte an Frieden glauben wurde darin aber offensichtlich überraschend enttäuscht.
4. In Strophe (3) kippt die Stimmung nun ins Dramatische: Aus Fenstern kräuselt schwarzer Rauch, dann Flammenzungen. Interessant, dass dieses explosive Gemisch keineswegs mit der Hitze, die man nun eigentlich erwarten würde die Lungen geradezu verbrennt, sondern als "kalter Todeshauch" überall (in den Menschen) eindringt. Dies spricht für die Traumhaftigkeit der Bilder, in denen oft jegliche Widersprüche zu Gunsten einer tieferen symbolischen Bedeutung aufgehoben sind. Möglicherweise ist der schwarze Rauch aber in seiner Reise vom Feuerherd fort auch bereits erkaltet.
5. Strophe (4) habe ich dann auch konsequent als Fortsetzung dieses Totenbildes gelesen. Über das LD wird uns berichtet, dass eine "scharlachrote Blüte" auf dem weißen hemd erwächst. Das LI steht da "zu Stein verhext", das LD träumt von "gottes Güte". Hier musste ich intuitiv an eine (tödliche) Wunde des LD denken. Der stumme Mund aus Strophe eins, der Blick zum Himmel, die rote Blüte auf dem weißen Hemd, ergaben in mir das Bild eines tödlich Verwundeten, der möglicherweise (sterbend) in den Armen des LI liegt und "Gottes Güte" träumt, also auf Gottes Güte hofft. Über Das LI erfahren wir, dass es "zu Stein verhext" steht, mithin sich nicht mehr bewegen kann, kalt, unnahbar, eingefroren im Moment.
6. In Strophe (5) erfahren wir, dass das Menschenherz des LI kalt und hart ist, was gut zu der Verhexung in Stein passt. Die Bilderfamilie bleibt sich sozusagen treu. Das Herz ist in der Brust des LI zu Eis erstarrt, kennt weder Gnade noch Erbarmen und das LD wird in den Armen des LI kalt und erstarrt, wie Sterbende erstarren, wenn das Leben aus ihnen schwindet. Die Attribute "Gnade" und "Erbarmen" deuten an, dass das LI von sich glaubt hierzu Stellung nehmem zu müssen, diesbezüglich also von ihm Gnade und Erbarmen erwartet werden können, wobei es diese Erwartungshaltung abweisen muss.
7. Ich persönlich las das Gedicht als Abschiednehmen von einer "vergöttlichten" Person, das nicht ohne Selbstverwundung und Selbstvorwürfe von sich gegangen ist, von einem Kampf der Elemente bei denen das Eis, das Kalte, das Eingefrorene, das steinerne am Ende siegt. Das LI überlebt in meiner Lesart zwar die Verwundungen aber zu einem hohen Preis. Die Figur des LD bleibt bis zum Ende hoch ambivalent. In dem gedicht könnte ein Loslösungsprozess von einer schwierigen, herausfordernden Liebesperson geschildert sein. Damit wird auch die Notwendigkeit eines Donnerchores klar: In vielen altgriechischen Dramen drückte der Chor dem Publikum gegenüber ja aus, was die Hauptcharaktere nicht zu sagen vermochten, wie etwa Ängste und Geheimnisse. Üblicherweise sang der Chor, sprach aber auch kurze Sätze. In meiner persönlichen Lesart Deines Werkes geht es um den Frieden mit einer wichtigen Bezugs(liebes)person, der sich nicht (mehr) einstellen wird und die daraus resultierenden Schockzustände und die vielen widersprüchlichen Gefühle (Feuer, Kalter Rauch, Todeshauch, Donnerchor, an Frieden glauben)
In einem ähnlich spannend-mysteriösen Dunkel entlässt uns Dein starkes Gedicht zurück in den Alltag, wo der letzte Hauch von Kälte nur langsam vergehen will. Bravo !
mes compliments
Dionysos