Dämmerlicht

Oliver Drews

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Viel Zeit blieb ihm nicht mehr bis das Gewitter beginnen würde. Der auffrischende Wind brachte bereits die erste Andeutung von Nässe mit sich. Wenn er gleich von der Straße in den Wald abbog, würde er etwas Schutz finden. Und falls es schlimmer als erwartet werden sollte, konnte er immer noch die Abkürzung durch den dunklen Nadelwald nehmen. Dort durfte er sich vor dem Gewitter sicher fühlen, doch überkam ihn in dem nur mannsbreiten Pfad immer Beklemmung. Ausgeliefert zu sein, nur vor und zurück, niemals zur Seite ausweichen zu können. Einsamkeit. Natürlich kannte er diese Empfindung sehr gut, war sie doch seit vielen Jahren zusammen mit Wut und Trauer sein ständiger Begleiter. Der breite Waldweg war ihm lieber, weil er ihn schneller an sein Ziel führte.

Eben waren die ersten Regentropfen auf sein Hemd gefallen, nun nieselte es schon beständig und der Wind frischte zunehmend auf. Zu seinem Glück gelangte er gerade an die Abzweigung in den Wald. Als er schließlich abbog, machte sich Enttäuschung breit. Der erhoffte Schutz vor dem jetzt prasselnden Regen blieb aus. Ihm würde der Weg durch den dunklen Tannenwald nicht erspart bleiben, wollte er nicht bis auf die Knochen durchnässt werden. Am Fieber aus dieser Welt zu scheiden, machte das Ableben zu langwierig. Vor dem Tod hatte er keine Angst, wohl aber vor dem Sterben. Durch die einsetzende Dunkelheit fand er den Einstieg in den schmalen Pfad nur mit Mühe. Seine Kleidung hatte sich bereits mit Wasser vollgesogen und erschwerte das Fortkommen. Als die Tannen ihre Äste schützend über ihn ausbreiteten, drangen das Prasseln des Regens und der Hall des Donners nur noch als Andeutung an sein Ohr. Wie früher schon überraschte ihn der Effekt der so plötzlich einsetzenden Stille. Er fühlte sich wie in einen Dämmerzustand. Der Phase kurz vor dem Einschlafen. Das Böse der Welt nur noch eine Andeutung, das Übel der Träume noch einen Schritt entfernt. Doch nach dem kurzen Gefühl der Behaglichkeit folgte die erwartete Beklemmung.

Das letzte Tageslicht wurde nun beinahe komplett von den dicht stehenden Bäumen und den mächtigen Gewitterwolken geschluckt. Der Weg war beschwerlich. Oben schlugen ihm die Zweige ins Gesicht, hinterließen schmerzhafte Male. Unten stolperte er über hervorstehende Wurzeln und Steine. Wenigstens gab es keine Abzweigungen, so dass er sich nicht verlaufen konnte. Er musste immer geradeaus, über die kleine Lichtung mit dem aufgegebenen Hof, dann auf der anderen Seite wieder in den Wald und nochmals eine Weile durch das dunkle Unterholz bis er in sein Dorf kam, das ihm für den Moment einen Hauch von Heimat bot. Es bereitete ihm viel Mühe den schmalen, hügeligen Pfad zu gehen. Er war ein alter Mann, auch wenn er sich tatsächlich erst in seinen mittleren Jahren befand. Das Leben ohne seine Familie hatte seine Spuren hinterlassen. Der Wille zum Leben konnte einem kranken Körper viel Kraft verleihen. In seinem Fall war es jedoch gerade umgekehrt.

Er passierte nun eine Stelle, an der die Bäume nicht so dicht beieinanderstanden. Der Boden war durch den Regen rutschig, der Weg führte bergab. Die schlechte Sicht tat ihr Übriges. Er verlor den Halt, schlidderte das Gefälle hinunter und streifte dabei einen massiven Ast. Er schrie vor Schmerz, fluchte vor Zorn. Das Rutschen schien eine Ewigkeit zu dauern. Irgendwann fand er wieder Halt und blieb einen Moment liegen. Er drehte den Kopf und blickte zurück in die Dunkelheit. Nach vorne gewandt sah er einen Lichtstreifen. Das musste die Lichtung sein, die ihn zwar kurze Zeit wieder der Witterung aussetzte, ihn aber auch aus der bedrohlichen Umklammerung des schmalen Waldpfades befreite. Überraschend leichtfüßig schafft er es zurück auf die Beine und ging das kurze Stück aus dem Dickicht.

Mit einem tiefen Atemzug trat er aus dem Dunkel, verlangsamte aber sofort seinen Schritt und blieb letztlich stehen. Auf der Lichtung stand der alte Hof, der immer seinen Teil dazu beigetragen hatte, dass er den Weg nicht gerne ging. Es kam ihm in den Sinn, wie lange er diesen Weg wohl schon nicht mehr gegangen war, denn aus dem Schornstein des Hauses stieg Rauch auf. Das ganze Anwesen war aufgeräumt und strahlte in neuem Glanz. Während er das unerwartete Bild in sich aufsog, setzte er sich wieder in Bewegung. Er hatte jetzt nur noch Augen für das Haus. Wurde angezogen, dorthin getrieben durch eine unsichtbare Kraft. Und das war keinesfalls unangenehm. Das erste Mal seit Jahren fühlte er sich frei. Es nötigte ihm keinerlei Anstrengung ab auf das Haus zuzugehen.

Als er die Eingangstür berührte, zog sich ein wohliges Gefühl durch seinen Körper. Er zog die Hand zurück, betrachtete sie und konnte nicht anders als die Wärme und Geborgenheit zu genießen. Nach Sekunden voller Erinnerungen und Gedanken, löste er sich aus seiner Erstarrung. Sein Klopfen ließ die Tür einen Spalt aufgleiten. Ohne Zögern, als trete er durch seine eigene Pforte, ging er hinein. Er stand in einem Wohnraum, dessen vorderer Teil in behagliches Licht getaucht war und ebenso hell und freundlich war wie das Äußere des Hauses. Es roch nach Sauberkeit und frischen Kräutern. Obwohl ihm der Raum völlig fremd war, stieg in ihm eine Vertrautheit auf, die er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Er machte sich daran die Wohnstube zu durchschreiten, zögerte aber kurz, weil er fürchtete, die Idylle durch sein Eindringen zu zerstören. Schließlich rang er sich dazu durch und schritt weiter in das Zimmer. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, gerade so als betrete er eine Fläche aus dünnem Eis. Mitten in der Stube gab es keinerlei Gefühl des Eindringens mehr. Stattdessen fand er sich zurückversetzt in eine Zeit in der er noch glücklich sein konnte. In der das Leben noch einen Sinn gehabt hatte. Eine Zeit, in der er selbst noch ein Haus und eine Familie sein Eigen nennen konnte. Es hätte ihn nicht verwundert, wenn er beim Blick in einen Spiegel festgestellt hätte, dass ihm sein fünfzehn Jahre jüngeres Ich entgegenblickt. Ein Gesicht, das noch Zeichen seiner jugendlichen Unbekümmertheit in sich trug. Das noch Freude, Kraft und Entschlossenheit ausdrücken konnte. Aber diese Zeiten waren unwiederbringlich vorüber. Er hatte all dies hier gehabt, sehnte sich mit jeder Faser seines Körpers danach und wusste doch, dass dieses andere Leben nur noch in seinem Kopf Bestand haben konnte. Er riss sich aus seinen Gedanken – er wusste, dass er nur die Kraft hatte weiterzuleben, wenn er es schaffte seinen Blick nach vorne zu richten, auf die Zeit, in der er seine Familie hoffentlich wiedersehen konnte. Den Weg in sein Paradies durfte er sich auf keinen Fall verbauen. Er wünschte so sehr, dass die Kirche zumindest in dieser Sache recht behielt. Als er auf einmal ganz allein durch die Welt wandeln musste, hatte sie ihm Trost in ihrem Schoß versprochen. Er hatte es probiert. Aber nichts außer einem Wiedersehen konnte ihm Trost und Linderung verschaffen.

Als er seinen Blick weiter durch den Raum schweifen ließ, entdeckte er zwei Türen, von denen die rechte weit geöffnet war und den Blick in eine helle, einladende Küche freigab. Der Geruch von Gebackenem wehte zu ihm herüber. Obwohl er von seinem Standort nicht die ganze Küche einsehen konnte, spürte er, dass sich dort niemand aufhielt. Also schritt er auf die geschlossene Tür zu. Das laute Knarren und Quietschen beim Öffnen glich einem Donnerhall und waren die ersten Geräusche, die er bewusst wahrnahm, seit er auf die Lichtung getreten war. Er fand einen langen dunklen Gang. Die unerwartet kühle, muffige Luft ließ ihn zögern. Hier erinnerte nichts mehr an die behagliche Wärme der Wohnstube. Vielmehr fühlte er sich wieder zurückversetzt in den dunklen, unwirtlichen Wald. Hörte das Ächzen der Bäume, die sich gegen die Gewalt des Windes zu wehren versuchten. Roch das modrige Aroma des feuchten Waldbodens. Spürte die Nässe des Regens durch die Kleidung auf seiner Haut. Er wollte hier weg. Am Ende des Ganges schimmerte grelles Licht durch die Ritze der grob gezimmerten Tür. Das Versprechen auf etwas Lohnenswertes zog ihn zum Ende des Flures. Seine Kleider fühlten sich klamm und nass an, als er sich endlich in Bewegung setzte und auf den Ausgang zuging. Mit jedem Schritt, den er durch den langen Flur wandelte, wurde es wärmer und angenehmer. Als er die Tür erreichte und vorsichtig hindurchschritt, musste er seine Augen vor der Sonne schützen. Vom Gewitter war hier nichts mehr zu sehen. Der Duft einer Wiese an einem herrlichen Sommertag kroch ihm in die Nase. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er spürte eine lange vergessene Kraft und Zuversicht in sich aufzusteigen, die ihn erschreckte und beinahe ins Wanken brachte. Nach einigen Sekunden, in denen sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah er vor sich einen großen gepflegten Garten. In der Mitte stand eine einzelne mächtige Eiche mit einer ausladenden Krone, die einen weiten Teil der Fläche vor den Strahlen der Sonne schützte. Unter den Ästen nahe des Stammes, stand ein hölzerner Tisch, an dem zwei Kinder saßen, vertieft in die Lektüre eines Buches. Eine Frau stand hinten im Garten, ihm den Rücken zugewandt.

Hinter ihm fiel mit einem lauten Krachen die Türe ins Schloss. Die Frau und die Kinder wanden sich ihm zu. Er blickte in Gesichter, die er gut kannte, deren Antlitze aber in eine andere Zeit, in eine andere Welt gehörten. Er flüsterte ihre Namen. Wollte mehr sagen, doch seine Stimme versagte ihren Dienst. So hatte er seine Familie an ihrem letzten Abend gesehen. Tränen liefen ihm über die Wange, Wärme durchströmte seinen Körper. Seine Kinder waren inzwischen aufgestanden und rannten freudestrahlend auf ihn zu. Seine Frau folgte, Tränen in den Augen. Wie von selbst öffnete er seine Arme, ging in die Knie und erwartete ihre Ankunft. Gleich würde es soweit sein. Er fragte nicht nach dem Wie oder Warum. Nichts außer der Umarmung seiner Lieben zählte jetzt.

Plötzlich krachte und blitze es über ihm. Er lag auf dem Boden. Nässe und Kälte durchdrangen ihn. Sein Körper gehorchte kaum seinen Befehlen. Der Geschmack von Blut erfüllte seinen Mund. Er blickte nach oben und konnte durch die Baumkronen die dunklen Gewitterwolken sehen. Er sah nach hinten in die Dunkelheit, spürte den Regen in seinem Gesicht. Er drehte sich nach vorne, sah das Licht, spürte die Wärme und ließ los.
 



 
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