Christa Paulsen - Der letzte Fall 27. Freude im Streifenwagen - Günter

ahorn

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Freude im Streifenwagen
Günter

Das Wort Bulgarien explodierte in Christas Schädel wie eine Bombe. Es gab eine Menge Bulgarinnen in Deutschland, aber niemand kannte Wanja, niemand Kalina im Dorf. Lutz ein Foto der Toten zu präsentierten, widersprach nicht nur ihrem kriminalistischen Instinkt, sondern gleichfalls ihrem Feingefühl.
»Hast du ein Foto von Kalina?«

Er klappte sein Laptop auf und drehte ihr diesen so weit zu, bis sie den Bildschirm betrachten konnte.
Ein Stein fiel ihr vom Herzen, gleichzeitig wurde ihr wieder bewusst, dass Schönheit relativ war.
Auf dem Foto umschlang Lutz Kalinas Taille, soweit Christa diese als solche bezeichnen konnte und schmachtete ihr kantiges Gesicht an. Christa stufte sie im Bereich stämmig ein. Zog sie die Höhe ihrer Absätze ab, war sie nicht kleinwüchsig, nahezu eine handbreit länger als Lutz. Gut! Lutz war kein Riese, eher unterer Durchschnitt für einen Mann, ein Zustand, welcher nicht für Schnuckelheide galt. Dennoch war diese, soweit sie es einschätze, weiblichen Geschlechts. Ihre kräftige Oberweite, sowie ihr gesäßlanges, gewelltes tiefschwarzes Haar überführten sie.

Jener Anblick ließ Christa zweifeln. Zweifeln an ihrer Annahme, inwiefern die Person, welche sie am Vorabend schemenhaft erblickt hatte, männlich gewesen war.

Christa radelte nach Hause, startete ein Versuch. Es gab nichts Unsicheres als Zeugenaussagen. In diesem Fall war sie die Zeugin. Ein Detail, welches ihr in der Situation eher unwichtig erschienen war, dennoch sie für Sekundenbruchteile verwundert hatte, manifestierte sich wieder. Es hatte den Anschein gehabt, dass die Person einen Pullover getragen hatte. Keinen Standardpullover, eher Marke selbst gestrickt, alt, ausgeleiert, hing er über ihren Hintern. Welcher Mensch schlüpfte im Hochsommer in einen Pullover und fuhr damit Auto. Sie kannte niemanden, außer Benno, der trug nie eine Jacke. Es sei denn, dass der Pullover kein Pullover, sondern ein Kleid gewesen war.
Sie schlüpfte in ein Etuikleid, steckte ihre Füße in Pumps, schalte ihre Taschenlampe an und legte diese an den Sockel ihres Kleiderschrankes. Dann ließ sie den Rollladen hinab, umklammerte ihren Fernseher, stelle sich vor er wöge ein Zentner und wuchte diesen auf ihr Bett. Dabei beobachtete sie aus den Augenwinkeln heraus ihren schemenhaften Schatten, der durch das Streulicht, sich auf den Spiegeltüren ihres Schrankes abzeichnete. Ihre Silhouette, ihr plumper, alles anders als damenhafter Gang zementierte ihre Annahme.
Es war kein Beweis, dennoch erweiterte sie den Kreis der Verdächtigen um zwei Personen.

Nachdem Christa sich wieder umgezogen hatte, schob sie ihre Handtasche über den Unterarm und klopfte, dabei lächelte sie, auf dessen Leder. Lutz' Schlüsselbund hatte sie – natürlich unabsichtlich – eingesteckt, um diesen ihm zum Anlass eines weiteren Besuches zurückzubringen. Vorher nahm sie sich vor, einen Abstecher in Bennos Reich zu unternehmen, um herauszubekommen, wieweit die Ermittlungen ihrer Kollegen vorangeschritten waren und, sie lächelte erneut, Frank wiederzusehen.

Bis zur Tür des Gasthofes kam sie nicht. Bereits beim Absitzen von ihrem Fahrrad fing sie Günter ab.
»Ich muss dir etwas gestehen.«
Sie klopfte auf seinen Benz. »Das du im absoluten Halteverbot stehst.«
»Nein!« Günter wandte den Kopf »Außerdem, wen interessiert das hier?«
Christa grinste. »Mich nicht!«
»Ich kenne sie?«
»Wen?«
»Na, die Tote.«
Ihr Lächeln gefror. »Wie? Woher? Warum sagst du mir dieses erst jetzt?«
Günter hüpfte von einem Bein zum anderen. »Ich war mir nicht so ganz sicher.«
Sie tippte an ihre Schläfe. »Jetzt ist der Heilige Geist über dich gekommen. Woher?«
»Sie ist«, er räusperte, »war Gast auf meinen Campingplatz.«

Der Stein, der Christa von der Brust fiel, war eher ein Findling. Es war nichts Verwerfliches daran, einer Frau einen Stellplatz anzubieten.
Sie kratzte sich am Genick. »Wagen oder Zelt?«
»Zeltplatz!«
Christa strich endgültig die Annahme, dass Wanja dem waagerechten Gewerbe nachgegangen war. Welch Freier quälte sich in ein Zelt? Außerdem hatte Christa nie vermutet, dass sie auf den Straßenstrich gegangen war. Ihre Kleidung war nicht diesem Teil des Gewerbes angemessen.
Christa deutete zur Eingangstür des Gasthofes. »Weshalb machst du keine Aussage bei meinen Kollegen?«

Günters Gesicht verfinsterte sich. »Die elendige Drecksau ist dort drin.«
Christa ahnte sofort, wen er meinte. Sie ballte ihre rechte Hand zu einer Faust.
»Bitte«, zischte sie und versuchte ihren Zorn im Zaum zu halten.
»Dieses erbärmliche Stück Scheiße, welches ich mit Kurt …«
»Krankenhausreife geschlagen hast.«
»Er hatte es verdient.«
»Du traust dich nicht?«
Günter schürzte die Lippen. »Nonsens! Ich habe kein Verlangen, vor dir an deinem letzten Tag abgeführt zu werden.«
Sein komisches Verhalten, welches er an den Tag gelegt hatten, erschien für Christa logisch. Günter musste Frank bereits gesehen haben, bevor sie zum Stall gefahren waren. Dass er sich aber erdreistete, derart abfällig über Frank zu sprechen, obwohl er zusammen mit Kurt ihr Leben vernichtet hatte, ließ ihre die Galle überlaufen. Einzig Wanja war es zu verdanken, dass sie ihn nicht anschrie, fertigmachte. Im Tiefsten ihres Inneren schrie es nach Vergeltung. Vergeltung nach einem vertanen Leben und der Wunsch keimte in ihr auf, dass der Mörder aus diesem Dorfe stammte.

Das Knarren der Eingangstür holte Christa aus ihren Gedanken. Dünnbier verließ, gefolgt von zwei Uniformiertem den Gasthof. Ohne Christa eines Blickes zu würdigen, schritt er zur ehemaligen Post, vor der ein Streifenwagen abgestellt war. Sie erkannte sofort den Fahrer. Sie ergriff Günters Hemdsärmel und zerrte ihn zu den Uniformierten, die sich, angelehnt an der Hauswand, unterhielten.
Christa musterte das Namensschild des Dienstrangs höheren. »Polizeiobermeister Meyer begleiten sie diesen Herren zu seinem Campingplatz, sichern ein Zelt und warten auf weitere Anweisung.«
Der Angesprochene verschränkte die Arme und sah auf Christa hinab. »Bitte! Was soll ich?«
Bereits gereizt durch Günter, baute sich Christa vor ihm auf, woraufhin ihm der Zweite in die Seite stieß.
»Ich leite die Ermittlung«, schrie sie ihn an.
Der Zweite salutierte. »Jawohl, Frau Kriminaldirektorin« – »Wird erledigt!«
Er übernahm Günters Hemdsärmel und führte ihn, als wäre er der Mörder, ab. Dabei hörte Christa, wie er Meyer mit zischenden Worten aufklärte, dass er keine Lust hätte, noch länger auf seine Beförderung zu warten. Sie marschierten, Günter in ihre Mitte genommen, zu einem Streifenwagen, der am Klettergerüst parkte, stopften Günter in den Wagen und fuhren mit nicht angepasster Geschwindigkeit an Christa vorbei. Günter starrte sie wie ein Schwerverbrecher an.
Es war zwar nicht das, was Christa mit ihm vorhatte, aber der Anblick genügt ihr, um ihre Wut herunterzufahren. Immerhin waren sie Freunde.
Sie steckte ihre Hände in die Hosentaschen und schlenderte zu dem Wagen, der an der Post abgestellt stand. Dünnbier hatte sie aus den Augen verloren.
Sie öffnete die Beifahrertür, setzte sich auf den Wagensitz. »Tim, lass uns ein Schwätzchen halten!«


Tim

»Du warst gestern in Günters Kaschemme?«
Tim sah Christa an. »Ja.«
»Wann ist Benno aufgeschlagen?«
»Keine Ahnung.«
»Warum?«
»Als ich kam, war er bereits da.«
»Hat er sich mit Günter gestritten?«
»Weshalb?«
»Wegen der Fußballergebnisse?«
Tim kräuselte seine Stirn. »Am Donnerstag? War nicht einmal englische Woche.«
»Die Eintracht hatte verloren und die Wolfsburger gewonnen.«
»Ja. Aber am letzten Wochenende. Die Eintracht spielt wirklich grottig, wenn die so weiter machen, steigen sie wieder in die Dritte ab.«
Christa nickte. »Du bist Eintracht Fan?«
Tim schaute sich zuerst um, dann lehnte er sich zu Christa herüber. »Ne 96er«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»96er?«
»Hannover. Aber erzähl das niemandem. Außerdem starrte Benno teilnahmslos auf den Fernseher, wie ein Insasse von Günters Seniorenheim und Günter kam erst später mit Helene dazu, nachdem Lutz wieder hereinkam.«

»Wie wieder?«
»Ist doch logisch. Er hat nur mich begrüßt.«
Tim war manchmal nicht so dumm, wie Christa annahm. »Wer ist Helene?«
»Max! Wie er das mit den hohen Tönen schafft, aber den Mafhay traf er besser.« Tim stimmte sieben Brücken an.
Christa hielt sich die Ohren zu. »Gut, gut! Max hat gesungen. Wie spät war es?«
»Keine Ahnung, hab nicht auf die Uhr geschaut, aber warum fragst du das alles?«
Mit Information herausrücken war gefährlich, aber da Christa davon ausging, dass Tim mit dem Mord nichts zu tun hatte, verlor sie ihre Vorsicht.
»Die Tote war Gast auf Günters Campingplatz, vielleicht hast du sie gesehen.«
»Nee!« Er kicherte. »So eine Schnitte wäre mir aufgefallen, eigentlich habe ich gar keine Frau gesehen.« Er kratzte sich am Genick. »Warte! Als ich mein Fahrrad anschloss.«
»Ja.«
»Habe sie nur von hinten gesehen. Sie ging zu den Klos. Das war die aber nicht.«
»Weshalb?«
»Trug eine Hose.«
»Genauer?«
»Hotpants. Einen geilen Arsch hatte sie.«
»Tim. Größe, Haare?«
Tim beugte sich vor, schielte zum Himmel. »War schon sehr dämmrig.«
Zumindest vermochte Christa die Zeiten besser einzuschätzen. Als sie Trudes Gasthaus verlassen hatte, waren die Schatten so lang, dass die Straße, in der sich ihre Wache befand, in diese gehüllt waren. Damit hatte Benno nicht gelogen, jedenfalls was die Uhrzeit betraf, zu der er bei Günter eingekehrt war.

Christa kniff ihr linkes Auge zu. »Als dann alle bei Günter waren, hat dann jemand die Kaschemme verlassen?«
»Nicht das ich wüsste. Ich habe mit Lutz gedartet, bis mich Ben aufgefordert hat, Benno nach Hause zu verfrachten.«
»Mit deinem Fahrrad?«
»Nee, mit Bens Toyota.«
»Dann bist du wieder zurück?«
»Nee. Ich habe mein Fahrrad mitgenommen. Ist doch ein Kombi.« Er zupfte an seinen Fingernägeln. »Habe die Karre bei Benno abgestellt. Bin gleich nach Hause.«
Christa zog ihre Augenbrauen zusammen. »Warum warst du eigentlich bei Günter?«
Tim sah aus dem Fahrerfenster. »Na ja, hatte mich eigentlich mit Tina verabredet, aber die ist mit einer Freundin weg.«
»Mit einer Freundin?«
Tim schlug auf das Lenkrad. »Ich kenne sie nicht. Sie ist Erntehelferin.«
Christa tippte an ihre Schläfe. »Die Spargelzeit ist bereits vorbei.«
»Nee, die macht jetzt was anders. Hat aber Tina versetzt, wie sie es mir heute Morgen gesagt hatte.« Tim Biss auf seine Unterlippe. »Günter hat seinen Kiosk verlassen.«
»Wann?«
»Er hat Benno in den Toyota gewuchtet. Anschließend ging er in sein Büro.«

Schlauer war Christa nicht durch Tims Aussage geworden. Außer der Tatsache, dass Günter nicht zurück in seine Kaschemme und eine Frau über den Campingplatz stolzierte, was wahrlich nicht besonders war, erfuhr sie nicht neues. Dass Lutz ihr nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte, machte ihn aber nicht verdächtiger, als er war. Tinas Freundin war dagegen interessanter. Konnte es sein, dass diese Wanja war. Christa nahm sich vor, soweit es die Zeit zuließ, Tina einen Besuch abzustatten.
Christa zog das Haargummi von ihrem Pferdeschwanz, schüttelte ihr Haar aus, verdrehte es und band sich einen Dutt. Sie schloss die Augen. Lutz' Freundin war nicht die Person, die Wanja auf die Straße gelegt hatte. Sie wäre nie in der Lage ihre gesäßlange Mähne, derart zu drapieren, dass niemand dieses wahrnahm. Außerdem war ihre Oberweite zu mächtig.
»Tim, was hatte Benno an?«
»Wie immer. Latzhose!«
»Noch etwas?«
Tim kratzte sich an der Schläfe. »Seinen alten Pullover hatte er dabei.« Er erhob den Zeigefinger. »Aber er hatte ihn nicht an.«
Benno schoss es Christa durchs Gehirn. Es bestand die Möglichkeit, dass er zurück zu Günters Kaschemme gefahren und dort auf Wanja gestoßen war.
Diese wollte zu ihrer Freundin Tina. Er brachte sie zu ihr, kam aber nie an. Dass Benno sich an ihr vergangen hatte, schloss Christa aus. Einerseits war Benno zugedröhnt, anderseits hatte sie, bis auf die Hautpartikel unter Wanjas Fingernägeln, keine Abwehrspuren an ihr festgestellt.
Sie war verlobt, kam aus Osteuropa, damit einvernehmlicher Sex mit einem Fremden für Christa fragwürdig. Vielleicht hatte sich Benno nur an sie herangemacht. Benno gehörte zu der Art Mensch, der jeden in den Arm nahm.
Wanja fasste es anders auf, wehrte sich, schlug mit dem Hinterkopf irgendwo gegen und er fängt sie auf. Christa kratzte sich am Genick. Abwegig! Die Reaktionsfähigkeit von Vollgekifften strebte gegen null. Eine weitere Person war dabei gewesen.
Er kam ihr näher. Sie weigerte sich. Er! Christa strich das letzte Wort. Sie kannte Lutz zu gut. Er gehörte eher zu dem Schlag Männer, die sich entschuldigten. Das war es?
Wanja nahm die Entschuldigung nicht an, warf Lutz an den Kopf, sie würde es seiner Freundin erzählen. Ein Handgemenge, ein Schlag und sie war tot.
Hatte Tim Christa nicht erzählt, dass Tinas Freundin eine neue Stelle hatte. Was lag da näher als eine Anstellung bei den Eltern von Lutz Freundin. Dienstmädchen kämme infrage? Blödsinn, die verdienten nicht genug.
Es spielte keine Rolle. Eher die große Menge Bares machte einen Sinn, die ausreichte, um ein Auto zu erwerben. Fehlkauf, flog ihr durchs Gehirn. Wie für Ben war der Kauf für Lutz ein Fehlkauf. Benno hatte einen Käufer.
Außergewöhnlich war es nicht, dass die Saisonarbeiter mit Bennos Leuten feierten. Deshalb trafen sich Benno und Lutz in Günters Kaschemme. Warum sie keinen Rettungswagen riefen, war Christa einleuchtend. Der eine war betrunken, der andere zugekifft.
Es war nicht das erste Mal, dass jemand aus Angst, er verlöre den Führerschein, einen Unfall verschleierte. Mord schloss Christa aus.


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Versöhnung im Zelt
 
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