Damals

onivido

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Der Weg schlich an der Friedhofsmauer entlang, auf der anderen Seite vertrocknete Wiesen, von Bombenkratern durchlöchert und das Bahngleis. Es waren nur noch zwei Stationen bis zum Haus von Erichs Tante. Eine waren sie schon gelaufen. Die frühe Nachmittagssonne brannte auf den lehmigen Weg. Ein Stück gehen, ein Stück laufen. Ihre Schuhe hatten sie an den Schnürsenkel um den Nacken gehängt. Sie mussten geschont werden, damit sie den kommenden Winter überstehen würden. Noch zwei Stationen. Bei Tante Sofie würden sie Tee trinken und Butterbrote mit Marmelade essen. Woher die Tante die Butter, die Marmelade und das Brot hatte, wusste niemand. Manchmal tuschelten Erichs Eltern darüber. Oft hörte er das Wort “Schieber”. Damit meinten sie Anderl, glaubte er, den Mann seiner Tante. Es war ihm egal, was sie über Onkel Anderl sagten. Er war und blieb sein Lieblingsonkel, immer freundlich lächelnd, geduldig. Wenn er einmal nicht lächelte, gingen ihm alle aus dem Weg.
Brennender Durst. Sigi und Helle waren davon überzeugt, dass mit dem Wasser aus den Hähnen im Friedhof vorher Leichen gewaschen worden waren. Deshalb tranken sie aus den Pfützen auf dem Weg. Wenn man den Finger ins klare Wasser der Pfützen steckte, peitschten sich Mückenlarven auf den Grund. Erich glaubte nicht an die Sache mit der Leichenwäscherei, aber sicher war er sich auch nicht. Er trank weder aus den Pfützen, noch von den Wasserhähnen im Friedhof. Bald würden sie im Schatten des düsteren Fichtenwaldes sein und die Kühle würde auch seinen Durst lindern.
Schnurstracks führte die Schneise durch den Wald an einer Siedlung für Angehörige der amerikanische Besatzungsmacht vorbei. Und da sahen sie ihn. Einen Jungen in ihrem Alter. Kein Fussballfeld weit von ihnen entfernt, zuckelte er auf sie zu. In der Hand trug er eine Tüte von der er mit der anderen von Zeit zu Zeit etwas an den Mund führte. Als er sie bemerkte, machte er kehrt und marschierte im Eilschritt in Richtung Siedlung. Wie eine Meute Jagdhunde rannten sie los. Auch der Junge begann zu laufen, doch schon nach kurzer Zeit gab er auf und blieb am Wegrand stehen. Augenblicke später umzingelten sie ihn. Der Junge keuchte immer noch, Schweiss lief über sein vor Angst verzerrtes Gesicht. Er war älter als sie, bestimmt schon elf, schätzte Erich, milchweiss und fett mit grossem Arsch wie alle Amis. Mit ausgestrecktem Arm hielt er ihnen die Tüte entgegen. Sigi riss sie ihm aus der Hand. Dann beachteten sie den Jungen nicht mehr. Sie mussten ihre Aufmerksamkeit dem Inhalt der Tüte zuwenden. Dem Sigi war beim Verteilen einer Beute nicht über den Weg zu trauen.
Viel Wasser ist die Isar hinuntergeflossen seit damals.
Am Steuer seines neuen Landrovers sieht Erich im Rückspiegel seine drei gelangweilten Enkel aus einer Riesentüte an Popcorn knabbern.
Der fette Junge kommt ihm in den Sinn. Gedankenverloren wendet er seinen Blick ab.
“Maracaibo 50 km”, liest er auf dem gruenen Schild ueber der Autobahn.
 

Ord

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Hallo Onivido,

ich las den Titel und war gespannt, in welche Zeit ich wohl gleich reisen würde.
Das erste Bild, das ich vor Augen hatte, war ein Weg, der an einer Friedhofsmauer entlang schleicht. Ich denke, das hattest Du so nicht beabsichtigt.
Davon abgesehen konnte ich mir die Umgebung gut vorstellen.

Eine Wiederholung:
Es waren nur noch zwei Stationen bis zum Haus …
… den kommenden Winter überstehen würden. [strike]Noch zwei Stationen.[/strike]
Und ein Fehler:
„ … an den Schnürsenkel[red]n[/red] um den Nacken.“

Bei Tante Sofie würden sie Tee trinken und Butterbrote mit Marmelade essen. Woher die [strike]Tante[/strike] sie die Butter, die Marmelade und das Brot hatte, wusste niemand. [blue]Manchmal tuschelten Erichs Eltern darüber. Oft hörte er[/blue] das Wort “Schieber”. Damit meinten sie Anderl, glaubte er, den Mann seiner Tante. Es war ihm egal, was sie über Onkel Anderl sagten. Er war und blieb sein Lieblingsonkel, [blue]immer freundlich lächelnd, geduldig. Wenn er einmal nicht lächelte, gingen ihm alle aus dem Weg.[/blue]
Auch hier Wiederholungen.
Mir sind zwei Widersprüche aufgefallen, die ich blau gekennzeichnet habe.
Außerdem würde ich Onkel Anderl schon etwas eher in den Text einbauen, da er der Lieblingsonkel des Protagonisten ist.
Meine Idee dazu:
[blue]Bei Tante Sofie und Onkel Anderl würden sie sich an Butterbroten mit Marmelade satt essen. Woher die Beiden trotz der Lebensmittelmarken / trotz der schlechten Versorgungslage so reichlich davon hatten, wusste Erich nicht. Er hörte die Eltern tuscheln, Tante Sofies Mann sei ein „Schieber“. Doch dem Neffen war es egal, was sie über seinen Lieblingsonkel sagten.[/blue]

?Die Beschreibung der Pfützen mit den zuckenden Mückenlarven, der kindlichen Vorstellung des „Leichenwassers“ und der Verfolgungsjagd sind Dir meiner Meinung nach recht gut gelungen.
Den Abschnitt mit dem düsteren Fichtenwald bis hin zum „Eilschritt“ könntest Du noch etwas abrunden.
Ein Fehler: „… Siedlung für Angehörige der amerikanische[red]n[/red] Besatzungsmacht …“

?Am Steuer seines neuen Landrovers sieht Erich im Rückspiegel seine drei gelangweilten Enkel aus einer Riesentüte an Popcorn knabbern. ?Der fette Junge kommt ihm in den Sinn. Gedankenverloren wendet er seinen Blick ab. ?“Maracaibo 50 km”, liest er auf dem [red]gruenen[/red] Schild [red]ueber[/red] der Autobahn.
Dieser Schluss wirft Fragen auf:
Warum wird erwähnt, dass der Landrover neu ist und die Enkel sich langweilen?
Warum kommt dem Protagonisten „der fette Junge“ erst jetzt in den Sinn, nachdem der Rückblick erzählt wurde? Hier stimmt der Zeitablauf nicht.
Warum erwähnst Du Maracaibo?

Durch die Beschreibung der drei Enkel, die Popcorn aus einer Tüte naschen, entsteht eine Verbindung zur Erinnerung des Protagonisten und es wird gezeigt, wieviel Zeit seit damals in etwa vergangenen ist.
Das Wort „gedankenverloren“ hat mich durch seine Platzierung am Textende über die Geschichte hinaus geführt und mich an ein Erlebnis aus meiner Kinderzeit denken lassen.

Viele Grüße
Ord
 

onivido

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Hallo Ord,
Danke fuer die ausfuehrliche Kritik.
Das mit der Friedhofsmauer war beabsichtigt. Warum passt das nicht?
Die Wiederholung der 2 Stationen, sollte ausdruecken was in den Koepfen der Kinder vorging. Missglueckt.
Der neue Landrover sollte zeigen, dass der Erich keine Not leidet. Seine Enkel langweilen sich und essen Popkorn. Da muss er an den fetten Jungen denken.Es wird ihm nicht gefallen bei seinen Enkeln Aehnlichkeiten mit ihm zu sehen.
Maracaibo wird erwaehnt um anzuzeigen, dass Erich nicht mehr in Deutschland ansaessig ist.
Bloed, wenn man eine Geschichte erklaeren muss. Da stimmt dann was nicht bei ihr.
Vielen Dank nochmals///Onivido
 

Ord

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Hallo Onivido,

Das mit der Friedhofsmauer war beabsichtigt. Warum passt das nicht?
Du schreibst, dass der Weg an der Friedhofsmauer entlang schleicht. Das habe ich so noch nicht gelesen.
Ich kenne den Ausdruck „Schleichweg“ als Bezeichnung für einen verborgenen Weg.
Auch, dass ein Weg sich durch die Landschaft schlängelt oder z.B. an Gleisen entlang führt.

Bloed, wenn man eine Geschichte erklaeren muss. Da stimmt dann was nicht bei ihr.
Oder der Leser ist begriffsstutzig ;-)
Die thematischen Schwerpunkte Deines Textes liegen für mich darin, dass Erinnerungen plötzlich durch gegenwärtige Situationen oder Sinneseindrücke geweckt werden können und dass der Protagonist in diesem Zusammenhang an die Begegnung mit dem „fetten Jungen“ denkt.
Ich freue mich, dass die Leselupe als Arbeitsplattform die Möglichkeit bietet, mit dem Autor in Kontakt zu treten, um zu hinterfragen, warum er etwas genau so aufgeschrieben hat.
Mich hat interessiert, warum Du es für wichtig erachtest, hervorzuheben, dass Erich einen neuen Wagen fährt, dass die Enkel sich langweilen und dass Erich sich nun im Ausland befindet.
Danke für Deine Antworten. Ich verstehe das jetzt so:
Da Du bewusst erwähnst, dass Erich keine Not leidet, wolltest Du den Gegensatz zwischen der schlechten Versorgungslage während der Nachkriegszeit und dem heutigen Leben des Protagonisten herausstellen.
Und dass die Enkel sich langweilen, hat keine tiefere Bedeutung, sondern gehört für Dich zur Beschreibung der augenblicklichen Situation.

Seine Enkel langweilen sich und essen Popkorn. Da muss er an den fetten Jungen denken.Es wird ihm nicht gefallen bei seinen Enkeln Aehnlichkeiten mit ihm zu sehen.
Was mich irritiert, ist der Zeitablauf, denn die Geschichte wurde schon vorher erzählt.
Erich sieht seine drei Enkel Popcorn aus einer Tüte knabbern.
Das hat mich als Leser vermuten lassen, dass er aus diesem Grund an die Begebenheit von damals denken musste und im Landrover gerade eben aus dieser Erinnerung wieder aufgetaucht ist.
Aber danach lese ich: „Der fette Junge kommt ihm in den Sinn.“
Ich hoffe, ich konnte das verständlich genug erklären.
Möglicherweise könntest Du stattdessen aufschreiben, welcher Gedanke Erich in dem Moment durch den Kopf geht, also als Frage- oder Aussagesatz.
Vielleicht liege ich mit meiner Ansicht aber auch völlig daneben.
Mir wäre auch nicht in den Sinn gekommen, dass Erich bei seinen drei Enkeln Ähnlichkeiten zu dem Jungen, beschrieben als "milchweiss und fett mit grossem Arsch wie alle Amis" sehen könnte.

Danke für Deine Erklärungen!

Viele Grüße

Ord
 



 
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