Dämmer

mortisha

Mitglied
Ich schaue der Kassiererin ins Gesicht, während sie mein Abendessen scannt. Im matten Glanz ihrer Fingernägel erkenne ich, auch sie trägt eine Diva in sich. Eine tiefe Sehnsucht nach Skandal und Leidenschaft hat ihre Haare ausgedünnt und sich wie Ringe um ihre Augen gelegt. Wir sind eins, ich bin sie. Mein ganzer Körper vibriert vor Erkenntnis und schreit es ihr zu. Ich fühle mich wie windgepeitscht. Aber sie hört mich nicht, sie hört einfach nicht zu. Ihr Interesse gilt dem Bon und meiner Unterschrift. Ich packe meine Sachen ein und gehe, eine unerfüllte Mission der Befreiung hinter mir zurücklassend. Auf der Straße reißt mir die Sirene eines vorbeifahrenden Krankentransports das rechte Trommelfell heraus und überfährt es erbarmungslos. Ich sehe seine Leiche im Rinnstein liegen und beobachte mit halbem Wehleid, wie seine Seele zwischen den Gittern eines Gullis verschwindet. Vielleicht schafft sie es bis zum Meer. Es beginnt zu regnen. Bis ich vor meiner Haustür stehe, bin ich nass bis auf die Knochen. Es ist ein gutes Gefühl. Es ist ein Gefühl für Herbst und eine falsche Jacke. Hätte ich einen Anrufbeantworter, würde ich ihn abhören, während ich mir die nassen Klamotten vom Leib schäle. Aber so kann ich nicht wissen, ob jemand versucht hat, mich zu erreichen. Ich bin so allein, dass ich mir einen Tee mache.
 



 
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