Da scheiden sich die Geister

Feuertopf

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Es gibt nur eine einzige Verbindung zu meinem Ziel – Buslinie 314159 Richtung Andromedanebel. Ich sitze als einziger Fahrgast ganz hinten und sabbere auf die Bezüge, vermutlich laut schnarchend. Im Traum stehe ich in Uniform vor einer Armee aus Ausrufezeichen, die schneidig im Gleichschritt hinter mir her hüpfen. Diese Ausrufezeichen machen sich auf meinen Befehl über den Inhalt des ganzen Universums her, klatschen hier einem Gasriesen in die Atmosphäre, bringen da einen Kometen von seiner Flugbahn ab. Nicht einmal vor einem schwarzen Loch machen sie Halt. Jedes Mal, wenn einer meiner tintenschwarzen Soldaten auf etwas trifft, vollzieht sich beim Ziel eine Verwandlung. Der Gasriese wird zu einem Luftballon, der Komet zu einem Frisbee. Das schwarze Loch spuckt plötzlich Klamotten aus wie eine Kleiderrückgabe, aber als ich in den Uniformmantel lange, fällt mir auf, dass ich die Marke verloren habe.
Gerade da ich den Sieg verkünden will, räuspert sich mein Adjutant, ein besonders hoffärtiges Satzzeichen, und krächzt verlegen:
„Aber Herr General, sehen Sie doch, wir sind verraten!“ Dann verschwindet es vor meinen Augen - Es hat sich an das Ende seines eigenen Satzes begeben.
Und wie ich den Blick abwende von der Szenerie unseres Sieges, sehe ich da doch nicht ein pulsierendes, dunkles Knäuel auf mich zurasen, in dem sich der nackte Wahnsinn zeigt? Das Bild der Geburt einer Eidechse innerhalb kaleidoskopartig ausschweifender Blutgefäße, in denen Fischschwärme mit Rosen in den Kiemen Flamenco tanzen, nimmt nur die erste Zehntelsekunde meiner Aufmerksamkeit ein. Die Bilder wechseln ohne Unterlass, vermehren und verbinden sich zu immer abwegigeren und obszöneren Darstellungen.
„Um Gottes Willen“, murmele ich, lasse das Fernrohr sinken (das ich augenscheinlich in der Hand gehalten habe) und bereite mich auf die Kapitulation vor. Zu meinen Seiten weisen die Ausrufezeichen sich gegenseitig auf das widerwärtige Gebilde hin, durch die Geste werden sie eines nach dem anderen zu Fragezeichen. In mir keimt noch der sarkastische Kommentar auf, dass hier stattdessen lieber mal jemand einen Punkt machen sollte.

Immer noch den Nachhall des Wortes Punkt im Kopf, wache ich mit einer Panikattacke auf. Ich japse und winde mich kraftlos von einer Seite zur andern. Dabei lasse ich den Bericht zu Boden fallen, der sich eben noch auf meinem Schoß befunden hat. Von vorn wird wieder das Gefasel des Busfahrers verständlich, das ich im Schlaf zum Hintergrundrauschen degradiert hatte. Irgendwas über seinen Barbier zuhause auf Kepler-1649c. Der ist doch tatsächlich in einem Sonnensystem des Andromedanebels geboren worden, ja ja wie klein doch die Welt ist und so weiter.
Die Panikattacke wird so stark, dass sie mich wieder ins Traumland zurückwerfen will, obwohl ich noch nicht einmal ausreichend zu mir gekommen bin, um zu wissen, wo ich mich befinde. Mein Blick will sich an irgendetwas festhalten, irgendetwas Handfestem. Gehetzt springen die Pupillen von den Lichtern der Galaxie zu den klappbaren Getränkehaltern aus billigem Plastik. Schließlich fasse ich den Bericht zu meinen Füßen ins Auge. Ich greife danach wie nach einem Rettungsseil.
Das Deckblatt ist mit einen riesigen schwarzen Ausrufezeichen versehen. Darüber steht in Fettdruck „Bericht über die Gefahr eines unvollständigen Urknalls – Prof. Dr. Lao Dan“. Erleichtert, dass die lähmende Angst endlich wieder wachsender Gewissheit Platz macht, drehe ich das Deckblatt um und hefte mich fasziniert an eine Blaupause des Urknalls mit einem winzigen Punkt in der Mitte, der sich aus eigennützigen Motiven dazu entschieden hat, die Expansion des Universums nicht mitzumachen. Ein widerborstiges Stück des Alls – der im Bericht so genannte Weltkern.
Wie ein Wahnsinniger blättere ich um und reiße fast die Seiten aus dem Bund, obwohl ich den Bericht nicht mal zum Lesen dabeihabe, sondern nur als Referenzmaterial. Auf Seite Zwei wird der Bau der Schutzhülle um den Weltkern gezeigt, eine Sphäre aus nuklearer Lasagne, dem am stärksten spiegelnden Material im bekannten Universum. Beim dritten Umblättern fällt ein Brief aus den hintersten Seiten. Darauf eine handschriftlichen Widmung „An Inspektor Arjuna Khan“. Haben meine Vorgesetzten den da reingetan? Misstrauisch kneife ich die Augen zusammen, weil mich das Knäuel aus dem Traum immer noch beschäftigt und ich fürchte, dass auch nur die geringste unerwartete Situation unvorstellbare Geschehnisse zur Folge haben müsste. Zaghaft reiße ich den Umschlag mit dem Finger auf und entfalte das Papier. Der Inhalt, ebenfalls handschriftlich, liest sich wie folgt:

Sehr geehrter Herr Inspektor Khan,

Das ist der erste von zwei Briefen, die ich an Sie richte. Vielleicht haben Sie sich ein paar Lebensziele gesetzt und arbeiten ehrgeizig an deren Realisierung. Vielleicht hilft Ihnen die Inspektion meiner Arbeit bei Ihrer Beförderung oder Sie schreiben ein Buch darüber. Es sitzt ganz sicher etwas in Ihnen, das heraus möchte, um als Spiegelbild ihrer Persönlichkeit die Welt schärfer hervorleuchten zu lassen.

Gerade deshalb muss ich Sie warnen. Gehen Sie mit ihren Träumen nicht zu weit, lassen Sie sie am besten zuhause! Das Ziel ihrer Reise ist die Schöpfung der Welt. Alles hier ist sinnerfüllt und sinnentleert zugleich, niemals nur das eine oder das andere. Je näher alle Wahrscheinlichkeiten zusammenliegen, desto mehr ergeben sie eine geschlossene Realität. An zu großen Bestrebungen sind schon viele Besucher des Weltkerns zerbrochen.

Gez. Professor Lao Dan


Ich schnaube verächtlich und falte das Papier wieder zusammen. Der einzige, der träumt, sind Sie, antworte ich dem Professor in Gedanken und kontrolliere dabei meine Atmung, um die Panikattacke endgültig loszuwerden. Ich vermute, dass der Brief nichts anderes als Schwäche darstellt, einen erbärmlichen Versuch, sich für die mangelhafte Einhaltung universeller Standards zu entschuldigen, bevor die Inspektion überhaupt begonnen hat. Doch nach anfänglicher Empörung muss ich lächeln – Was für ein Schlachtfest an herrlicher Inkompetenz mir da wohl bevorsteht.
„Komisches Volk hier im Andromedanebel“, schreit der Busfahrer zu mir nach hinten.
„Inwiefern?“, frage ich, erstmals einigermaßen interessiert.
„Sind alle irgendwie nicht ganz da.“ Er macht eine Geste mit der flachen Hand und sieht mich bedeutungsschwer durch den Rückspiegel an.
„Hoffentlich haben Sie Recht, das würde mir die Arbeit ungemein erleichtern“, rufe ich zurück. Der Busfahrer lacht aus voller Lunge und der ungepflegte graue Schnurrbart bebt von den Atemstößen.

An der ersten Haltestelle, einem trostlosen Planeten mit größtenteils basaltartiger Oberfläche, springe ich aus der Karosse. Da steht eine Gruppe Arbeiter in gelben Bauhelmen, vielleicht fünfzehn Mann, genau an der Haltestelle. Was für ein akkurates Empfangskomitee, muss ich denken, und begrüße sie mit einem ernstgemeinten Lächeln.
„Guten-“ Ich prüfe den Sonnenstand des Planeten. „-Abend, die Herren.“, sage ich. Ein dicker Latzhosenträger mit breiter Nase und kleinen grauen Augen schiebt sich nach vorn und fragt: „Ja?“
„Inspektor Arjuna Khan für Herrn Professor Lao“, antworte ich zögernd, nehme meinen Ausweis aus der Manteltasche und zeige ihn vor.
„Bauleiter Ziran“, sagt der Dicke, fährt sich mit den Wurstfingern über die Nase, verbeugt sich und reicht mir die Hand. Während ich danach greife, schaue ich mich auf der Planetenoberfläche um. Dabei missfällt mir der bewölkte Gesichtsausdruck, den sämtliche Arbeiter zur Schau tragen. Ich hatte gehofft, nach meiner Panikattacke neue Kraft zu schöpfen und mich abzulenken. Doch der Planet scheint mich geradewegs dorthin zurückführen zu wollen. Zurück wohin?, denke ich, als mein Gedankengang abreißt.
„Professor Lao wird wahrscheinlich nicht persönlich Zeit für Sie haben“, sagt Bauleiter Ziran forsch. Seine dumpfen Mäuseaugen mustern mich argwöhnisch.
„Das ist egal. Rede und Antwort kann stehen wer will.“ Ich lache die eigene Beklemmung weg, ernte von Ziran aber nicht einmal ein Lächeln.
Nach wenigen Formalitäten führt mich das Komitee der Arbeiter zu einem der Schleppfahrzeuge, mit denen die nukleare Lasagne zur Schutzhülle transportiert wird. Nachdem ich mein Notizblock aus der Aktentasche geholt habe, bittet man mich einzusteigen und die Fahrt beginnt.

Bereits auf halbem Weg zum Weltkern merke ich, dass etwas nicht stimmt. Zur gleichen Zeit wie auf dem Schleppfahrzeug scheine ich mich in einer Parlamentssitzung zu befinden, wo ich den Worten eines Sprechers zuhöre und an meinen Sitznachbar gewandt mit den Augen rolle. Ich trage einen dunkelblauen Anzug und bin dicker als gewohnt. In jedem anderen Zusammenhang hätte es ein Tagtraum oder eine Halluzination sein müssen.
„Die parallele Wahrnehmung scheint anzufangen“, krächze ich nervös Bauleiter Ziran entgegen. Der lässt nur die Augenbrauen hochzucken.
„Lassen Sie sich einfach treiben“, sagt er ruhig wie zu einem wild gewordenen Pferd. „Es bringt nichts, wenn Sie versuchen Ihre Paralleldimensionen zu ignorieren.“ Ich nicke und klammere mich an meinen Notizblock. Doch bald vervielfacht sich die Wahrnehmung besagter Paralleldimensionen in schwindelerregendem Maße. Zwar mache ich mir ein paar krakelige Notizen zum Zustand vorbeifliegender Schleppfahrzeuge, doch es fällt mir außerordentlich schwer, da ich gleichzeitig unter anderem in einer dunklen Seitengasse von einem Obdachlosen niedergestochen werde und mit einer attraktiven Brünetten an irgendeinem Strand Aperol Spritz süffle.
Durch das Näherrücken unterschiedlicher Dimensionen wird mein Zeitgefühl in Mitleidenschaft gezogen. Insbesondere die Varianten lassen mich facettenreich blinzeln, die meiner gegenwärtigen Inspektionsfahrt bis auf wenige Details gleichen. In manchen dieser Realitäten befinde ich mich im selben Raumfahrzeug, trage lediglich einen Vollbart oder habe die Angewohnheit, an den Fingernägeln zu kauen.
„Die Wirkung der Realitätsverdichtung habe ich unterschätzt“, keuche ich hilfesuchend, lenke jedoch gleich wieder ab, um nicht schwach zu wirken: „Wie lange ist ein Arbeiter in ihrer Branche denn am Stück diesen Eindrücken ausgesetzt-“
Ich stocke. Eine stetig wachsende Menge von nadelstichartigen Schmerzimpulsen lässt mich zusammenfahren. Es sind Paralleldimension, die nach und nach abreißen. Mehr und mehr Versionen meiner Selbst verschwinden, je näher wir dem Weltkern kommen. Dieses Verschwinden spüre ich jedes Mail mit einem Stechen.
„Wir nähern uns dem Weltkern“, kommentiert Herr Ziran mit einem Schniefen und verschränkt die Arme. „Sie haben eben die erste Phase erlebt. Ihre Paralleldimensionen rücken anfangs näher zusammen, bis sie ins Bewusstsein treten. Jetzt folgt Phase zwei. Dabei werden die Realitäten entweder miteinander verschmolzen oder abgesondert. Das heißt, Ihre Paralleldimensionen passen entweder mit Ihrer Fahrt zum Weltkern zusammen oder nicht. Wenn man die urknallfreie Zone besucht, gibt es für die nur zwei Möglichkeiten: Synchronisation oder Reduktion.“ Er lächelt versöhnlich wie ein Kriegsveteran beim Anblick eines Rekruten.
„Die Reduktion halte ich für kontrovers.“, rede ich haspelnd daher und mache mit zitternder Hand eine entsprechende Notiz in mein Block. „Die Erfahrung ist jetzt anders, als ich es im Bericht gelesen habe. Dort steht nämlich-“ Ich krame den Bericht heraus und suche die Seite. „- es handele sich um die Ausblendung von Realitäten, die nicht mit der Annäherung an den Weltkern zusammenpassen. Aber….“ Ich schlucke.
„Was meinen Sie?“
„Es fühlt sich gerade so an, als würden die Realitäten ausgelöscht“, statuiere ich mit einer diffusen Angst im Bauch, die zweifellos nicht von mir stammt, sondern aus anderen Realitäten, in denen ich ein glücklicheres Schicksal abbekommen habe und die nun eine nach der anderen in tiefes Schwarz übergehen. Herr Ziran macht eine wegwerfende Handbewegung.
„Das lässt sich nicht methodisch erforschen.“, sagt er durch die Zähne und kneift sich energisch mit den Wurstfingern am Ellenbogen herum. „Vernichtete Realitäten würden aber bei unserem Vorhaben auch nicht ins Gewicht fallen.“
„Da stimme ich Ihnen zu“, entgegne ich trocken. „Aber diese Information hätte im Bericht auftauchen müssen. Drehen Sie bitte augenblicklich das Fahrzeug um!“
Einen Moment lang mustert mich Herr Ziran spöttisch, dann zuckt er mit den Schultern. „Wie Sie meinen“, murmelt er und gibt dem Fahrer ein Zeichen. Ich hole tief Luft und entspanne mich langsam wie nach einer überstandenen Gefahr. Endlich ein Anker für meinen in Seenot geratenen Seelenfrieden – Eine eindeutig falsche Formulierung. Und eine schwerwiegende noch dazu, wie ich mir selbst versuche, meine übertriebene Erleichterung zu rechtfertigen. Beschwingt klicke ich mit meinem Kugelschreiber, um den Fehler festzuhalten. Doch plötzlich spüre ich ein Stechen und mir wird schwarz vor Augen.

Zur selben Zeit befinde ‚ich‘ mich auf der Reling eines Schleppfahrzeugs, das dem oben erwähnten zum Verwechseln ähnlich sieht. Dort stehe ich nicht als einziges Ich, sondern in vielfacher Ausfertigung und starre immer in dieselbe Richtung. Die Szenerie erinnert zunächst an ein Kaleidoskop: Unzählige kleine Realitätssplitter, die voneinander nur dadurch verschieden sind, dass sie eine andere Perspektive des durch Spiegel und Kristalle gebrochenen Lichtes repräsentieren. Nach und nach verschmelzen sie ineinander wie Seifenblasen, die sich zu einer einzigen Kugel verbinden. Schließlich bin ich vereint – Ein menschliches Konglomerat aus identischen Momenten und divergenten Erinnerungen – das Ergebnis der Synchronisation. Ich hole tief Luft und entspanne mich langsam wie nach einer überstandenen Gefahr. Endlich ein sicherer Hafen für meinen in Seenot geratenen Seelenfrieden… Trotz Déjà Vu.
Es ist ganz still ringsum. Alle Mitglieder des Arbeiterkomitees stehen schweigend im flackernden Neonlicht des Raumfahrzeugs und husten vereinzelt ihren Raucherhusten. Vor mir erhebt sich eine spiegelnde Sphäre von der Größe eines ganzen Sonnensystems – Professor Laos Schutzhülle. Immer wieder nähern sich Schleppfahrzeuge und fügen nukleare Lasagne in das Konstrukt wie Teile in ein Puzzle. Doch immer noch ist ein kleines Stück an der Oberseite der Schutzhülle unvollendet. Dort erscheint der Ereignishorizont des Weltkerns wie ein blinder Fleck in meinem Blickfeld.

Ein dumpfes Geräusch an der Außenverkleidung des Raumfahrzeugs reißt mich aus dem kindlichen Staunen, das ich beim Verlust der diffusen Realitätsangst zurückgewonnen habe. Blinzelnd fokussiere ich die unmittelbare Nähe des Raumfahrzeugs und sehe vor mir - außerhalb des Bullauges, im luftleeren Raum – eine Leiche schweben. Der Körper ist wie vom All verschluckt, denn er bleibt im Dunkeln und nur das vereiste Gesicht wird vom der Beleuchtung erfasst, die aus dem Schiff ins All hinausdringt. Es ist das Gesicht eines unscheinbaren Mannes fortgeschrittenen Alters mit Kurzhaarschnitt und Kinnbart, das mir aus dem Bericht bekannt ist - das Gesicht von Professor Lao Dan.
Zum ersten Mal vollzieht sich eine nachvollziehbare Regung bei Herrn Ziran: Die Augen weit aufgerissen, fährt er sich langsam mit den Pranken durch das schüttere Haar an den Seiten seines Schädels. Ich sehe es nur ganz kurz, denn ich sinke krampfhaft in mich zusammen und mache mir abrupt mehrere kurze Notizen, die keinerlei erkennbare Wörter ergeben.
Zwei der Vorarbeiter holen den Professor durch die Seitenschleuse ins Innere des Schleppers. Herr Ziran hilft ihnen dabei, den Körper mit einer Rettungsdecke zu verhüllen.
„Wie ist so etwas möglich?“, rufe ich ihnen heiser zu. „Wo soll er denn hergekommen sein?“
„Hier laufen alle Wahrscheinlichkeiten des Universums zusammen“, stöhnt Ziran. „So nahe am Ereignishorizont gibt es keine Wahrscheinlichkeiten mehr, sondern nur noch Sicherheit.“
„Sicherheit! Ach was, jetzt kommen Sie!“, schreie ich auf und muss gegen meinen Willen lachen.
„Er hat einen Brief in der Brusttasche“, ruft einer der Vorarbeiter. Ziran wendet sich ihm zu und schnappt ihm den Umschlag aus der Hand. Er reißt ihn auf, entfaltet das Briefpapier und überfliegt den Inhalt. Mit noch weiter aufgerissenen Augen als zuvor sieht er mich an und öffnet den Mund, ohne etwas zu sagen. Sein Blick wandert wieder auf den Brief, dann auf die Leiche von Professor Lao, dann wieder zurück zu mir.
„Ja dann lesen Sie halt vor, verdammt!“, zische ich, während mir ein unheimlicher Verdacht Schweißperlen an die Stirn treibt: Haben die Arbeiter ihren Vorgesetzten womöglich selbst getötet und versuchen jetzt nur, mich vorzuführen? Ein Gefühl von Dringlichkeit und eigener Wichtigkeit macht mich aufmerksam wie ein Jagdhund, als Ziran gehorsam anfängt zu lesen:

Sehr geehrter Herr Inspektor Khan,

Zunächst einmal beruhigen Sie sich. Um mich wird niemand trauern, das ist auch gar nicht nötig. Ich habe so lange an der Wurzel der Welt gesessen, dass meine Seele still geworden ist. Der Tod ändert daran wenig.

Kümmern Sie sich also nicht weiter um meine Leiche, sie befindet sich mit Absicht hier. Ich habe Selbstmord begangen, indem ich aus meiner orbitalen Forschungsstation ins All getreten bin. Der Zusammenstoß meiner Wenigkeit mit dem Schleppfahrzeug, auch dem Sie sich befinden, war im Voraus berechnet. Das war mir möglich, weil in nächster Nähe des Weltkerns unterm Strich nichts als Sicherheit übrigbleibt, wie Herr Ziran es soeben so treffend formulierte.

Zum Hintergrund meiner Tat: Die Schutzhülle des Weltkerns ist ein Gefäß. Und wie alle Gefäße hat es gerade dort seine Funktion, wo es nicht existiert (in seinem Hohlraum). Genauso muss auch meine endgültige Funktion darin liegen, wo ich nicht bin, das heißt darin, DASS ich nicht mehr bin. Kurzum, die Information über das Wesen des Weltkerns ist nicht von seiner direkten Beschauung zu trennen. Der Information freien Lauf zu lassen und nur den Weltkern selbst zu verhüllen, widerspräche unserem ganzen Vorhaben. Sobald die Hülle fertiggestellt, ich mit all meinem Wissen aber noch am Leben wäre, würden sich sofort Myriaden von Wahrscheinlichkeiten voneinander spalten und nichts könnte meine Interaktion mit der Welt verhindern.

Darum also der Selbstmord. Sollten Sie meine Forschungsstation auf ihrer Umlaufbahn aufsuchen, werden Sie feststellen, dass alle Dokumente vernichtet sind. Mit den Konstrukteuren der Schutzhülle einschließlich meinem Bauleiter, Herrn Ziran, war ich zuletzt kaum noch in Kontakt. Anteil an meiner Forschung hatten sie nicht.

Gez. Prof. Lao Dan


„Ich hoffe Sie wissen, wie das aussieht“, sage ich scharf, so viel Mut fassend wie möglich. Zirans Blick zuckt vom Papier hoch und richtet sich auf mich. Er sieht immer noch weiß aus und wirkt verkrampft, doch als er einmal tief Luft holt, entspannt sich seine Haltung augenblicklich. „Sie unterstellen uns doch nicht etwa, den Selbstmord inszeniert zu haben?“, fragt er ruhig.
„Wo denken Sie hin, eine solche Inszenierung hätte nicht den geringsten Sinn“, weiche ich aus, lasse den Mut wieder fahren und blicke zu Boden. „Nichts, was sich innerhalb ihrer Kolonie abspielt, hat Bedeutung für mich, es zählen nur die Daten, die präsentiert werden.“
Herr Ziran entgegnet nichts. Er faltet den Brief wieder zusammen und legt ihn samt Umschlag auf die zugedeckte Leiche des Professors.
Das Schleppfahrzeug nimmt erneut Fahrt auf und schlägt den entgegengesetzten Weg ein, zurück zum Planeten. Um die Leiche des Professors in ein Krematorium zu bringen, wie Herr Ziran vor sich hin nuschelt. Nach einer Weile siegt das Gefühl der Wichtigkeit noch einmal über die Angst und ich kann mich nicht länger zurückhalten:
„Wollen Sie die Behauptung des Professors denn gar nicht überprüfen?“, frage ich.
„Welche?“
„Dass er angeblich all seine Forschungsdaten vernichtet hat.“
Eine paar Sekunden überlegt Ziran, dann öffnet er den Mund zur Antwort. Da wir uns aber bereits in einiger Entfernung vom Weltkern befinden, spaltet sich seine Antwort in zwei Realitäten auf.
Ziran A antwortet mir: „Es war sein Wunsch, nichts davon nach außen dringen zu lassen, also macht es keinen Unterschied, ob die Dokumente noch da sind oder nicht.“
Ziran B sagt dagegen: „Wir werden das später schon noch erledigen.“
Plötzlich schweigen beide.

Nach erneuter Spaltung habe ich es mit vier Zirans zu tun. Auf die Aussage, der Professor hätte sich gewünscht, keine der Informationen über den Weltkern nach außen dringen zulassen (Ziran A), folgere ‚Ich‘ (A1) zögerlich, dass ich „den fehlenden Beweis für die vernichteten Dokumente in den Inspektionsbericht aufnehmen muss.“ ‚Ich‘ (A2) dagegen werde nach dem Widerspruch zwischen Ziran A und B misstrauisch und halte den Mund, während Ziran A2 sich räuspert und statuiert, die Spaltung der Realitäten habe wieder angefangen.
Wenn wir uns der Dimension zuwenden, in der Ziran B behauptet hat, dass der Beweis für die Vernichtung der Dokumente noch eingeholt werden wird, dann sehen wir eine ähnliche, wenn auch weitaus radikalere Dichotomie eintreten: ‚Ich‘ (B1) will unbedingt bei der Durchsuchung der Forschungsstation anwesend sein. ‚Ich‘ (B2) bekomme dagegen mit einem dumpfen Gegenstand einen Schlag auf den Hinterkopf. Blitzartig durchfährt mich ein unerträglicher Schmerz, dann folgt Stille.
Nun sollte man meinen, der Schlag auf meinen Hinterkopf in Realität B2 hätte eine alarmierende Erkenntnis in allen übrigen Realitäten zur Folge haben müssen. Doch nicht nur fällt die Gewalttat aufgrund der exponentiellen Realitätsspaltung in Sachen emotionaler Intensität immer weniger ins Gewicht, sondern ich, oder *meine Ichs* verlieren auch rasend schnell den Überblick.
Manche Schlussfolgerungen kommen natürlich auf, doch sie verlieren sich in einem Meer aus Unsicherheit. Wurde ich umgebracht oder nur bewusstlos geschlagen? Soll damit der Mord an Professor Lao vertuscht werden? Oder nur sein Wunsch realisiert werden, dass nichts von alldem die Kolonie verlässt?

Aber war beim Weltkern nicht alles nur Sicherheit gewesen? Hatten sich nicht alle Realitäten, die nicht reduziert worden sind, zu einer einzigen zwingenden Wahrheit verbunden, dort am Rande der Schöpfung? Wenigstens dort musste der Professor doch entweder Selbstmord begangen haben oder ermordet worden sein, richtig? Daran allein halte ich mich jedenfalls fest in all diesem Chaos: Sobald eine der Realitäten einen eindeutigen Beweis ausspuckt, muss es für alle übrigen auch zweifellos feststehen: War es Mord oder nicht?
Doch auch dabei kann von Sicherheit nicht lange die Rede sein. In manchen Realitäten frage ich Herrn Ziran nämlich ganz offen, ob er den Professor auf dem Gewissen hat. Diese Bemühung resultiert manchmal in einem Geständnis. Dann atme ich auf: Es gibt einen Anhaltspunkt, eine Boje, an der ich meinen gesunden Verstand anleinen kann.
Doch die Beruhigung hält nicht lange an, weil selbst die Geständnisse einander stark widersprechen: Mal sei Professor Lao verrückt geworden und habe gedroht, den Weltkern mit dem restlichen Universum zu vereinen, mal habe er nur Gehälter unterschlagen oder es war ein Unfall. Oft lässt sich Bauleiter Ziran so wenig von meinem Verhör beeindrucken, dass er einfach fragt: „Haben Sie nicht behauptet, es interessiere Sie nicht, was innerhalb der Kolonie passiert?“

Gerade bei dieser Frage kommt in mir wieder das vertraute flaue Gefühl hoch. Ich fange an, schneller zu atmen und die Ränder meines Blickfeldes verschwimmen – der Beginn einer Panikattacke. Während ich immer schwerer atme und in immer tieferen Schock verfalle, zeigt sich mir ein verhängnisvolles Phänomen: Die Panikattacke breitet sich über die Realitäten hinweg aus. Am Ende dringt sie sogar bis in Dimensionen vor, in denen ich mich bis kurz zuvor noch mit einem schiefen Lächeln über den Witz eines der Vorarbeiter erkenntlich gezeigt habe. Der Grund meiner Verzweiflung ist diesmal eindeutig, denn ständig kreisen mir immer dieselben Fragen durch den Kopf, überall, jederzeit, in jeder noch so gedankenlosen Version meiner Selbst: Welches Ende soll das alles hier nur nehmen?
Wieder wird alles zum Kaleidoskop: Ich gehe in die Knie, schwer atmet, mein Blickfeld verdunkelt sich. Manchmal hastet mir Bauleiter Ziran zur Seite, wild rufend: „Ja zur Hölle, werden Sie jetzt bloß nicht verrückt!“ Überall jedoch verhöhnt mich eine innere Stimme:
„Na, da hast du jetzt deinen Sinn und Zweck. Das Chaos ist weg und dein jämmerlicher Anfall ist alles, was da ist, seine eigene Ursache und Wirkung.“
Das ist ausgerechnet der Punkt, an dem ich mich von Realität zu Realität wieder zu fassen beginne. Wie ein Schiffbrüchiger, der sich mit letzter Kraft an die Wasseroberfläche zieht und nach einem Stück Treibholz greift, atme ich gierig ein und versuche verzweifelt, fertigzuwerden mit der Unzahl an Möglichkeiten, die vor mir liegen. Es festzustellen lässt mich zittern vor Angst und Übermut: Meine Bemühungen sind zum Scheitern verdammt, doch sie führen mit Sicherheit zum Erfolg. Aber letztendlich ist auch das nicht mehr wichtig: Nach kurzer Zeit haben sich alle Paralleldimensionen voneinander entfernt und ich bin wieder allein. Allein – Das sagt zugegebenermaßen nicht allzu viel aus, wenn es darum geht, einen Schlussstrich zu ziehen. Aber kein Wort ließe sich dem hinzufügen, das nicht eine Sintflut irrelevanter Kleinigkeiten auslösen würde.
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Feuertopf,
dein Text ist nicht wirklich spannend, teilweise mühsam zu lesen und nur halb verständlich. Das sind aber Nebensachen. Ich finde ihn klasse! Der Inhalt tanzt auf der Grenze zum Nonsense, ohne seine Anspruchsvollen Ideen aus dem Auge zu verlieren. Auf mich wirken diese Ideen frisch und unverbraucht. Das ist bei Sience Fiction eine Seltenheit.
Ich mag auch deinen Stil. Die Sprache ist klar, sodass die verworrene Handlung doch einigermaßen verständlich bleibt. Gleichzeitig sparst du nicht an Witz.

Noch ein paar Details:

Der Traum am Anfang passt für mich stilistisch nicht gut zur restlichen Handlung. Du forderst vom Leser schon viel Vorstellungskraft. Braucht es da wirklich noch anthropomorphische Satzzeichen?

Vielleicht hab ich es übersehen, aber gibt es im Text eine Erklärung für die Panikattacken des Helden? Die Attacken scheinen mir auch in der Handlung keinen wirklichen Zweck zu erfüllen. Oder übersehe ich hier was?

Das Ende plätschert ein bisschen aus. Die letzten zwei Sätze verstehe ich auch inhaltlich nicht.

Für meinen persönlichen Geschmack neigst du zu oft dazu, nach wörtlicher Rede die Sprache zu beschreiben. Das wirkt teilweise ewas bemüht und stört den Redefluss. Es ist keine Schande, nur zu schreiben: ", sagte er." Wie es gesagt wurde, kann man sich oft schon durch den Inhalt denken. Alternativ kann könnte man statt dem Klang der Sprache eine Geste oder die Mimik des Sprechers beschreiben. Ich finde das wirkt natürlicher.
Hier ein paar Beispiele, was für Stellen ich meine:
krächze ich nervös Bauleiter Ziran entgegen.
keuche ich hilfesuchend
rede ich haspelnd daher
entgegne ich trocken
Zusammengefasst: Sehr gerne gelesen!

Viele Grüße
lietzensee
 

Feuertopf

Mitglied
Hallo lietzensee,

vielen Dank für das Feedback! Ich schaue mal, was sich daran noch in Sachen Spannung machen lässt und ob ich den Traum lieber weglasse. Tatsächlich geht es erstmal mit Exposition los und der Leser wird nicht wirklich gepackt, das war mir nicht in diesem Maße aufgefallen.

Das sind aber Nebensachen. Ich finde ihn klasse! Der Inhalt tanzt auf der Grenze zum Nonsense, ohne seine Anspruchsvollen Ideen aus dem Auge zu verlieren. Auf mich wirken diese Ideen frisch und unverbraucht. Das ist bei Sience Fiction eine Seltenheit.
Ich mag auch deinen Stil. Die Sprache ist klar, sodass die verworrene Handlung doch einigermaßen verständlich bleibt. Gleichzeitig sparst du nicht an Witz.
Danke für das Lob, auch wenn ich die Kritikpunkte nicht ganz als Nebensachen bezeichnen würde :D

Vielleicht hab ich es übersehen, aber gibt es im Text eine Erklärung für die Panikattacken des Helden? Die Attacken scheinen mir auch in der Handlung keinen wirklichen Zweck zu erfüllen. Oder übersehe ich hier was?
Der Auslöser ist jedes Mal die Ratlosigkeit über und Angst vor Eindrücken, die sich nicht unter Kontrolle bringen lassen (erst das Knäuel im Traum, dann die Spaltung der Realitäten). Beim ersten Mal fängt sich der Inspektor durch den Halt an "handfesten" analysierbaren Dingen (der Bericht) beim zweiten Mal gelingt ihm die Beruhigung nur durch Loslassen von der Wichtigkeit seiner einzelnen Schicksale, deren Vielzahl ihn überwältigt. Das geht aber nach nochmaliger Überlegung tatsächlich sehr im Text unter, weil seine emotionale Lage nicht wirklich betont oder gerechtfertigt wird.

Danke nochmal und beste Grüße
Feuertopf
 



 
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