Da sage noch einer, Salat ist gesund! - Ein Kurzkrimi

rotkehlchen

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Wäre Frau Marion Senff-Schabeisen, geb. Senff, keine so große Baumliebhaberin gewesen, dann hätte sie ihren Mann nicht umgebracht, und hätte sie sich in der Pflanzenwelt nicht so gut ausgekannt bestimmt nicht auf diese Weise. Doch nun ist es geschehen, zwei Jahre schon ruht der Verblichene im Schoß von Mutter Erde. Todesursache: Herz-Lungenversagen. Die Kriminalpolizei hat den Fall abgeschlossen, weil keinerlei Fremdeinwirkung festzustellen war.
Und doch war es Mord, hinterhältiger, perfider Mord.
Schon als ganz junge Frau sah man sie, auf der Jagd nach seltenen Pflanzen, in Gummistiefeln und Regenjacke durch Feld Wald Wiese stapfen – ja, man kann durchaus von Jagd reden, denn Diana hatte ihr eine Leidenschaft eingehaucht, in der sie auch vor Grenzen nicht Halt machte; sah sie irgendwo ein seltenes Exemplar, überwand sie Stacheldrahtzäune; so manches naturgeschützte Kraut fiel ihrem Sammeleifer zum Opfer.
Noch am Fundort bestimmte sie das Objekt ihrer Begierde, legte es dann, sorgfältig ausgebreitet, zwischen Stapel saugfähigen Zeitungspapiers, um es acht Tage lang zu trocknen und zu pressen. Dann nahm sie das trocken-steife Objekt heraus, klebte es auf einen weißen Bogen, schrieb botanischen Namen, Fundort und so weiter dazu und heftete es in einen Ordner. Bald rühmte sie sich, wahrscheinlich die umfangreichste Pflanzensammlung in der Stadt, wenn nicht sogar im gesamten Landkreis zu besitzen – was durchaus möglich war; wer sammelt denn schon getrocknete und plattgedrückte Pflanzen, die jeden natürlichen Anblick vermissen lassen.
Doch Fräulein Senff sah die Sache anders. Jetzt, vor dem matt-weißen Hintergrund des Bütten-Bogens, in ihrer Zweidimensionalität von keiner Bewegung oder überflüssigem Beiwuchs gestört, erkannte sie die wahre Schönheit der Pflanzen. Verzückt betrachtete sie die verschiedenen Blattformen, die sie herz-, schild- oder nierenförmig anlächelten, genoss die atemberaubende Vielfalt der Gestalten, die aus der Variation einiger weniger Grundformen erwuchs; zog beglückt den Geruch des getrockneten Weißklees ein, der immer noch nach Heu duftete; liebäugelte mit dem knalligen Gelb der Besenginsterblüten; erlitt eine leichte Depression angesichts verblassendem Vergissmeinnicht-Blaus. Unablässig wälzte sie botanische Bücher, schlug hier nach, schlug da nach, schlug dort nach; so konnte es nicht ausbleiben, dass sie in botanicis bald besser Bescheid wusste als der Biologielehrer.
Aber nicht nur krautigen Gewächsen galt ihre Liebe; auch Bäumen flog ihr Herz zu, besonders wenn sie uralt waren; alte, knorrige Bäume mit schwarz-rissigen Borken, den Seelen Gefolterter gleich, waren für sie der Inbegriff wahrer Größe und Duldsamkeit, der edelste Beweis für die verzeihende Kraft der Natur. Nicht dass sie dabei ins Esoterische verfallen wäre; Vorstellungen, Pflanzen könnten Emotionen zeigen, Schmerzen oder gar Abneigung gegen gewisse Menschen empfinden, wies sie als unbewiesene Hirngespinste zurück. Inzwischen studierte sie nämlich Biologie und lernte, dass Empfindungen an das Vorhandensein von Nerven gebunden sind, und Pflanzen haben nun mal keine Nerven, wie man sie auch dreht und wendet. Es ist unbewusstes, gefühlloses Leben, doch sie war überzeugt: In seiner Art nicht weniger faszinierend wie bewusstes, gefühlvolles, und genauso schützens- und liebenswert.
Eines Morgens las sie in der Zeitung, ein reicher Bürger habe der Stadt seine umfangreiche Kunstsammlung vermacht; ein Museumsneubau sei geplant, und zwar im Kurpark, dazu müssten einige alte Bäume entnommen werden –
„Entnommen!“, rief sie aufgebracht und warf die Zeitung wütend auf den Boden, „O welche Verlogenheit!“
Auf einmal verspürte sie Hass; Hass auf diese Stadtobrigkeit, die lauthals die „Grüne Stadt“ propagierte und in Wirklichkeit genau das Gegenteil bewirkte; Hass auf diese blindwütigen Ökonarren, die sich um das Weltklima sorgten aber die Baummorde zwei Querstraßen weiter mit keinem Wort erwähnten; Hass auch auf diese Zivilisation, die sich wie ein Krebsgeschwür immer weiter in die Natur fraß und ihr den Atem nahm.
Die angekündigte Fällaktion regte sie dermaßen auf, dass sie sich einen Tag krank meldeten musste.
Allmählich beruhigte sie sich wieder, denn Hass, anders als Liebe, ist meist nicht von Dauer. Einen Moment noch überlegte sie, ob sie ihrem Ärger in Form eines geharnischten Leserbriefs Ausdruck geben sollte; doch dann ließ sie es. Sie erinnerte sich an die vielen Protestschreiben, die in ähnlicher Sache verfasst und vom Lokalblatt brav veröffentlicht wurden, aber nichts genutzt, im Gegenteil alles nur noch schlimmer gemacht hatten: Daraufhin waren mehrere Bäume einer alten Kastanienallee ohne Vorankündigung über Nacht verschwunden, angeblich, weil ihre Standfestigkeit nicht mehr gegeben war. Ein von lokalen Umweltschützern beauftragter und bezahlter Baumexperte stellte anhand der Stümpfe jedoch fest, dass zumindest zwei der Bäume noch kerngesund gewesen waren.
Frau Senff, soweit es ihre Zeit zuließ, sammelte weiter Pflanzen, trocknete und presste sie; abseits vom Getriebe der Stadt mit ihren falschen Versprechungen fand sie Ruhe und Vergessen. Vor einem besonders mächtigen Baum, einer knorrigen, uralten Eiche, der man die Stürme des Lebens schon von Weitem ansah, blieb sie stehen, blickte ehrfürchtig in das Gewölbe seiner Krone, streichelte andächtig die von Jahrhunderten gehärtete Borke, umarmte den Stamm wie eine Frau ihren Liebhaber, berauschte sich an dessen unfassbarem Umfang. Solch eine Kraftgestalt wog ihr all die fehlenden Männerbekanntschaften auf, um deretwegen sie ihre Freundin schon kopfschüttelnd ansah. Wie, was? Zweiundzwanzig, und noch keine feste Beziehung? Wo gibt’s denn sowas?
Doch dann, an einem sonnigen Tag im Mai, schlug der Liebesgott sie doch noch in seinen Bann. Die Pflanze hieß Sebastian Schabeisen und war ein junger Mann, den sie schon ein paarmal gesehen aber keine Beachtung geschenkt hatte, weil er ihr zu „dröge“ vorgekommen war. Doch jetzt, auf der Geburtstagsparty ihrer Schwester, erwies er sich alles andere als trocken. Schon der Name Senff mit Doppelef veranlasste ihn zu heiterem Gelächter. Am Tisch setze er sich neben sie und bot ihr immer wieder Senf an, wobei er sich zum Gaudi der Anwesenden in immer gewagtere Wortspiele mit „süßer Senf aus Bautzen“ verstieg, von denen „möchtest du Süße noch Senf?“ oder „meine senf-süße Butzi-Batzi-Bautzi“ noch die vernünftigsten waren. Aber auch der Name Schabeisen gab Anlass zu den vielfältigsten Blödeleien; so kam man sich langsam näher.
Das absehbare Ende vom Lied: Nach einem halben Jahr waren sie verlobt, und übers Jahr ein Paar.

Es hätte alles gut gehen können, denn beide liebten die Natur: Sie die Pflanzen, er die Tiere. Nicht die schlechteste Basis für eine Beziehung. Sie träumte von einem großen Garten mit einem Wald alter Bäume, er wünschte sich mindestens vier große, starke Hunde. Die Finanzlage ließ jedoch nur einen mageren Kompromiss zu: Einen kleinen Garten mit nur einem Baum, einem Spitzahorn, sowie für ihn einen mittelgroßen Hund, allerdings mit vier Beinen.
Ja, es hätte alles gut gehen können...
Eines Morgens überraschte er sie mit der Bemerkung, er würde gerne einen Careport bauen, dafür müsste allerdings der Ahorn weichen. Frau Senff-Schabeisen, wie sie sich jetzt nannte, ließ Messer und Gabel fallen. „Das ist doch nicht dein Ernst“, würgte sie mühsam hervor.
Doch, es war sein Ernst. Als sie acht Tage später von einer Klassenfahrt – sie war inzwischen zur Biologielehrerin avanciert – nach Hause zurückkam, erblickte sie anstelle des Ahorns ein Careportgerüst. Daneben stand der Hund und bellte sie erbittert an – sein Hund. Der Köter sah in ihr auch nach zwei Jahren häuslicher Gemeinschaft immer noch einen fremden Eindringling.
In ihre Augen traten Tränen. Eine perfekte Baumgestalt – unwiederbringlich dahin, aus schnödem Anlass brutal vernichtet. Ein Ersatzgewächs würde Jahrzehnte brauchen, um überhaupt als Baum in Erscheinung zu treten – gesetzt, es würde den Klimawandel überleben. Kostbare Erinnerungen stiegen auf. Die warmen Augustabende, an denen die Glühwürmchen ihre Hochzeitsreigen um den Ahorn tanzten. Das nächtliche Rauschen seiner Blätter, wenn der Wind hineinfuhr. Die flammende Pracht seines Herbstlaubs.
Sie merkte, wie sich ihr Bauch mit Wut füllte. Dieser Mann, haderte sie mit zusammengekniffenen Lippen, ist also auch nicht besser als diese rohen, gefühllosen Gesellen, die den herrlichen Linden an der Brücke das Leben genommen haben, nur damit jetzt statt zehntausend Autos pro Tag zwanzigtausend hindurchfahren können. Der nächste Gedanke: War ihr Mann ein roher, gefühlloser Geselle, gar ein schlechter Mensch? Nein, einen besseren Mann hätte sie sich nicht wünschen können. Sebastian war genauso wenig ein schlechter Mensch wie die anderen Baummörder und ihre Hintermänner. Alle liebten ihre Frau, ihre Kinder, ihren Hunde, gingen geregeltem Tagwerk nach – zumindest die meisten. Keiner dieser Naturvernichter für sich war ein schlechter Mensch, doch alle zusammen bildeten sie eine unselige Bruderschaft, anscheinend darauf aus, den Blauen Planeten gründlich zu ruinieren.
In diesem Moment ging ganz in der Nähe eine Motorsäge an. Das furchtbare Geknatter verwandelte ihre Wut in kalten Hass. Ihr Blick fiel auf eine der Blumenrabatten, die in der Abendsonne glühten. Auf einmal wusste sie, was sie zu tun hatte.

Frau Senff-Schabeisen ging ins Haus, legte ab, und begann mit der Zubereitung des Abendessens. Bevor sie sich an den Salat machte, nahm sie Schüssel und Schere und ging nach draußen. Als sie zurückkam, war die Schüssel mit grünem, lauchähnlichem Blattwerk gefüllt.
Die Haustür schlug zu, Schabeisen kam von der Arbeit zurück. Er betrat die Küche und blickte seine Frau, bevor er ihr einen Kuss gab, ausforschend an. Dann atmete er, offenbar erleichtert, auf. Die befürchtete Auseinandersetzung blieb wohl aus. Seine Frau erwähnte den fehlenden Baum mit keinem Wort, und er hütete sich, davon anzufangen. Allerdings verlief das Essen schweigsamer als sonst; auch sein aufmunterndes Gerede konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stimmung gedrückt war.
Als er den Salat aß, sagte seine Frau: „Wildkräuter, vorhin frisch geschnitten. Nimm ordentlich, Salat ist gesund!“
Die ersten Beschwerden stellten sich vier Stunden später ein. Schabeisen wurde übel; er musste sich übergeben. Dann kamen Schweißausbrüche und Herzrhythmusstörungen hinzu. Noch in der Nacht wurde er auf der Intensivstation des städtischen Klinikums an den Tropf gelegt. Der Arzt stellte schwere Vergiftungserscheinungen fest; doch weder er noch seine Frau hatten eine Ahnung, woher das Gift stammen könnte.
Sechsunddreißig Stunden später war Sebastian Schabeisen tot.
Die restlichen Blätter der Herbstzeitlosen, kleingehackt in Leberwurstbällchen versteckt, verfütterte Frau Senff-Schabeisen an den Hund. Einen Tag später war sie auch den Köter los.
Da sage noch einer, Salat ist gesund!


Anm.: Die Anregung zu dieser Geschichte entnahm ich einer Zeitungsmeldung, wonach sich jemand durch einen selbst gesammelten Wildkräutersalat vergiftete, weil er die Blätter der Herbstzeitlosen, Colchicum autumnale, mit den ähnlichen Blättern des Bärlauchs, Allium ursinum, verwechselte. Gegen das Gift Colchicin gibt es noch kein Gegenmittel. Ferner ärgerte ich mich darüber, dass Stadtgärtner eine alte Buche wegen eines Bauvorhabens gefällt hatten.
 



 
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