Count. Down.

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Dimpfelmoser

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Count. Down.

Fünfundsechzig

Warum, verdammt noch mal, warum ein Brief? Eine beschissene Seite in deiner beschissenen, verschnörkelten Schrift? Einfach so? Mehr war es Dir nicht wert? Und zum Abschluss nichts weiter als „Bye, schönes Leben noch, Arschloch“? Was glaubst Du denn, was ich bin, du Dreckstück? Hältst mich hin, machst mir schöne Augen, wenn es Dir gerade passt. „Schatzi, heute nicht so spät zu Hause. Wir heute machen heeeiße Abend.“ Scheiß auf Schatzi, scheiß auf den heeeeeeißen Abend. Drauf geschissen. Auf alles geschissen. Auf dich geschissen. Genau, Kohle geschissen, das hab’ ich für Dich. Dein Goldesel, das war ich, Dein bekackter Goldesel. Schleppt Dir die Kohle ran, damit Du Deiner Vorstadtschickeria von Deinen neuesten Eroberungen auf der Kö vorschwärmen kannst. Damit Du Dich und Deine Kurven, diesen verdammten, geilen Körper, von den Muskelbergen in ihren röhrenden Porsches und Ferraris bewundern lassen kannst. Damit Du Dich in ihren Luxusbruchbuden nach Strich und Faden durchnageln lassen kannst. Ha, glaubst Du, das wusste ich nicht? Natürlich wusste ich das, Scheiße, und wie ich das wusste. Wie ich das immer schon wusste. Du denkst, Du kannst Dich durch die Betten aller Sonnenbankschwänze der Stadt huren? Dir das Hirn aus Deinem hübschen Köpfchen vögeln und mir hinterher beim Abendessen irgendetwas von einem öden Kaffeeklatsch mit Deinen tumben Botox-Gesellinnen vormachen? „Ach, Tag war wieder sooo anstrengend, kommt Migräne glaube ich. Geht nicht heute, morgen bestimmt?“ Und jetzt nichts als ein billiger Fetzen Papier? Für wie dämlich Du mich die ganze Zeit gehalten haben musst. Ja, ...

Dreiundsechzig

… wie verdammt dämlich ich tatsächlich war. Dir nachzublicken, wenn Du Dich halbnackt ins Cabrio setzt und mir irgendwas zuflötest wie „Maniküre heute, dauert lääänger, Du sowieso viiieeel Arbeit heute?“ Und ich, ich stehe nur da und kann an nichts anderes denken als an den Abend mit Dir, die Nacht in Dir. Oh ja, die Nacht, diese unglaubliche, schwüle Nacht in Budapest. Diesen Tag, diese Nacht, das wollte ich noch einmal. Und noch einmal. Immer und immer wieder. Mit Dir, nur mit Dir. Meine Welt habe ich Dir zu Füßen gelegt. Alles, alles was Du nur wolltest, Du konntest es haben. Konntest Dir nehmen, was immer auch nötig war. Scheiß auf das Geld, was hatte ich denn von all dem Luxus, all dem Tand, dem Prunk? Ja, diese Nacht in Budapest, in einer einzigen Nacht hast Du mich in die Abhängigkeit getrieben, hast mich zu Deinem Libidojunkie gemacht, auf der Suche nach dem einen, dem nächsten, dem goldenen Schuss. Wenn Du fuhrst, wusstest Du doch immer ganz genau, wie ich dastand, Dir nachblickte. Dein perfekter Arsch ein Nachbild im Dunkel meiner vernebelten Ratio, mein Korpus leckend wie ein alter, inkontinenter Sack. Genau das ist es, was ich war, was ich bin. Dastehen, Dir hinterher starren, und ganz genau wissen, da fährt Sie, die Schlange sucht und findet ihr nächstes Opfer. Aber weißt Du was? Rein, raus, vergessen, interessierte mich letztlich nicht. Denn ich wusste, Du würdest zurückkommen, und der Abend würde mir gehören. Dann endlich wäre wieder ich an der Reihe, dann wärst Du mein, für die Ewigkeit einer Nacht. Und irgendwann, irgendwann wäre ich Dir endlich genug, wäre Dir unser Leben genug. Dies wusste ich sicher, nur so konnte es, nur so würde es sein. Das war das Versprechen, das uns Budapest gegeben hatte. Das Du mit Deinen vulgären, ungelenken Worten beschmutzt hast. Und immer, immer wieder frage ich mich, warum nur? Warum habe ich Dir damals in Budapest diese Brücke zeigen wollen? Du erinnerst Dich, nicht wahr? An die Brücke in …

Siebenundfünfzig

… Budapest? Vier Jahre ist das schon her. Vier Jahre. Diese Konferenz in der alten Universität, mit Gräf und Junger war ich dort. Ja, bei denen kann ich mich dafür bedanken, Dich getroffen zu haben. Etwas gegessen hatten wir, in der Nähe dieser fantastischen Synagoge in der Tabakgasse. Ich hätte zur Besichtigung gehen sollen, was wäre mir, was wäre uns erspart geblieben. Aber nein, Gräf und Junger mussten in die Stadt, mir zeigen, was Budapest sonst noch so zu bieten hat. Zu bieten, ha, zu bieten hatte sie das Versprechen auf gute Geschäfte und guten Sex. Und wie sehr dieses Versprechen dann eingelöst wurde. Budapest, steingewordener Laufsteg der Schönen, Geheimnisvollen, Sündigen. Ihre ungekrönte Königin, die schlaueste, geschickteste unter den Raubkatzen, immer auf Beutezug, immer auf der Suche nach willigen Opfern, das warst Du. Konntest erstaunlich gut Deutsch, jedenfalls gut genug, um uns anzumachen, dummes Touristenmädel aus der ungarischen Provinz, das Du zu sein vorgabst. „Kettenbrücke? Löwe? Du weißt wo? Du wollen mir zeigen?“ Na und ob, ich zeige Dir die Brücke. Und wie ich sie Dir, wie ich es Dir zeigen werde. Einen Löwen möchtest Du sehen? Na, das lässt sich machen, Mädchen, den Löwen sollst Du haben. Ja, Gräf und Junger wussten Bescheid. „Mensch Jürgen, die zocken hier die Geschäftsleute ab, vergiss es.“ Es war mir egal. Und Du, Du wusstest vom allerersten Moment an, dass ich mit Dir gehen, Dir die Brücke mit dem Löwen zeigen würde. Dir würde zeigen wollen, welcher Löwe in mir steckt. Oh ja, ein Löwe war ich, Dein Löwe in dieser unfasslichen, langen, heißen Nacht. Und Du? Du warst meine Dompteuse, hast mich durch die Manege geführt, mein Verlangen dressiert, meine Lust kanalisiert. Was für ein geiles, was für ein abgebrühtes Weibsstück Du warst. Was für ein gerissenes, was für ...

Sechsundvierzig

… ein mieses Luder Du bist. Weißt Du, was sich auf Dompteuse wunderbar reimt? Natürlich weißt Du es. Und ich, ich weiß es auch, bekomme es nicht mehr aus meinem Kopf. Du bringst mich um meinen Verstand, ich bekomme Dich nicht mehr aus meinem Kopf. Verdammt, ich halte es nicht mehr aus, halte mich nicht mehr aus. Halte Dich nicht mehr aus, Deine Verlogenheit, Dein Hinhalten, Deine Versprechungen, die meine Fantasie quälen. Ich lese Deinen Brief, Deine Abrechnung mit mir und meiner naiven Leidenschaft, und höre Dich dabei wieder fragen, nachdem ich Gräf und Junger für unsere letzte Session abgesagt hatte: „Du reich? Viel Geld, deutsche Geld? Du mich mitnehmen?“ Ja, ich nahm Dich mit, Dich, meine kleine Löwin. Na klar, natürlich wusste ich, worum es letztlich geht. Reich? Ja, verdammt, ja. Ich alt, ich reich. Du arm, Du hübsch. Aber, hey, Geld regiert die Welt, oder? Das wusstest Du, und das wusste ich. Das Spiel habe ich lange genug gespielt. Mein ganzes Leben ein Beleg dafür, dass ich es gut, dass ich es erfolgreich zu spielen verstehe. Und dieses Spiel, Dein Spiel, würde ich locker gewinnen. Mit Speck fängt man Mäuse, und von denen hatte ich weiß Gott mehr als genug. Tja, diese Lektion habe ich gelernt: Mit Mäusen fängt man keine Löwen, sondern Schlangen. Dein Löwe war ich für eine Nacht. Und danach? Eine dressierte Zirkusmaus, das hast Du aus mir gemacht. Und schließlich hast Du mich bei lebendigem Leibe verschlungen. Hast mich mit Haut und Haaren verdaut und ausgeschissen. Dachtest Du wirklich, so würde es funktionieren? Fährst frisch gehäutet der Sonne entgegen, suchst Dir Dein nächstes Leben, suchst Dir einen neuen Löwen, den Du zum mickrigen Nager machen kannst, um auch ihn dann irgendwann hinunterzuwürgen? Nicht mir mir, Du Schlange, so etwas machst Du …

Zweiunddreißig

… nicht mit mir. Dein Brief liegt im Handschuhfach, Zeugnis Deiner ganzen Verkommenheit. Sollen sie es doch alle lesen, es ist mir egal. Aber warum, zum Teufel, warum konntest Du mir nicht ins Gesicht sagen, was Du von mir hältst? Warum hast Du mir nicht wenigstens eine kleine Chance gegeben zu verstehen, was Dir fehlt? Verdammt, Du hättest mir einen Grund geben können, nur einen einzigen Grund, den ich wirklich verstehen kann. Ich hätte es geändert, hätte es geregelt. Und wir hätten, das weiß ich, einen Weg finden können. Niemals hätte es Dir an irgendetwas gefehlt. Du Biest, Du Natter, was mehr wolltest Du denn? Was mehr hättest Du woanders erwarten können? Was, glaubst Du, wärst Du denn ohne mich gewesen, was wäre aus Dir geworden, ohne mich? Dieses Foto hier, ich trage es bei mir, seit vier Jahren, seit unserer ersten Begegnung. Ja, das ist unser erstes Foto, damals auf der Kettenbrücke. Sieh Dich nur an, Dein rosengleiches Antlitz, Dein Lächeln im Glanz der Abendsonne. Sieh Dich doch nur an, nur wenige weitere Jahre, und Du wärst verblüht, nur noch eine Erinnerung unter vielen auf dem Komposthaufen der Geschichte. Deine elegante Raubkatzenattitüde, verkommen zur lächerlichen Pose im Zoo der Eitelkeiten. Deine verruchte Aura lustvoller Versprechen nur noch stinkender Odem Deiner verwesenden Hülle. Nein, das willst Du nicht, kannst Du nicht wirklich wollen. Und ich, ich lasse das nicht zu. Lasse nicht zu, dass Du mich so quälst. Lasse nicht zu, dass Du diesen Weg gehst. Ich hole sie zurück, meine Löwin, vernichte die Schlange. Erinnere Dich an Budapest, erinnere Dich an die Löwen ...

Dreizehn

… auf der Brücke. Sieh hier, ich zeige Dir die Brücke, meine Löwin. Wir gleiten zurück durch die Zeit, stehen wieder auf der Kettenbrücke, siehst Du? Da vorne sind sie, die beiden gewaltigen Löwen. Und da hinten, sieh doch, zwei weitere, alle vier ebenso stolz, ebenso grausam wie Du. Sieh sie Dir an, was kann eine Schlange gegen diese mächtigen Gestalten ausrichten? Sie sind, sie bleiben unvergänglich, trotzen der unbarmherzigen Zeit, dem Vergehen, dem Vergessen. Genauso wie wir. Komm, meine Löwin, kein Zurückblicken mehr. Keine Fahrt in die aufgehende Sonne. Keine Versprechen eines unbestimmten, unbekannten Morgen. Du bist mein, wir sind eins für die Ewigkeit einer Nacht. Wir fallen gemeinsam in das Unendliche. Ich halte Dein Foto, schwebe mit Dir hinab. Lass los, lass Dich fallen, lass mich in Dir fallen. Wir sind zusammen, für immer vereint. Ich werde bei Dir sein, Du wirst mit mir sein. Wir werden sein, verlassen …

0 m!

… wurde das Fahrzeug, ein Cabriolet der Marke P., mit offenem Verdeck mittig der fünfundsechzig Meter hohen Mintarder Ruhrtalbrücke auf dem Standstreifen der A52, Fahrtrichtung Essen, gefunden. Vom Fahrzeugführer fehlt weiterhin jede Spur. Der Fahrzeughalter, Jürgen B. aus D., wurde gestern als vermisst gemeldet. Aufgrund des aktuellen Sachstandes kann auch ein Gewaltdelikt nicht ausgeschlossen werden. Sachdienliche Hinweise, die zur Aufklärung dieser Angelegenheit beitragen, nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.
 
Zuletzt bearbeitet:

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Dimpfelmoser,

bevor ich mich zum Inhalt äußere, muss ich gestehen, dass mich die Zahlenangaben verwirren.

In einem bestimmten Alter erinnert der Mann sich, das ist klar.

Aber die Zeitangaben in den Texten verstehe ich nicht. Vier Jahre ist eine Begegnung her? Wie passt das zu den übrigen Altersangaben?

Um Aufklärung bittet

DS

(Keine Sorge, ich finde den Text sonst klasse)
 

Dimpfelmoser

Mitglied
Hallo DS,

Du meinst die Zwischenüberschriften, oder? die Idee dieser Zahlen (tatsächlich keine Zeitangaben, obwohl das für die 65 schon passen würde) war grob folgende: Die Mintarder Ruhrtalbrücke misst an ihrer höchsten Stelle etwa 65 m. Es dauert für jemanden, der sich aus dieser Höhe nach unten stürzt, grob zwischen dreieinhalb und vier Sekunden, bis er oder sie unten (Höhe 0 Meter) ankommt. Dazwischen dachte ich an etwa gleich große Zeiteinheiten, etwa 0,65 Sekunden, in denen man zunächst 2 (auf 63 Höhenmeter), dann insgesamt 8 (auf 57 Höhenmeter) usw. zurücklegt, alles grob gerundet (bitte nicht auf physikalische Korrektheit, etwa wegen des Luftwiderstandes, festnageln).
Leider hat es hier früher tatsächlich viele traurige "Vorfälle" gegeben, von denen ich mal gelesen hatte.

Viele Grüße
Dimpfl
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Dimpflmoser,

jetzt verstehe ich! Leider ist das ein Manko des Textes und vielleicht kannst Du das irgendwie anders gestalten.

Ansonsten: Die Verzweiflung des Prot kommt sehr gut rüber und nimmt den Leser mit. Für wen man Sympathie hegen soll, bleibt offen und jedem selbst überlassen. Gut gemacht!

Viele Grüße

DS
 
Gewiss, hübsch zu lesen, Spiel mit dem Klischee, operettenmäßig sozusagen.

Aber eine gewisse Schlüssigkeit fehlt mir: Wer so viel Wut in sich spürt, springt der selber? Oder beseitigt der nicht lieber die böse Geliebte, an die er sich gekettet fühlt? Und ohne Deine Aufklärung wüsste man nicht, dass es sich um einen Suizid handelt, bzw die "Suchmeldung" kommt reichlich unvermittelt.
 

Dimpfelmoser

Mitglied
Hallo DS und Binsenbrecher,

so richtig "rund" ist das mit den absteigenden Zahlen offenbar wirklich nicht; ich überlege mir mal, wie dies anders dargestellt werden könnte.
Was die Schlüssigkeit des Textes betrifft, so kann man das sicher so sehen wie Du, Binsenbrecher. Es wäre sicher möglich, die "Evolution" des Suizidentschlusses ausführlicher und damit insgesamt nachvollziehbarer darzustellen. Vielleicht stürzen aber auch zwei Personen von der Brücke? Ein wenig bleibt dies ja offen, denke/hoffe ich. Dass allerdings erst der Schluss offenbart, was hier tatsächlich passiert, ist schon so gedacht.
In jedem Fall aber ein Dank an euch für die Beschäftigung mit dem Text.

Viele Grüße
Dimpfl
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Dimpfelmoser,
vielleicht könntest du einfach zu der letzten Zahl noch die Einheit nennen, also "Null Meter Höhe". Dann hättest du bei den ersten Zahlen den Effekt, dass sich der Leser wundert und bei der Letzten bekommt er dann in zwei Worten die Auflösung.
Wenn Du die Höhe der Brücke im letzten Absatz noch mal nennst, kann das sicher auch nicht schaden.

Kann sein, dass ich hier etwas auf dem Schlauch stehe, aber diesen Satz verstehe ich nicht: " Vom Fahrzeugführer fehlt weiterhin jede Spur. " Wenn er von der Brücke gesprungen ist, sollte es doch eine sehr deutliche, sehr unappetitlich Spur von ihm geben, oder?

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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