Dämonen des Steines 3. Kapitel

Hier ist das Dritte Kapitel meines Romans!
Wer nicht länger auf Fortsetzung warten will, kann sich den kompletten Roman runterladen, entweder auf meiner Seite, die gerade im Aufbau ist : http://www.anka-dei.de.vu oder unter http://www.online-roman.com

3.

Die Tür fiel knallend hinter ihm ins Schloß. „Da anbinden!“ Eine dunkle, gefährlich klingende Stimme empfing ihn. Er wurde gegen einen Balken oder eine Säule gestossen. Der kalte gefühllose Stein ließ eher auf eine Säule schließen. Im selben Moment schalt sich Talon einen Dummkopf. Er war immerhin im Thronsaal. Ein einfacher Holzbalken gehörte nicht in einen solchen Raum. Einer von Vagons Ahnen mußte diesen Saal so verunstaltet haben. Talon hatte ihn nur voller Prunk im Gedächtnis, das war auch der Grund, weswegen er den Thronsaal meistens gemieden hatte. Innerhalb kurzer Zeit hatte er herausgefunden, dass Vagon seine Gefühle gegenüber diesem Prunk teilte. Einzig einer der Paladine des Königs, ein Mann namens Scren, schien Gefallen daran zu finden. Talon hatte Scren nie gemocht, seine Art, Prunk und Reichtum anzuhimmeln hatte dem Feldherrn nie gefallen.
Seine Hände wurden von den Fesseln befreit, jedoch so lange von den Männern festgehalten, bis seine Arme um die Säule herum geschlungen und hinten erneut zusammengebunden waren. Dann nahm man ihm die Binde von den Augen. Talon gewöhnte sich schnell an das herrschende Dämmerlicht. Der Thronsaal hatte sich verändert. Alles wirkte schwarz und bedrohlich. Das einzige Licht stammte von mehreren etwa faustgroßen, dunkelrot glühenden Kugeln. Talon hatte das unheimliche Gefühl, von ihnen angestarrt zu werden. Der gesamte Raum war dunkel geworden. Er wirkte mehr wie eine Höhle in einem Fels, als ein von Menschen errichteter Saal.
Eine schwarze Gestalt näherte sich ihm. Sie war groß, sogar sehr groß. In wallende, schwarze Gewänder gehüllt kam sie unaufhaltsam, und ohne jedes Geräusch, näher. Ungefähr einen Meter vor ihm blieb sie stehen. Talon hatte genügend Zeit, sie genau zu betrachten. Alles an dieser Gestalt war schwarz. Selbst die Haut zeigte eine unheimliche, tiefschwarze Tönung. Es war ein Rakhyr. Eine dunkle, verkrustete Narbe durchzog die Stirn des Menschen, es sah aus, als hätte jemand versucht, seinen Kopf auf fürchterliche Weise in drei Teile zu schneiden. Von der Nasenwurzel an lief diese Narbe gezackt nach oben, teilte sich dort und lief über den Augenbrauen weiter. Rechts verlief sie sich unter den langen, schwarzen Haaren des Mannes. Links wand sie sich über seine Schläfe, um dann nach unten zu laufen und seine Wange in zwei Teile zu schneiden. Die Narbe endete am Mundwinkel des Rakhyr. Die schwarzen Wangen waren eingefallen, Wangen und Kieferknochen waren stark ausgeprägt. Sie gaben dem Gesicht einen harten, unnachgiebigen Ausdruck, der durch die ohnehin schon stark ausgeprägten Gesichtszüge des Mannes noch verstärkt wurde. Das Alter des Mannes konnte Talon nicht bestimmen. Der Rakhyr wirkte kalt und gefühllos; einfach unglaublich böse. Am kältesten aber waren seine Augen. Sie glühten dunkelrot, schienen Talon zu durchbohren. Er hatte das seltsame Gefühl, dass diese Augen in ihn hineinblickten, mühelos tief in ihm seine Gefühle und Gedanken lasen wie ein offenes Buch. Ihnen konnte nichts entgehen, nicht die kleinste Regung, jeder noch so winzige Teil seines Gewissens wurde erkannt, durchschaut. Talon lief ein Schauder über den Rücken. Dieser Blick des Rakhyr war eiskalt, gefährlich, tödlich. Diese blitzenden Augen, in denen jenes dunkle, rote Feuer glomm, duldeten keinen Widerspruch. Trotz des Feuers, das in ihnen loderte, waren sie trotzdem wie erstarrt, so klar wie Eis. Es waren die Augen eines Tyrannen. Talon wandte erschüttert den Blick ab. Vor ihm stand ohne jeden Zweifel Rakh, der berüchtigte Herr und Führer der Rakhyr, gefährlich, böse, tödlich. Dieser Mann war bereit, über Millionen von Leichen zu gehen. Und er würde es tun. Jetzt lächelte er angesichts des hilflosen Gefangenen.
Endlose Minuten vergingen, in denen Rakh seinerseits sich die Zeit nahm, seinen Gefangenen genau zu betrachten. Er sprach kein Wort. Nach Stunden, wie es Talon schien, wandte sich der Führer ab. Schweigend ließ er sich mit einer gebieterischen Geste auf dem Thron des Königs nieder. Rakh dort zu sehen, auf dem Thron seines Königs, das war wie ein Dolch in Talons Leib. Aber er beherrschte seinen Zorn. Eine Weile blickte Rakh ihn noch vom Thron aus an, dann gab er einem der neben ihm stehenden Gestalten einen scharfen Befehl. Diese sank fast augenblicklich vor ihm auf die Knie, richtete sich eilig wieder auf und hastete sofort zur Tür. Er schien es sehr eilig zu haben, aus dem Machtbereich seines Herrn zu kommen. Letztendlich regierte Rakh durch Angst.
Die schwere Tür wurde geöffnet und Talon wandte den Kopf. Der Versuch wurde mit einem Stechen im Nacken belohnt. Talon gab auf. Wenig später erblickte er einen weiteren Gefangenen, der von zwei Rakhyr hineingeschleift wurde. Talon erkannte einen der beiden Paladine Vagons, Locr-tan. Er kannte den Rho-Kel nur als einen der stärksten Kämpfer, denen er je begegnet war. Jetzt machte er allerdings einen ganz anderen Eindruck. Geronnenes Blut klebte an seinem Gesicht und verwandelte es in eine schaurige Totenmaske. Er wirkte unglaublich schwach und zerbrechlich, wie ein alter Mann. Er war ein alter Mann, aber er war dem König treu ergeben und trotz seines Alters immer noch ein nicht zu unterschätzender Krieger. Im Moment war er sogar zu schwach zum Laufen. Die Rakhyr zerrten den alten Paladin hinüber zu einem Gestell aus Eisenstreben, das wie durch Zufall genau in Talons Blickfeld stand. Der Rho-Kel wurde daran festgekettet. Ein anderer Rakhyr zog einen schwarzen Vorhang beiseite, den Talon bisher noch nicht bemerkt hatte. Zum Vorschein kam ein Tisch, auf dem verschiedene Geräte lagen. Talon konnte sie nicht gut erkennen, das diffuse Licht in diesem Raum ließ es nicht zu. Er erkannte die folgenden Handlungen eher schemenhaft, als gehörten sie zu einem Traum. Rakh hatte sich wieder erhoben und bewegte sich jetzt langsam auf den Paladin zu. Er machte eine abgehackte Geste zu einem seiner Diener. Mit einem gewaltigen Ruck riß er dem Paladin die Kleidung vom Leib. Ein anderer entfachte auf einem Steinblock ein Feuer. Der flackernde Schein setzte sich in harten Gegensatz zu dem ruhigen Licht der unheimlichen, roten Kugeln. Der Rakhyr goß Pech hinzu. Der Raum wurde in ein rotgelbes, flackerndes Licht getaucht, als die Flammen aufloderten. Talon hatte das Gefühl, dass die Schatten durch den wogenden Schein schwammen. Einer der graugesichten Rakhyr hob zwei der Instrumente auf. Mehrere Spitzen und Klingen ließen sie grausam und furchtbar erscheinen. Talon wurde ihr Zweck schlagartig bewußt, als der Rakhyr sie ins Feuer hielt. Das waren keine Waffen, mit denen man kämpfte. Das waren Werkzeuge zum Foltern, ausschließlich geschaffen um Qualen zuzufügen. Talon wandte den Kopf ab und blickte zu Boden. Der Rho-Kel schrie auf. Etwas zischte, ein weiterer Schrei erklang. Talon schloß gequält die Augen, versuchte die Schreie Locr-tans aus seinen Gedanken zu verbannen. Es gelang nicht. Während er so minutenlang mit sich selber kämpfte, merkte er kaum, was um ihn herum geschah. Plötzlich schien ihn etwas zu durchbohren. Eiskalt durchlief es seinen Körper. Er schauderte, bekam eine Gänsehaut, zitterte am ganzen Körper. Dann blickte er auf. Es war wie ein Zwang, diese eisige Kälte, die ihn zwang, den Blick zu heben. Er sah direkt in zwei rote, tödlich kalte, flammende Augen; wie die einer Schlange, pupillenlos, eisig. Der alte Paladin schrie weiter. Rakh blickte in Talons Augen, dann legte er ihm beide Hände auf die Schultern. Er stand ohne eine Bewegung da und wandte seinen Blick nicht mehr von Talon ab. Talon hatte das Gefühl, langsam einzufrieren. Der Paladin schrie noch immer, aber Talon hörte die Schreie nur noch dumpf im Hintergrund. Er konnte sich nicht bewegen, war gezwungen weiter in Rakhs dunkelrote Augen zu sehen. Talon wußte nicht mehr, wie viel Zeit verging. Er stand dort an den Pfeiler gebunden, aufrecht, ohne jede Bewegung. Alles schien eine Ewigkeit zu dauern. Im Hintergrund hörte er noch einen letzten, lauten Schrei, dann senkte sich Stille über den Thronsaal. Rakh ließ seine Schulter los. Talon fiel in sich zusammen. Hätte ihn die Fessel nicht aufrecht gehalten, wäre er zusammengebrochen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie man Locr-tans leblosen Körper hinaustrug. Er ließ den Kopf hängen und sprach ein Gebet zu Barh, Bellwars Totengott.

Weitere lange Minuten vergingen. Nach scheinbar endlosem Schweigen hob Rakh die Hand. Die schwere Doppeltür schwang auf. Ein Mann kam herein. Es handelte sich diesmal nicht um einen Rakhyr, aber trotzdem war die Gestalt bewaffnet, und zwar mit einem langen Schwert, auf dessen Knauf das königliche Siegel blitzte. Es war ein Schwert, das Talon sofort erkannte. Es war eines der Schwerter, die Vagons Paladine getragen hatten. Der Mann drehte sich um, so dass Talon sein Gesicht sehen konnte. „Scren!“ Talon spie den Namen förmlich aus. Dieser Kerl war ein Paladin des Königs, der Mann, der das größte Vertrauen genoß. Gerade dieser Mann hatte den König verraten! Um Talon herum brach eine Welt zusammen. Für einen Paladin war es die heiligste, oberste Pflicht, seinen König zu schützen! Niemand, der den Eid eines Paladin geschworen hatte, verriet seinen König! Es war so falsch! Scren, ein Paladin, Treuester des Königs, gerade er hatte Vagon verraten. Es war so. Eine andere Seite von Talon nahm diese Tatsache ruhig und eiskalt entgegen. Er hatte Scren nie getraut, hatte ihn immer für jemanden gehalten, der für Geld, Ruhm und Macht alles geben würde. Aber er hatte auf Vagons Urteil vertraut. Wie hätte er, als einfacher Feldherr, wohl an einem vom König gewählten Paladin zweifeln können? Und doch hatte er sich nicht in Scren getäuscht. Bilder schossen ihm durch den Kopf. Der Hauptturm, die Wehrgänge, Mauern, die ungeschützten Gebäude im Inneren der Burg, die toten Wachen und nicht zuletzt die von den Dämonen gebaute Barrikade aus Schutt. Die Rakhyr hatten genau gewußt, wo die Wachen stehen würden, und wo die Schwachstellen der Festung waren. Sie hatten gewußt, wie sie das Heer ablenken konnten, um in den Gebäuden ungehindert zuschlagen zu können. Nur jemand, der Durando genau kannte, konnte so präzise angreifen. Scren hatte Durando an die Rakhyr verraten.
Haß blitzte in Talons Augen auf, während seine Hände weiterhin die Fessel bearbeiteten. „Verräter“ , sagte er. Seine Stimme war eiskalt und schneidend. Die Fessel riß mit einem knackenden Geräusch. Seine Füße waren frei, und er stieß sich fest ab. Er sprang auf den verräterischen Paladin zu, riß ihn zu Boden. Sein Körper glitt über Scren hinweg, Talon zog das Knie an. Es prallte gegen das Kinn des Verräters, und mit all der Kraft, die in dem Sprung gelegen hatte, wurde der Kopf des Paladins zurückgerissen. Das Brechen von Knochen folgte. Das Schwert mit dem Siegel des Königs steckte noch immer in der Scheide. Scren hatte keine Chance gehabt es zu ziehen. Wahrscheinlich hatte er nicht mit einem Angriff gerechnet, schon gar nicht mit einem, der von einem verletzten und gefangenem Feldherrn mit solch brutaler Rücksichtslosigkeit erfolgte.
Talon kam auf die Füße, wurde aber sofort gepackt und niedergerungen. Er fiel auf die Knie. Eine graue Hand krallte sich in seine Haare und riß seinen Kopf zurück. Eine Klinge berührte seine Kehle und ritzte sie. Talon spürte, wie Blut an seinem Hals hinablief. Er wagte kaum zu atmen. Aus den Augenwinkeln sah er Rakh, der ihn voller Haß anstarrte. Er würde ihn töten. Talon wußte es. Rakh würde ihn irgendwann töten, nicht jetzt, aber später, und Talon würde langsam sterben. So wie Locr-tan gestorben war. Aber im Moment brauchte Rakh ihn. Denn was auch immer Scren ihm erzählt hatte, er hatte ihm nicht alles gesagt. Scren war auch nicht dumm. Er hätte Rakh niemals alles über Durando verraten, ohne die Sicherheit, dass er weiterleben konnte. Talon war der Feldherr von Durando, der Mann, der unter den Paladinen stand. Rakh würde ihn erst töten, wenn er die Informationen hatte, die er brauchte. Talon fragte sich nur, ob er sein Wissen bei sich behalten konnte, auch wenn sie ihn folterten.
Rakh blickte ihn nur weiter böse an. Dann erklang wieder seine rauhe, gefährliche Stimme. „Dafür wirst du bezahlen!“



Kelrir’ar taumelte plötzlich wie unter einem Schlag und wäre gestürzt, hätte Sheijh’la nicht blitzschnell zugegriffen und ihn gestützt. Er ließ sich auf den Boden gleiten und schloß kurz die Augen. Sheijh’la ging vor ihm in die Hocke und blickte ihn sorgenvoll an. Kelrir’ar war kreidebleich. Die schmale, blaue Tätowierung über seinem rechten Auge stach aus seiner Blässe hervor wie Ebenholz im Schnee.
Nach einigen langen Minuten blickte er auf. Er sah direkt in Sheijh’las besorgtes Gesicht. „Was ist passiert?“ Der Magier legte einen Finger auf die Lippen. Er blieb noch einen Moment sitzen, dann ließ er sich von Sheijh’la hochhelfen. Kelrir’ar konzentrierte sich und fokussierte seine Gedanken. Ein ungeheurer Schlag, ... Ein Schrei... das Gleichgewicht ist erschüttert, ... die Waagschalen haben sich verändert...die Konstellation der Kräfte, ... sie ... wurde verändert. Der Unerkannte ist stärker geworden. Sheijh’la verriet keine Reaktion. Ein Muskel zuckte in ihrer glatten Wange, ansonsten blieb sie vollkommen ruhig. Obwohl diese Nachricht schlimmer war als alles, was sie bisher von ihrem Lehrer gehört hatte. Trotzdem blieb sie ruhig und tat so, als wäre gar nichts passiert. Wenn Kelrir’ar in Gedanken mit ihr sprach, wollte er nicht, dass andere mithören konnten. Sie hatte von ihm gelernt, keine Reaktion zu zeigen, egal, was der Magier ihr mitteilte. Die Leute auf den Straßen des Dorfes, die sich zunächst neugierig umgedreht hatten, als der Magier bleich zu Boden sank, interessierten sich nicht mehr für sie. Sheijh’las Gesicht war eine undurchsichtige Maske, aber ihre Gedanken wirbelten in Fetzen durch ihren Kopf, aufgewühlt von einem Sturm, den sie nur mühsam beherrschen konnte. Was bedeutet das? ... wer? Wen hat sie? ... Der Unerkannte ... oder die Rakhyr,... es müssen die Rakhyr gewesen sein...kein Priester ist dazu in der Lage... sie sind zu wenige... Ruatt...Ruatt .... nein...nein, der Stein Korug ... die Dämonen, .. er hat sie gerufen... die Dämonen, Tod ... Die Rakhyr ... Sheijh’la stockte als sie merkte, dass sie sich in dem Gedanken verfangen hatte. Ja, Ruatt, die Rakhyr, ihr Führer Rakh, sie haben mit Korug die Dämonen gerufen. Sie haben angegriffen. Sie haben für den Unerkannten gekämpft und gesiegt. Sheijh’la blickte verwundert auf. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, ihre Gedanken zu übertragen, und trotzdem hatte Kelrir’ar auf ihre Gedanken geantwortet. Der alte Magier schaffte es immer wieder, sie zu überraschen. Kelrir’ar lachte nur. „ Du hast noch immer viel zu lernen, Sheijh’la. Du mußt deine Gedanken noch besser kontrollieren. Ich bin schließlich nicht der einzige auf Bellwar, der in der Lage ist, Gedanken zu lesen. Komm, laß uns gehen.“ Wir müssen herausfinden, wo sie angegriffen haben, fügten seine Gedanken hinzu.
Das Dorf Viskis war nicht besonders groß. Es lag am Rand des Gebietes der Ah-Kel, dort wo der große Strom, der H-Kel, die Länder der Ah-Kel von denen der Rho-Kel trennte. Kelrir’ar und Sheijh’la waren Ah-Kel, aber im Gegensatz zu den meisten anderen Angehörigen ihres Volkes reisten sie viel in anderen Ländern; oder besser gesagt: Der Magier Kelrir’ar reiste viel, Sheijh’la folgte ihm, um zu lernen. Kelrir’ar war einer der bekanntesten Magier auf Bellwar überhaupt. Er war ein Mann, dem man mit Achtung und Respekt begegnete, ein Mann, den man sich nicht zum Feind machen wollte. Selbst die Rho-Kel, die Erzfeinde der Ah-Kel, hatten den Magier willkommen geheißen.
Kelrir’ar betrat eine der Hütten. Sheijh’la folgte ihm. Ihre Sachen waren schnell zusammengepackt. Es war mittag, die Sonne brannte vom Himmel. Das Gebiet der Ah-Kel bestand zum größten Teil aus Wüste. Es war erst Frühling, und schon jetzt war es unerträglich warm. Die Bewohner des Dorfes hatten sich in ihre Hütten zurückgezogen., die staubige Straße war menschenleer. Sheijh’la war froh, dass sie jetzt wieder in südlichere, und kühlere Regionen reisten, denn der Tempel des Unerkannten lag weit im Süden. Dort würden sie bestimmt einen Anhaltspunkt finden.
Kelrir’ar und Sheijh’la verließen Viskis und gingen nach Osten, in Richtung des H-Kel. Ihren Proviant und ihr Gepäck trugen sie in leichten Beuteln über der Schulter. Ihre Waffen hatten sie griffbereit am Gürtel hängen. Da sie nicht wußten, wo die Dämonen angegriffen hatten, war Vorsicht geboten. Sheijh’la trug ein Rl’ah’Kel, die traditionell Waffe der Ah-Kel. Die mehrfach gebogene Klinge machte den Gebrauch der Waffe für einen Anfänger schwer, aber für einen geübten Kämpfer war die dolchähnliche Stichwaffe ein wirksames Mordinstrument. Kelrir’ar war mit einem magischen Dolch bewaffnet. Er bestand aus Vulkanglas, innen befand sich ein Hohlraum, in dem sich Kathragift befand. Kathra war ein tödliches Gift, das innerhalb von Sekunden wirkte. Es wurde aus einer Pflanze gewonnen, mußte aber lange aufgearbeitet werden, bevor es so wirkte wie jetzt. Einige wenige Magier verstanden es, diesen Prozeß zu beschleunigen.
Sheijh’la versuchte, ihre Gedanken zu lösen. Wie in Trance lief sie weiter, aber ihre Gedanken schweiften ab. Sie suchten nach dem Stein, der die Ursache für die Ringe im Wasser war. Sie lauschten nach irgendeiner Unregelmäßigkeit, einer Auffälligkeit, sie spürten die Wellen, die von ihnen ausgingen und versuchten ihren Ausgangsort zu finden. Ganz plötzlich wurde es Nacht um sie. Vor ihr flackerte ein Feuer, ein großes Feuer. Sie sah einen Turm, der zu Boden stürzte, dabei einen flammenden Schweif hinter sich herzog. Sie sah einen Krieger, der sich mit einem langen, glänzenden Schwert viele schwarze Schatten vom Leib hielt. Er schleuderte etwas, das brannte und wie der Turm einen langen Schweif hinter sich herzog. Als es den Boden berührte, explodierte dieser im Licht der Flammen. Sie sah wie die Schatten starben, sah die anderen Krieger nach vorne stürmen und die, die noch standen, niedermachten. Dann sah sie wieder diesen einen Krieger. Diesmal erkannte sie den Kopf eines Löwen auf seinem Stirnband. Dieser Krieger gehörte zu den Kriegern der Löwen. Er rannte plötzlich durch die Gänge eines Gebäudes, stürzte in einen riesigen Saal, wo seine Feinde ihn niederschlugen. Und sie sah einen Mann, einen Mann mit einer Krone. Auf seinem Gewand breitete sich Blut aus.
Sheijh’la keuchte plötzlich auf und fiel. Sie war blass wie ein Leichentuch. Kelrir’ar betrachtete die bewußtlose junge Frau, griff dann in die Tasche seines Umhangs. Er hielt Sheijh’la ein stark riechendes Grakkraut unter die Nase. Sie kam wieder zu sich, aber in ihren Augen loderte Entsetzen. Was hast du gesehen? , fragten die Gedanken des Magiers. Sheijh’la konnte sich nicht konzentrieren. „Vagon“ , flüsterte sie , „Durando.“ Ihr Flüstern klang endgültiger als ein Schrei. „Durando.“

Sheijh’la stieß das Boot vorsichtig vom Ufer ab. Dann tauchte sie lautlos das Ruder ins Wasser. Das Boot wurde von der Strömung erfasst und trieb langsam den H-Kel hinab. Kelrir’ar tauchte nur hin und wieder sein Ruder ins Wasser, um den Kurs zu korrigieren. Sie hatten den Fluss etwa eine Stunde nach Sheijh’las Zusammenbruch erreicht, und jetzt fuhren sie mit dem kleinen Boot, das ihnen einer der Bewohner von Viskis zur Verfügung gestellt hatte, den Fluss hinab. Sie wußten jetzt, dass sie nach Durando mußten, aber ihr nächstes Ziel war die kleine Hafenstadt Drenenda. Drenenda lag außerhalb der Länder der Ah-Kel und der Rho-Kel, es war ein Handelsknoten für alle, die den H-Kel als Handelsstraße benutzten.
Sheijh’la lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sie lauschte auf das klatschende Geräusch, mit dem das Wasser in sanften Wellen am Bug des kleinen Schiffes zerschellte. Sie versuchte, sich vollkommen zu entspannen. Es gelang ihr nicht. Immer wieder war da diese Schwärze, die in einer Ecke lauerte, undurchdringlich, tödlich. Sie ließ ihre Gedanken schweifen. Immer wieder kreisten sie um Durando. Sie konnte nicht genau sagen, was der alte Magier auf Durando tun wollte. Sie wußte auch nicht, ob seine Magie gegenüber der des Steines wirksam war. Sie würde ihm dabei kaum helfen können. Sie hatte zwar viel über Magie gelernt, aber mit Kelrir’ar konnte sie sich noch lange nicht messen. Aber vielleicht konnte es ihr gelingen, mit ihrer Magie Rakh den Stein zu entreißen. Sie war schließlich die Schülerin eines der größten Magier. Sheijh’la verschob diesen Gedanken sofort wieder. Sie hatte nicht vor, Kelrir’ar zu verlassen. Vielleicht brauchte er doch ihre Hilfe. Auch sie verfügte über Magie, und manchmal konnte auch sehr wenig sehr viel bewegen. Irgendwann schlief sie, in Gedanken versunken, ein.
Sie stand in einem großen Saal. Er war leer. Es war eine riesige Halle, schwarz, unheimlich. Sie ging auf die Mitte der Halle zu, aber sie kam kaum vorwärts. Jede ihrer Bewegungen schien in der Zeit verschoben zu sein. Es war, als müsse sie sich gegen ein unsichtbares Band stellen, das die Zeit festhielt. Jede Bewegung schien verzerrt, für einen Schritt brauchte sie Minuten, für ein paar Meter eine Stunde, und bis zur Mitte der Halle würde sie wahrscheinlich Tage brauchen. Die Zeit schien hier einfach verdreht zu sein. Plötzlich liefen ihre Bewegungen so schnell ab, dass sie nicht einmal mehr sehen konnte, wie sich ihre Beine bewegten. Binnen weniger Minuten stand sie in der Mitte der Halle. Vor sich sah sie jetzt einen Altar, riesig, steinern und völlig schwarz. Über ihm quoll plötzlich Rauch auf. Nein, es war kein Rauch, es war ein Schatten, der in dieser Höhle, in der es nur Schwarz gab, nur dadurch deutlich wurde, dass seine Dunkelheit mehr war als nur das Fehlen von Licht. Er war wie eine große Wolke, unheimlich, bedrohlich, vielleicht sogar tödlich. Er war schwärzer als die Dunkelheit in diesem Felsendom, schwärzer als alles, was sie je gesehen hatte. Schwarz war für sie immer nur eine Farbe gewesen, aber in diesem Schatten war es mehr als nur eine Farbe, es war mehr der Zustand, in dem dieser Schatten erschien. Die schwarzen Schwaden verdichteten sich, kreisten, wirbelten, formten sich neu. Aus ihnen bildete sich eine Gestalt, die ihr Angst einflößte Sie wollte laufen, weglaufen, aber sie kam nicht vorwärts. Es war wie eben, als die Zeit sie festgehalten hatte, nur dass sie jetzt nicht mehr gegen die Zeit ankam. Sie konnte nicht mehr gegen die Zeit laufen, so wie sie es gerade getan hatte. Sie konnte keinen Schritt tun. Sie konnte nicht einmal den Blick von dieser Gestalt abwenden. Es war wie in einem Buch, in dem die Geschichte schon geschrieben war, und niemand konnte sie ändern. Dies war jetzt ihre Geschichte, und sie war bereits geschrieben. Kalter Schweiß lief ihr über den Rücken, Schweißperlen tropften von ihrer Stirn. Sie kannte diese Gestalt, kannte sie nur zu gut. Es war ein Dämon, einer von denen, wie der Stein Korug sie rief, aber dieser schien viel zu groß und zu schwarz zu sein. Vielleicht war dies ein besonderer Dämon, einer, der Magie widerstehen konnte, und deswegen zu ihr geschickt worden war. Plötzlich erschien ein grünes, blendendes Licht vor dem Dämon. Es blendete sie so sehr, dass sie die Augen schließen mußte, um nicht die Netzhäute zu verbrennen. Nach scheinbar endlosen Augenblicken blinzelte sie. Als sich Sheijh’las Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, konnte sie klare Umrisse des Lichtes ausmachen. Es war ein Stein, ein Stein, der von innen heraus leuchtete, und zwar mit einem so unglaublich grellen Licht, dass sie nicht lange hinsehen konnte. Korug... hallte es durch ihren Kopf. Korug...Tempel des Unerkannten. Das Echo der Worte verhallte allmählich in ihrem Kopf. Plötzlich erschienen immer mehr Dämonen, kreisten sie ein, kamen immer näher. „Tod. Tod. Tod.“ , wisperte es zwischen ihnen. Sie wollten sie töten, wollten ihr Blut, und kamen näher und näher und näher. Plötzlich hielt sie den Stein in der Hand, das gleißende grüne Licht. Sie wußte nicht, wie er in ihre Hände gelangt war. Sie hielt ihn sehr hoch, über ihren Kopf. Plötzlich waren die Dämonen verschwunden, auch die Halle war nicht mehr da. Sie stand auf einem Felsgrat. Unter ihr, tief unten, loderten Flammen, ein Inferno der Hölle, ein Ort, wo alles verging, in der höllischen Glut. Die Bilder vor ihr wurden immer undeutlicher. Sie sah Flammen, Feuer, loderndes Feuer, Flammen und Feuer und Glut und dann... ein gleißendes grünes Licht, das in den Flammen erlosch.
Sie fand sich schweißgebadet auf dem Boot liegend wieder. Es war inzwischen dunkel. Fahles Mondlicht glitzerte auf dem Wasser. Ihr war eiskalt. Ihre Muskeln waren verkrampft vor Kälte. Aber es war nicht kalt. Es war eine laue Nacht, wie in den Gebieten der Ah-Kel und Rho-Kel üblich. Es war sogar recht warm. Trotzdem zitterte sie am ganzen Körper. Kelrir’ar war plötzlich ganz nah bei ihr, kniete neben ihr nieder und breitete seinen Mantel über ihr aus. Er strich vorsichtig über ihre Schläfe. „Schlaf weiter!“ , sagte er ruhig.

Wie lange sie geschlafen hatte, wußte Sheijh’la nicht. Das Boot schaukelte plötzlich heftig. Sie richtete sich auf und sah zu Kelrir’ar. Der alte Magier hockte im Bug des Bootes, seelenruhig, scheinbar ohne etwas zu tun. Das Wasser schäumte und spritzte. Sie blickte auf das Wasser. Sie befanden sich inmitten der gefährlichsten Stromschnellen des H-Kel. Kaum ein Händler wagte sich über diese Stromschnellen hinaus, das war wahrscheinlich auch der Grund, warum Drenenda so ein beliebter Handelsort geworden war. Wenn man den Fluss hinauffuhr, war Drenenda der letzte Hafen vor den Stromschnellen. Den Fluss hinabzufahren war für viele Händler der Inbegriff des Selbstmordes. Das Boot wurde hin und her geworfen, blieb aber im Gleichgewicht. Es sah so aus, als würde Kelrir’ar vorne im Boot schlafen, aber Sheijh’la wußte es besser. Für einen einfachen Mann mochten die Stromschnellen tödlich sein, aber nicht, wenn man einen Magier an Bord hatte. Kelrir’ar lenkte das Boot mit Hilfe seines Geistes sicher durch die Stromschnellen. In ungefähr einer halben Stunde mußten sie Drenenda erreichen. Sheijh’la lehnte sich zurück. Sie achtete nicht mehr auf das Schaukeln des Bootes. Ihre Gedanken schweiften ab.
Plötzlich war sie wieder in diesem dunklen Saal. Vor ihr lag der Altar, und darüber schwebte wie beim ersten Mal der unheimliche, schwarze Dämon. Wieder erschien vor ihr der grelle Glanz des Steines. Es war alles genauso wie in ihrem ersten Traum. Und doch war es anders. Sie fühlte sich wach. Wo ist bloß der Tempel des Unerkannten? , dachte sie. Mit plötzlicher, unglaublicher Sicherheit wurde ihr klar, dass ihre Aufgabe nicht auf Durando lag. Tempel des Unerkannten. Und genauso plötzlich wußte sie auch, dass sie Kelrir’ar verlassen würde.
Es war beinahe Mittag, als sie Drenenda schließlich erreichten. Drenenda war schon seit langer Zeit ein Handelsknoten. Hier kamen die meisten Händler, die den H-Kel befuhren, zusammen, um ihre Ware anzubieten. Dementsprechend zog die kleine Hafenstadt auch viele an, die kaufen wollten. Die Nähe zu den Ländern der Ah-Kel und Rho-Kel machte die Stadt zu einem Großmarkt an ausländischen Waren. Täglich trafen Schiffe ein, der Marktplatz wurde mehrmals täglich mit neuen Waren überflutet. Es herrschte zu jeder Tageszeit reger Betrieb zwischen Hafen und Markt. Die Lagerhäuser am Hafen waren voll, ein Teil der Waren wurde sofort von den Kähnen auf Wagen verladen, die sie ins Land hineinbrachten, nach Ak-Lah, Khop-rah und Shirkah, manchmal bis Wagor oder sogar bis Djiron. Obwohl es inzwischen viele andere Handelsorte gab, gab es doch keinen Kaufmann, der an Drenenda vorbeifuhr. Drenenda lebte vom Handel. Es war die wohl beliebteste Handelsstadt auf Bellwar, nur Djiron konnte es noch übertreffen. Drenenda war ein sehr lebendiger Ort.
Kelrir’ar führte sie über den Marktplatz zu einer Herberge, in der sie ein Zimmer mieteten. Danach ging der Magier wieder hinaus auf den Platz. Er wollte ein paar Dinge besorgen, die sie für die Reise brauchten, außerdem wollte er sich mit den Händlern unterhalten. Sie waren bekanntlich Leute, die nie den Mund halten konnten, aber immer wußten, was auf Bellwar geschah. Für einen guten Händler waren Informationen genauso viel wert wie ihre Ware.

Nachdem Kelrir’ar gegangen war, stand Sheijh’la allein in dem engen Raum. Sie seufzte und ließ sich auf ein Bett sinken. Sie fragte sich, wo wohl der Tempel des Unerkannten lag. Sie wußte nicht viel über ihn. Er war der Gott der Finsternis. Er hatte keinen Namen, er hieß einfach nur der Unerkannte. Diesen Namen hatten ihm seine Anhänger gegeben. In seinem Tempel, der nur ein Mythos auf Bellwar war, sollten laut der unzähligen, blutigen Gerüchte Menschen geopfert werden. Seine Anhänger behaupteten, ihr Gott sei der einzige Wahre. Sie sagten, dass ihr mächtiger Gott auf Bellwar nie erkannt worden wäre, und sie die einzigen waren, die die Erkenntnis dem Volk beibringen durften. Es gab nur einige wenige, die der Lehre des Unerkannten folgten, aber diese wenigen waren mächtige Leute. Die Priester des Unerkannten durchliefen eine magische Schule, die sie in die Künste der schwarzen Magie einwies. Sie waren gefährlich. Ihr Glaube machte sie gefährlich. Es war der Glaube an einen Gott, der alle zu Sklaven machen wollte, es war nur der Glaube an Macht, Macht über eine Welt, Macht über Milliarden von Menschen. Ihr Gott wollte, dass die Welt seinen Priestern gehorchte. Er wollte Macht. Er war bereit, sie mit allen Mitteln zu bekommen. Seine Priester waren bereit über Leichen zu gehen. Über Millionen von Leichen, wenn es sein mußte. Und jetzt hatten sie zugeschlagen. Sie hatten sich mit den Rakhyr verbündet, und jetzt waren sie ein tödlicher Feind.
Eine Stimme in Sheijh’la flüsterte: „Suche ihn, den Tempel des Unerkannten, suche und du wirst finden.“ Schließlich war es diese Stimme in ihr, die ihren Verstand besiegte. Sie wußte, dass sie gehen würde, auch wenn ihr Verstand sagte, der Tempel des Unerkannten sei nur ein Mythos.
Sheijh’la fand sich schließlich auf dem Marktplatz wieder. Sie hatte alle ihre Sachen zusammengepackt. Jetzt rüstete sie sich für eine lange Reise aus. Sie kaufte einen leichten Schuppenharnisch, leichtes Lederzeug, ein warmes Wams, ein paar Stiefel und einen Mantel. Beim Waffenhändler besorgte sie sich einen kleinen, zweischneidigen Dolch und ein Ak’z’hrat, eine leichte Hiebwaffe der Rho-Kel. Sheijh’la hatte von einem Rho-Kel gelernt, damit zu kämpfen. Nachdem sie alles besorgt hatte, ging sie zurück in die Herberge. Kaum war sie in ihrem Zimmer und hatte die Tür verriegelt, begann sie, sich umzuziehen. Sie zog ihr leichtes Wams an und legte darüber den Schuppenharnisch an. Das Lederzeug befestigte sie an den Unterarmen. Sie schlüpfte in die Stiefel und suchte aus ihrem Gepäck ein dünnes, schwarzes Stirnband heraus. Sie ließ es durch die Finger gleiten. Wie immer glaubte sie, darauf einen silbernen Löwenkopf auf dem Band zu sehen, aber sie wußte, dass er nicht da war. Sie wußte auch, dass sie ihn nie tragen würde. Die Krieger der Löwen waren nun einmal ein Kaste, die nur Männer ausbildete. Sie hatte schon immer davon geträumt, eine Kriegerin zu werden. Sie hätte eine Zhahr-Geweihte werden können, aber sie glaubte ebensowenig an Zhahr wie an Dariehm oder gar den Unerkannten. Es gab viele, die alle möglichen Götter anbeteten, aber Sheijh’la hatte schon als Kind herausgefunden, dass alle göttlichen Wunder, die die Priester zur Schau stellten, nur einige leichte Tricks waren. Vielleicht hatte sie das nur erkannt, weil sie eine gewisse magische Gabe schon als Kind besessen hatte. Die Krieger der Löwen waren auf Bellwar die einzige Kaste, die keinen Wert auf den Glauben an die unterschiedlichsten Götter legte. Sheijh’la hatte schon immer davon geträumt, zu ihnen zu gehören. Als sie bemerkte, dass dieser Traum nie wahr werden würde, hatte sie nach jemandem gesucht, der ihre magischen Fähigkeiten ausbilden konnte. Das gerade Kelrir’ar sie ausbilden wollte, hatte sie für einen Moment ihre Träume vergessen lassen. Jetzt, nachdem sie sich mit Waffen für einen Krieg gerüstet hatte, kamen alle diese Gedanken wieder hoch.
Seufzend packte sie ihre Sachen zusammen und verließ die Herberge. Bei einem Kräuterhändler erstand sie die wichtigsten Heilkräuter, dazu kaufte sie einige, aus denen sie Gift herstellen konnte. Sie war Kelrir’ar für seine Sorgfalt dankbar, die er bewiesen hatte, als er ihr alles über Kräuter beibrachte. Einen großen Teil an Kräutern würde sie unterwegs finden. Von ihrem letzten Geld kaufte sie ein Pferd, eine braune Stute mit glänzender, blauschwarzer Mähne. Sie verließ Drenenda so schnell wie möglich. Es war bereits später Nachmittag geworden, aber Sheijh’la ritt noch zwei Stunden, ehe es vollständig dunkel wurde. Sie band das Pferd an einen Baum , dann ließ sie ihr Gepäck bei ihm zurück. Sie befand sich noch auf der Ebene, auf der roter Sand und zähes Steppengras den Hauptteil der kargen Landschaft ausmachten. Es gab hier keine festen Wege, die große Straße von Drenenda lag weit entfernt. Der Baum, an den sie das Pferd gebunden hatte, war der einzige in Sichtweite. Sie bewegte sich nicht sehr weit von dem Baum weg, als sie losschlich, um nach Kräutern zu suchen. In dieser eher armen Landschaft hätte niemand Kräuter vermutet, aber Kelrir’ars Schule war sehr gründlich gewesen. Sheijh’la fand mehrere Warmahkräuter und eine Ilkritwurzel. Warmahkräuter waren Heilkräuter, die man auf Wunden legte. Die Ilkritwurzel war giftig, sie bewirkte, dass die Opfer in Sekundenschnelle bewußtlos zu Boden fielen und erst nach Stunden wieder erwachten. Danach litten sie meistens an krampfartigen Magenschmerzen. Aber die Wurzel war nicht tödlich. Sheijh’la kehrte zu ihrem Lager zurück. Mit dem Dolch schälte sie die Wurzel, dann wickelte sie sie fest in nasses Leder.
Sie rollte sich auf dem Boden unter einer Decke zusammen und schlief sofort ein. Wieder träumte sie diesen Traum.
Sie stand in dieser riesigen Halle, alles schwarz, unheimlich. Sie ging auf die Mitte der Halle zu, mit dem Gefühl, sich trotzdem nicht zu bewegen. Der Altar tauchte wieder ganz plötzlich auf, auf ihm dieser grelle, grünleuchtende Stein., von dem sie wußte, dass es Korug war. Sie berührte den Stein. Er war eiskalt. Korug, Tempel des Unerkannten. Als nächstes sah sie sich, wie sie draussen stand, an einem Fluss, der eher noch ein Bach war. Sie sah Berge. Sie konnte die ganze Landschaft sehen, so als wäre sie dort. Sie sah, wie der Fluss an ihr vorüber zog. Es war, als folge sie seiner Strömung. Er wurde breiter und breiter. Auch die Landschaft veränderte sich. Den Bergen folgte der Wald, danach die Ebene, dann floß der Fluss durch einen Sumpf. Dann war sie plötzlich an einer Stelle, wo der Fluss so breit war, dass man von der einen Seite die gegenüberliegende nicht mehr sehen konnte. Hier stürzte der Fluss ins Nichts. Unter ihr war plötzlich nichts mehr als Wasser. Sie wußte, dass es Salzwasser war. Sie schwebte über dem Wasser und drehte sich langsam um. Sie sah die Wassermassen, die wie eine Wand aus Wasser fünfhundert Meter in die Tiefe stürzten. Sie sah sie, ohne ein Geräusch zu hören. Dann wachte sie auf.
 



 
Oben Unten