Kapitel 1: Grey (Teil 2/2)
Der menschenleere Markplatz war hell erleuchtet von der Mittagssonne, die erbarmungslos auf ihn nieder schien. Ein paar schwarze Vögel hatten sich auf den Pfählen, die ihn umsäumten, niedergelassen und starrten gebannt in seine Mitte. Ein großer Löwe lag dort, seine prächtige Mähne leuchtete in der heißen Sonne und trotz der Hitze schien sein Körper voller Kraft und Energie. Doch er regte sich nicht. Nur seine Krallen schabten rastlos über die Ziegel des Platzes.
Ein weiteres Tier betrat die Mitte des Marktplatzes ruhigen Schrittes. Die schwarzen Vögel fingen an zu kreischen und zu schimpfen, doch dies ließ die graue Gestalt nicht zögern. Leichtfüßig, obschon die Glieder alt und gebrechlich waren, überquerte der Hund den Platz. Der Löwe jedoch ließ ein lautes Grollen hören und sprang auf, die Krallen hinterließen weiße Spuren auf den Steinen. Der Hund blieb augenblicklich stehen, seine dunklen Augen voller Ruhe.
Der König der Tiere knurrte und die Schreie der Vögel wurden lauter und lauter. Sie stoben auf und flogen in einem Durcheinander über den Platz. Überall schwebten schwarze Federn zu Boden, füllten die Luft mit Dunkelheit wie ein Regen aus Asche. Der Hund sah das Raubtier noch immer mit unerschütterlicher Ruhe an. Der Löwe sprang auf ihn los, die blitzenden Krallen weit vorgestreckt...
„Ey, du!“ Shuichi spürte ein heftiges Schütteln an seiner Schulter. „Wir sin’ gleich da!“
„Was?“ Er fuhr auf und hätte den Jungen, der vor seinen in Panik weit aufgerissenen Augen aufgetaucht war, wahrscheinlich von sich geschubst, wäre da nicht ein Widerstand gewesen, der seine Hände an seinem Rücken zusammenhielt. Erschrocken wand er sich und versuchte, sich von ihnen zu befreien, ehe die Reste der grausigen Bilder seines Traumes schwanden und die Realität ihm wieder bewusst wurde. Seine Gegenwehr erstarb langsam und er ließ sich erschöpft zurückfallen. Wieder einmal drehte sich alles um ihn, als befände er sich in einem Wirbel. Er schloss kurz die Augen und wartete, dass der Schwindel zurückging, dann sah er vorsichtig zu dem Jungen herüber, der sich von draußen in den Wagen gelehnt hatte und seinen Blick unsicher erwiderte.
„Wir sin‘ gleich da.“, wiederholte er mit schwacher Stimme. „Has‘ wohl’n Alptraum g‘habt, eh?“
„Kann man so sagen, ja.“, erwiderte Shuichi schaudernd. „Und was heißt, wir sind gleich da? Hab‘ ich etwa wieder die ganze Zeit geschlafen?“
„Jepp!“ Der Pferdejunge hatte sich anscheinend von seinem Schrecken erholt und grinste breit. „War zwar schade, ich wollt‘ ja eigentlich mit dir reden, aber s’auch egal.“
Der kleine, brünette Junge krabbelte nun ganz in den Wagen und begann, fidel vor sich hin redend, in einer Kiste herumzuwühlen.
„Wir steh‘n kurz vor Seimon!“, erzählte er heiter. „Die Hauptstadt is‘ so toll! Da wollt’ ich schon immer ma‘ hin! Und ich hört‘, se hätt’n riesigen Markplatz! Da müss’n wir vorher auf jeden Fall noch ma‘ hin!“
Shuichi sparte es sich zu antworten. Der Junge erwartete eh keine Erwiderung von ihm. Er schien vollkommen in seine Beschäftigung und Gedanken versunken.
„So, da ham’wa‘n!“, rief er plötzlich aus und hielt ihm grinsend einen großen Kartoffelsack entgegen.
„Und?“, fragte Shuichi mit ratloser Miene, als er einen auffordernden Blick zugeworfen bekam.
„Da musste jetzt rein!“, erklärte der Kutschenjunge. „Is‘ doch kla‘, die Wachen sehen dich sons’noch! Wir müss’n inner Stadt mit offnem Wagen fahrn!“
„Was?!“
„Na, los!“ Etwas Strenge schlich sich in die kindlichen Gesichtszüge des Jungen. „Richt‘ dich ma‘ etwas auf, ich mach‘ dir die Seile jetzt ab.“
Schweigend, jedoch nicht in der Absicht, nachzugeben, tat Shuichi wie ihm geheißen und lehnte sich vor, damit der Kleine an die Stricke kam, die seine inzwischen schmerzenden Handgelenke aneinander banden. Als er schließlich spürte, wie die Bänder sich lösten, nahm er seine Hände nach vorne und befühlte die wunden Stellen, die sie zurückgelassen hatten. Er verzog das Gesicht.
„So, und jetzt ab innen Sack!“
Shuichi stand auf, schüttelte jedoch den Kopf.
„Nein, tut mir leid, Kleiner.“ Er lächelte leicht auf das Kind herab. „Du wirst deinem Boss wohl sagen müssen, dass ich dir entkommen bin!“
„Wieso?“ Der Junge zog nachdenklich dir Augenbrauen zusammen. „Aber ...“
Doch Shuichi ließ ihn gar nicht erst ausreden. Er schubste den Jungen, so dass er mit einem kleinen Aufschrei nach hinten fiel, wirbelte herum und sprang aus dem Wagen heraus, so dass der Staub des Weges, an dessen Rand er stand, in einer kleinen Wolke um ihn herum aufwirbelte.
„Halt!“, hörte er den Kutschenjungen mit unsicherer und verzweifelter Stimme rufen, doch er ignorierte ihn. Er musste hier weg! Er musste seine Geschwister so schnell wie möglich finden! Am Liebsten hätte er jetzt direkt den Weg nach Hause eingeschlagen, aber um sein Ziel zu erreichen, brauchte er erst einmal ein Fahrzeug. Ohne ein solches würde er nicht weit kommen. Er hatte zuerst überlegt, ob er den Jungen niederschlagen und seinen Wagen stehlen sollte, aber es war seinem extremen Geschwisterkomplex zuzuschreiben, dass er dem Kleinen nicht wehtun konnte. Ihn erwartete ohnehin wahrscheinlich eine schlimme Strafe dafür, dass er ihn hatte entkommen lassen.
Tja, und wo bekam man einen anderen Wagen? In der Stadt natürlich. Da musste er scheinbar wirklich in den sauren Apfel beißen und den Umweg in Kauf nehmen.
Wenn es nur nicht Seimon gewesen wäre! Bei jeder anderen Stadt hätte er keine Bedenken gehabt, einen Diebstahl zu begehen. Der Unterschied zwischen Seimon und den Städten im Umfeld war bloß, dass die Hauptstadt gnadenlos mit Dieben umging. Und er musste zugeben, dass er sich etwas fürchtete.
Aber wie es aussah, hatte er keine andere Wahl. Er brauchte dringend diesen Wagen!
Also machte er sich auf den Weg in Richtung Stadt, deren Kirchturm schon über den Baumwipfeln zu sehen war.
Unter normalen Umständen hätte er einfach jemanden gebeten, ihn mitzunehmen, aber momentan fühlte er sich mit Fremden nicht sicher genug. Die Welt schien auf einmal verrückt geworden zu sein und selbst seine Träume zeigten nur Schrecken. Wenn er die Bedeutung dieser Träume nur würde verstehen können...
Shuichi zog sich ins Gebüsch zurück und suchte sich dort verborgen einen Weg, der zur Stadt führen würde. Der Kutschenjunge würde ihn sicher suchen und obwohl er kleiner und schwächer war, wollte er seine wieder gewonnene Freiheit nicht wieder so schnell in Gefahr bringen. Dazu stand zu viel auf dem Spiel, denn obwohl seine Geschwister für mehrere Tage Nahrung hatten, dank der Beute, die er gemacht hatte, ehe er erwischt worden war, reichte der kleine Vorrat nicht für sehr lange Zeit aus. Sie waren noch so jung und würden sich selbst nicht helfen können.
Bedrückt sah Shuichi hinauf zur Mittagssonne, die durch die kargen Wipfel schien.
Seimon, Stadt des Ruhmes und Reichtums, Zentrum des Vier-Kolonien-Reiches, Kurbel des Welthandels und Bühne der schönsten und der schrecklichsten Dramen, die das Leben je geschrieben hatte. Es war der Ort, den die Menschen aufsuchten, wenn sie ihr Glück suchten. Der Ort, an dem die Reichsten und Schönsten residierten und die Ärmsten und Hässlichsten arbeiteten, um zu überleben. Er war das Ziel vieler Reisen und der Schauplatz zu vieler Tragödien.
Wer hier nicht reich werden konnte, wurde arm.
Eine Stadt, die zum brodelnden Hexenkessel geworden war. Revolution lag in der Luft und dies blieb keinem Besucher unbemerkt. Auch nicht Shuichi.
Er strich durch die belebten Gassen, vorbei an vielen Marktständen, die Keramikwaren oder Kleidung anboten. Er brauchte dringend neue Schuhe, da seine Sohlen ganz durchgetreten waren, doch er ignorierte den Drang, die Hand auszustrecken und einfach welche in seinen Mantel zu stecken. Die Menschen hier schienen ständig auf der Hut zu sein und immer wieder streiften grimmige Blicke ihn. Man war misstrauisch. Man war wütend.
Shuichi kannte zwar den Grund für die Spannung nicht, die die Luft fast zum zerreißen brachte, aber sie machte die Menschen hier übermäßig aufmerksam und ihn ärgerte dieses lästige Resultat. Er hatte inzwischen furchtbaren Hunger. Er war es vielleicht gewohnt, zwei oder drei Tage lang nichts zu essen, aber da lag auch seine Grenze. Er hatte nämlich schon ganze fünf Tage nichts mehr in den Magen bekommen.
Er passierte einen Stand, der Früchte anbot und spürte, wie ihm augenblicklich das Wasser im Mund zusammenlief. Die Äpfel waren so herrlich rot und schimmerten im Sonnenlicht. Das wäre ihm glatt wie eine Einladung erschienen, wäre da nicht der finstere Blick des Mannes hinter dem Tisch gewesen, der seine potentiellen Käufer warnend anblickte.
Shuichi stellte sich an eine schattige Ecke und wartete auf jemanden, der die Aufmerksamkeit des Verkäufers ablenken würde. Wenn er erst etwas gegessen hatte, würde er sich einen geeigneten Wagen oder auch ein Pferd suchen und verschwinden. Das war doch sicher kein Problem.
Tatsächlich kam nach wenigen Sekunden schon eine Frau an den Tisch des Obstverkäufers und suchte sich drei Äpfel heraus. Der Dieb kam näher, seine Beute fest im Blick, jedoch gleichzeitig ein Bild des Desinteresses bildend.
„Diese Äpfel sind so furchtbar teuer.“ Die Frau am Stand sah den Verkäufer flehentlich an. „Ich kann sie mir kaum leisten. Wie soll ich denn meine beiden Kinder satt bekommen?“
„Das tut mir aufrichtig leid, meine Dame.“, grummelte der bullige Mann mit aufgelegter Höflichkeit, die jedoch, je länger er sprach, zunehmend schwand. „Aber ich kann nicht jedem meiner Kunden Äpfel schenken, nur, weil er kein Geld hat. Wer nicht bezahlen kann, der bekommt auch nichts. Wenn ich einem etwas schenke, kommen alle und wollen das gleiche! Und das geht dann so weiter, bis ich am Ende da lande, wo auch ihr schon seid! Und da möchte ich wahrlich nicht hin!“
„Mistkerl!“, zischte die Frau und schoss ihm giftige Blicke. Überrascht machte Shuichi wieder einen Schritt zurück. Diesen plötzlichen Ausbruch hatte er nicht erwartet. Die Frau wandte sich halb um und sah von einem zum anderen. „Er weiß nicht, wie es ist, hier zu leben und badet abends in seinem gewucherten Reichtum! Verabscheuenswürdig!“
Zustimmendes Geraune kam von den umstehenden Menschen. Shuichi ergriff die Gelegenheit beim Schopfe, trat wieder vor und nahm sich schließlich schnell einen der Äpfel weg. Niemand bemerkte etwas, die Blicke waren allesamt auf die Frau und den Verkäufer fixiert.
„Weib, spotte nicht über mich!“ Das Gesicht des Händlers lief rot an vor Wut und Scham, jedoch eilte keiner der anderen Händler ihm zu Hilfe. Nur einige mitleidige und einige spöttische Blicke streiften den Kollegen und Konkurrenten.
„Spott ist fast das einzige, was ich noch habe.“, hohnlachte die Frau mit rauer, abgenutzter Stimme. „Doch warte nur, bald holen wir uns zurück, was uns genommen worden ist! Dann ist in Seimon für Wucher wie diesen hier kein Platz mehr, Händler!“
Sie warf drei Münzen auf den Tisch, steckte die drei gekauften Äpfel in ihre Tasche und verschwand mit hoch aufgerichtetem Kopf in der Menschenansammlung, die sich langsam wieder aufzulösen begann. Einige jedoch sahen den Verkäufer noch immer zornig an, als wollten sie ihn augenblicklich davonjagen.
Shuichi überlegte, ob er es riskieren konnte, noch einen weiteren Apfel zu stehlen, so lange die Anspannung noch in der Luft lag und hitzige Blicke ausgetauscht wurden. Es war ihm recht egal, was der Grund war, Hauptsache, er konnte endlich etwas essen. Und von einem mickrigen Apfel würde er niemals satt werden. Sein Hunger überwog schließlich und er trat vorsichtig wieder näher an den Stand heran. Seine rechte Hand griff nach dem köstlichen, roten Obst, bereit, es sofort verschwinden zu lassen...
„Nichts da!“
Eine riesige Pranke landete auf seiner Hand und Shuichi erstarrte vor Schreck. Er hatte gar nicht mehr auf den Händler geachtet und nur das Essen gesehen. Er sah von der Hand auf und in von Wut umwölkte Augen.
„Ein kleiner Dieb, was?“ Der Mann packte ihn am Kragen und beutelte ihn grob. „Wieder einer von euch dreckigen Strolchen! Dir werde ich zeigen, was es heißt, beim Klauen erwischt zu werden!“
Shuichi schloss fest die Augen und wartete auf den ersten Schlag, merkte jedoch dann, wie er losgelassen wurde und fiel zu Boden. Verwirrt schaute er auf. Der Mann hielt sich einen Arm und zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor.
„Jetzt reicht es aber!“, brüllte er und wandte sich an die Umstehenden. „Genug ist genug! Wer war das?!“
Die Menschen auf der Straße sahen unbeteiligt zur Seite und machten sich eilig auf den Weg. Wer auch immer das gewesen war, war nun fort. Shuichi, innerlich dem unbekannten Helfer dankend, sprang auf seine Füße und stob so schnell davon, wie er nur konnte.
„Hey!“, rief der Händler aufgebracht. „Haltet den Dieb!!“
Shuichi stürmte mit rasendem Herzen um eine Ecke und prallte gegen etwas Hartes. Oder eher... jemand Hartes...
Wie es mit seinem Glück so üblich war, war er natürlich direkt in eine der Stadtwachen hinein gestolpert. Natürlich hatte die Wache den Ausruf des Obsthändlers gehört und machte sich auch gleich daran, nach ihm zu greifen. Shuichi schlüpfte geschickt unter dem Arm hindurch und rannte in entgegen gesetzter Richtung davon.
Wie konnte ihm das nur passieren? Gleich zweimal hintereinander verpatzte er einen Coup und hatte die Stadtwache auf den Fersen! Und zu allem Unglück war er gerade jetzt ausgehungert, schwach und hatte eine Kopfwunde, die ihm einmal mehr Schwindel bereitete. Er kam torkelnd zum Stehen und hielt sich den mit dumpfem Schmerz pochenden Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein!
Shuichi blinzelte ein paar Mal, um die Umgebung wieder klar sehen zu können, jedoch wünschte er sich gleich darauf, sie nicht sehen zu müssen. Vor allem das Schwert nicht, welches ihm drohend gegen die Kehle gehalten wurde.
„Der nächste kleine Dieb, den wir einsacken.“ Die Wache war nicht einmal außer Puste. Aber dies war kein Wunder, er war nicht sehr weit gelaufen.
Zu erschöpft, um groß Widerstand zu leisten, ließ er zu, dass seine Hände mit einem rauen Seil zusammengebunden wurden und beobachtete dabei teilnahmslos den großen, belebten Platz, auf den er bei seiner kurzen Flucht gelaufen war. Ein Platz, der ihm seltsam vertraut vorkam. Seine Augen weiteten sich mit dem Erkennen. Ein Marktplatz... Ein Marktplatz, von Pfählen umsäumt. Pfähle, auf denen in seinem Traum schwarze Vögel gesessen hatten. Was hatte das bloß zu bedeuten?
Den groben Zug an dem Seil, an dem er abgeführt wurde, bemerkte er kaum.
Ein hilfloses Winseln entrang sich der Kehle des kleinen Welpen, als er spürte, dass er nicht weiter zurückweichen konnte. Vor ihm standen mehrere fauchende Raubkatzen, die ihre gierigen Lefzen entblößten und ungeduldig mit den Krallen spielten, die schabende Geräusche auf dem Ziegelboden des großen Marktplatzes verursachten. Und hinter ihm war eine Mauer, die ihm jeglichen Fluchtweg versperrte.
Auf eben jener Mauer stand ein Löwe und starrte auf die Raubkatzen hinab, die das Hundekind eingekreist hatten. Ein Raubvogel saß auf seiner Schulter, ein Tier, schwarz wie die Nacht. Auch er sah hinab auf die fauchenden Katzen.
Plötzlich erhob Lärm sich und eine Wolke aus Dunkelheit legte sich über den Platz, als ein Schwarm schwarzer Vögel herbei flog und wütend die Raubkatzen zu beschimpfen begann. Die Kreatur auf der Schulter des Löwen gab nur ein Kreischen von sich, lauter und eindringlicher als einer der anderen Vögel es konnte. Der Löwe stimmte mit einem Brüllen ein in seinen Ruf und die Raubkatzen stürzten sich auf den Welpen, ihre Krallen blitzend im Licht der Mittagssonne...
In der Ferne saß ein alter, grauer Hund, die beinahe schwarzen Augen voller Schmerz auf das Geschehen gerichtet. Seine Haltung verriet Hilflosigkeit, die der des kleinen Hundekindes gleichkam. Ein ersticktes Winseln entrang sich seiner Kehle, als wäre er es gewesen, der dort den Tod gefunden hatte.
Schluchzend rollte Shuichi sich zusammen und drückte sich weiter in die dunkle Ecke der Zelle. Er wollte diese Traumbilder nicht mehr sehen, hatte sie nie sehen wollen. Welche Macht spielte nur so ein grausames Spiel mit ihm? Er wollte nicht jede Nacht den Tod vor Augen haben. Er hasste diese Bilder!
Weitere trockene Schluchzer verklangen in der Einsamkeit der Zelle.
Es war hier so verdammt dunkel und er fühlte sich im Moment einfach so... vernichtet. Als hätte jemand seine ganze Hoffnung genommen und mit einem Schwert zerschmettert. Sein Leben war ohnehin nie besonders gut gewesen, immer hatte er sich und seine Geschwister mit Diebstählen durchschlagen müssen und selten einmal waren sie satt. Aber jetzt... jetzt lag er in einer finsteren Zelle in Seimon. Und jeder, der eine längere Zeit als Dieb gelebt hatte, wusste, was in Seimon mit einen der Ihren geschah, wenn sie von der Wache erwischt wurden. Wie hatte er sich jemals so von den Äpfeln hinreißen lassen können? Der Wagendiebstahl wäre schon ein Risiko gewesen, das er unter normalen Umständen nicht einmal zu Hause in Chikyu eingegangen wäre, geschweige denn in Seimon. Wie hatte er nur jemals so dumm sein können?
Jetzt wartete das Todesurteil auf ihn. Und es gab nichts, was er dagegen hätte tun können. Nur abwarten und beten. Doch anscheinend waren sogar alle höheren Mächte gegen ihn und schickten ihm Todesvisionen. Sie verhöhnten und verspotteten ihn.
Was würde bloß aus seinen Geschwistern werden, wenn er nicht mehr da war, um sie zu beschützen?
Ein leises Knarren ließ seinen Kopf hochfahren. Da war doch jemand?
Shuichi wischte sich rasch die Tränen aus den Augen und sah sich im Aufstehen um. Er sog scharf die Luft ein, als ihm klar wurde, was das Geräusch verursacht hatte. Die Zellentür stand sperrangelweit offen und in ihr stand... der graue Hund.
Nur kurz hielt das alte Tier den Augenkontakt, dann wandte es sich um und verschwand im Gang. Shuichi spurtete hinterher, doch als er die Tür erreicht hatte und hinaussah, war er nirgends mehr zu sehen. Der Hund war fort und ließ abermals einen Jungen zurück, der sich fragte, ob das Tier echt war, oder eine bloße Einbildung.
„Hey, psst!“
Shuichi wandte erschrocken den Kopf um und entdeckte eine weitere Zelle. Durch das Gitter hindurch blickte ihm ein von wuscheligem Haar umrahmtes Gesicht entgegen.
„Wie hast du das denn gemacht?“, fragte der Junge aufgeregt und Shuichi war noch entsetzter als er es ohnehin schon war, als er realisierte, dass das tatsächlich ein Kind war, das hier im Gefängnis saß und auf seine Todesstrafe wartete. Er konnte gerade einmal acht Jahre alt sein. Vermutlich hatte auch er Diebstahl begangen. Seimon ging unbarmherzig mit Dieben um. Es gab zu viele arme Leute, die stahlen und man erhoffte sich, sie mit härteren Strafen abzuschrecken. Aber die meisten der Menschen Seimons hatten kein Geld und Stehlen stellte ihre einzige Möglichkeit dar, zu überleben.
„Machst du meine Tür auch auf?“, fragte der Junge mit einem hoffnungsvollen Funkeln in den blauen Augen.
„Ich kann es versuchen.“, antwortete Shuichi, als er endlich seine Sprache wieder gefunden hatte. Er beeilte sich, zu der Zelle laufen und kniete sich vor dem Schloss nieder.
„Eine Nadel würde mir jetzt helfen.“, seufzte er. Leider hatten die Wachen ihm alles abgenommen, was er besessen hatte, einschließlich des köstlichen Apfels.
„Geht auch eine Haarnadel?“, fragte der Junge in der Zelle grinsend.
„Würde mir schon reichen.“, murmelte Shuichi mit einem verwirrten Blick. Der Kleine griff sich ins zottige Haar und zog tatsächlich eine kleine, blitzende Nadel hervor.
„Wie bist du damit bei den Wachen durchgekommen?“, fragte Shuichi ungläubig, konnte es sich allerdings schon selber denken.
„Wer erwartet denn von einem kleinen Jungen, dass er eine Haarnadel trägt?“ Der Junge grinste. „Hab‘ sowas immer für den Notfall dabei. Leider kann ich keine Schlösser aufmachen.“ Er zuckte die Schultern und reichte die Haarnadel an Shuichi weiter, der sich sofort an die Arbeit machte. Wenige Augenblicke später war die Tür offen und der Junge stand neben ihm.
„Jetzt müssen wir nur noch lebend rauskommen...“ Shuichi lehnte sich erschöpft an eine der Wände und versuchte, seine geschwächten Kräfte zu sammeln.
„Kein Problem.“, Der Junge lachte ihn optimistisch an. „Ich kenne einen Weg.“ Er machte eine kurze Pause und streckte dann seine Hand aus. „Ich heiße Yurei und bin ein Vagabund.“
„Ein Vagabund?!“, keuchte Shuichi, ergriff aber trotzdem die angebotene Hand. „Sag mal, wie alt bist du denn?!“
„Zehn Jahre.“ Für den Jungen, Yurei, schien das nichts Besonderes zu sein. „Aber sag mal, wie heißt denn du?“
„Shuichi...“, murmelte er und schüttelte den Kopf, gedanklich noch immer bei dem zehnjährigen Vagabund. War das wirklich wahr? Oder log er nur? Strich er tatsächlich heimat- und ziellos durchs Land? Ein Kind?!
„Gut, Shuichi.“ Die kleine Hand drückte seine etwas fester und er zog ihn dann den Gang hinab, ein glückliches Lächeln auf den Lippen. „Dann lass uns hier abhauen. Ich mag diesen Ort nicht.“
Shuichi folgte ihm verdattert. Sein Tag sparte anscheinend nicht mit sonderbaren Drehungen und Wendungen. Kaum hatte er die Hoffnung aufgegeben, hier jemals lebend herauszukommen, floh er auch schon mit einem kleinen Jungen, der für gewöhnlich durch das Land vagabundierte. Er fragte sich ernsthaft, was das noch übertreffen konnte.
Ende von Kapitel 1: Grey