Damals = Heute

Damals = Heute

Ich traf auf den alten Hitler, als ich hungrig durch einen Wald streifte und nach einem Café Ausschau hielt. Er saß auf einer schwarz gestrichenen Bank, hinter einem schwarz gestrichenen Tisch, vor einer schwarz gestrichenen Villa, streichelte mit der linken Hand ein schwarzes Kaninchen und stocherte mit seiner Gabel in einem Stück Apfelkuchen.
„Die Medien“, meinte er entschuldigend in Hinblick auf die eintönige Farbgestaltung, „die wollen das totale Klischee. Und schwarz ist böse. Ich habe sogar eine Zahnbürste mit schwarzen Borsten.“
Er justierte seine graumelierten Seitenscheitel, stand auf und rief mit gewohnter Stärke: „Heil Hitler!“
„Heil Hitler!“ erwiderte ich, als ich mich vergewissert hatte, dass mich keiner beobachtete.
„Ich dachte, sie seien tot.“
Er grinste.
„Das bin ich ja auch.“
Mein fragender Blick verlangte eine Erklärung.
„Nun ja, wie gesagt, Hitler ist zwar gestorben, aber er lebt weiter. Verstehen sie?“
Ich nickte, ohne seine Worte wirklich begriffen zu haben.
„Nun ja, wenn ich sie schon mal treffe: Wie haben sie es eigentlich geschafft ihr eigenes Volk ruhig zu halten, während sie andere folterten und ermorden ließen?“
Er winkte ab.
„Später, später. Wollen sie sich nicht erst einmal setzen und von dem Kuchen probieren.“
„Selbstgebacken“, fügte er verheißungsvoll hinzu. Ich konnte kaum ablehnen. Er reichte mir auf einem Teller ein Stück herüber und schüttete mir Kaffee ein. Als das Kaninchen von seinem Schoß hüpfen wollte, packte er dessen Nacken, zog es zurück und grinste zufrieden.
„Was wollten sie doch gleich wissen?“
„Wie sie es geschafft...“
„Richtig, richtig, wie ich es geschafft habe mein Volk ruhig zu halten, während andere sterben musste.“
„Genau, wie ist ihnen das gelungen?“
„Was denken sie?“
Die Frage verblüffte mich. „Äh, nun ja, ich denke durch ...Unterdrückung. Ja, ich denke, sie haben es ebenfalls unterdrückt.“ Er lächelte müde.
„Das denken die meisten und liegen damit ziemlich falsch. Es stimmt, es hat Verfolgungen gegeben, Abschreckungsmaßnahmen, aber...noch ein Stück Kuchen?“
„Gerne.“
Hitler konnte wirklich vorzüglich backen.
„Also, es hat zwar Repressalien gegeben, das bestreite ich nicht, gegen Juden, Feinde, aber nicht gegen den Großteil des deutschen Volkes. Und wissen sie, was die Menschen wirklich von einem Aufbegehren abgehalten hat.“
Er hielt inne und sog die Luft ein: „Sie waren zufrieden.“
Ich blicke ihn verständnislos an. „Wie, sie waren zufrieden?“
„Nun ja, die Situation war verheerend. Vor mir. Ich traf auf ein wirtschaftlich am Stock gehendes Land mit einer geradezu katastrophal hohen Arbeitslosenquote. Was gab ich ihnen also: Ich gab ihnen Jobs, ich baute Autobahnen, sähte den Samen für ein florierendes Vereinsleben und stillte somit ihre gröbsten Bedürfnisse. Sie waren zufrieden und somit gleichgültig. Blind. Sie bekamen einfach nicht mit, was sich vor ihrer Nase abspielten , da sie nicht weiter gucken konnte, als bis zur Spitze ihrer Nase. Darf ich ihnen Kaffee nachschenken?“
Ich nickte. „So einfach war das damals.“
„Das glaube ich nicht“, wies ich seine These zurück und sah von meinem Teller auf. Und in diesem Moment wies er auf das blutende Kaninchen, das die ganze Zeit auf dem Tisch verharrt hatte. Es befand sich bereits im Todeskampf. „Sehen sie“, meinte er spitzbübisch grinsend, „der Kuchen hat ihnen geschmeckt, oder?“
 

Devaudan

Mitglied
Was sol ich sagen? Ich bin beeindruckt von der einfachen Darstellung der Verführung eines ganzen Volkes, von der Reduzierung des Problems der Kollektivverantwortung auf das Wesentliche. Das es im Grunde nicht mehr als die Ablenkung von den Tatsachen war, stellt der besagte Kuchen und der Kaffee vorzüglich da.
Wie gesagt, ich bin beeindruckt.

Gruß
Devaudan
 

Frank11NR

Mitglied
Ich kann mich nur anschliessen, allerdings finde ich, dass der Titel etwas verfehlt ist...
der Hinweis darauf, dass die Zustände heute mit den damaligen zu vergleichen sind ist zwar durchaus angebracht, allerdings fehlt meiner Meinung nach ein wichtiger Bestandteil, namentlich der, dass zumindest der Grossteil des deutschen Volkes aus der Geshcichte gelernt hat, und dass deshalb Zustände wie während des dritten Reiches nicht mehr möglich wären.

So, das war die Kritik, is zwar viel, aber eigentlich nich allzu doll ;o)

Mal zum positiven(was zweifellos überwiegt): Der Gedanke, mit dem grössten Volksverhetzer unserer Geschichte zu sprechen und ihn nach seinen Beweggründen und Vorgehensweisen zu fragen fasziniert mich wohl ebenso wie Dich, und auch wenn es unergründbar bleiben wird, wie genau solche Greueltaten möglich waren, so scheint mir Dein Ansatz ziemlich realistisch...

Was mir persönlich an Deiner Geschichte noch gefällt ist die Komik die zweifellos im Gedanken an einen backenden Hitler im Wald steckt.
 
W

willow

Gast
Hallo,

ok, das hat mich beeindruckt, vor allem, weil die Geschichte viel Potenzial bietet.
Vor allem das "damals wie heute" ließe sich noch weiter ausbauen...

Zugegeben, über das Kaninchen musste ich nachdenken. Ich hatte zunächst einfach nicht kapiert, dass er es vor den Augen des Protagonisten umgebracht hat.

Dein Text gefällt mir wirklich gut, die Umsetzung ist mir das erste Mal so begegnet. Wirklich überzeugend.

LG,

willow
 



 
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