Daniels Gedanken

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Ruhig lag der See in der Abendsonne. Daniel fuhr mit seinem Pick-up soweit wie möglich an den Rand des Sees heran, schaltete den Motor aus und stieg aus. Niemand war zu sehen; in der winterlichen Kälte Anfang Februar verirrten sich selten Touristen an den See. Es sei denn, er wäre zugefroren. Es gab immer Abenteuerlustige, die darauf Schlittschuh liefen, egal wie viel Schilder auch davor warnten.
Zum Glück war der See nicht von Eis bedeckt. In dem Fall hätte er seinen Plan vergessen können. Daniel betrachtete die Ladefläche des Pick-ups. Er hatte das, was auf dem Boden lag, mit Decken ausgestopft und diese mit mehreren Gurten festgezurrt. Auf dem Weg hierher hatte er davor gezittert, in eine Polizeikontrolle zu geraten.
„Dürfen wir uns mal Ihre Ladung ansehen?"
Bei der Vorstellung hatte sein Herz schneller angefangen zu schlagen, und der kalte Schweiß war ihm ausgebrochen. Jetzt hatte sich seine Aufregung gelegt und war einer kühl kalkulierenden Stimmung gewichen.

Daniel ging ein paar Schritte. Womöglich die letzten in Freiheit, schoß ihm durch den Kopf.
Wenn sie ihn erwischten, wäre es vorbei mit der Freiheit. Aber noch war es nicht soweit. Seit gestern Abend konnte niemand etwas bemerkt haben.
Tief und mit Genuss sog er die klare frische Luft ein. Im Gefängnis würde er wohl einen täglichen Hofgang spendiert bekommen. Immerhin frische Luft.
Aber sicher nicht an einem See.

Er starrte auf die Wasseroberfläche. Auf einem der vielen Schilder war die Wassertiefe vermerkt. In der Mitte war der See 30 Meter tief. Aber wie sollte er mit seiner Ladung in die Mitte kommen?
War wohl doch keine so gute Idee gewesen mit dem See. Überhaupt, ein reißender Fluss würde alles mit sich reißen, das sagte schon der Name. Ein stehendes Wasser wie dieser See nicht.

Elaine hatte ihn am gestrigen Abend ausgelacht. „Was für eine Idee!", hatte sie gesagt. „Hat man sowas je gehört? Aber gut, probier es ruhig aus!"
Er war gekränkt gewesen. Er würde es ausprobieren. Das hatte sie davon.
Und jetzt?
Er konnte das, was auf der Ladefläche des Pick-ups lag, nicht hier im See entsorgen. Bestenfalls wäre es Umweltverschmutzung. Er drehte sich um, stieg wieder ins Auto und fuhr auf dem schnellsten Weg nach Hause.

Elaine saß vor dem PC, als er nach Hause kam. Sie lächelte ihn an, stand auf und gab ihm einen Kuss. Der Streit von gestern war vergessen.
„Hast du alles gelesen?", fragte er.
Elaine nickte. „Klasse Story. Und wie war dein Test?"
„Du hattest recht", musste er zugeben.
„Wusste ich doch." Ihre Augen blitzten ihn auf schelmische Art an. „Kein Täter würde auf so eine blöde Idee kommen. Eine Leiche in einem See zu versenken!"
„Zumindest keiner, der nicht will, dass sie entdeckt wird", stimmte er zu.
„Du hast übrigens doch nicht wirklich ..."
„Nein, ich habe unseren Kasimir nicht wirklich entsorgt." Kasimir war eine lebensgroße Figurr aus Kunststoff, die Elaine vor einigen Jahren auf dem Flohmarkt entdeckt und begeistert nach Hause geschleppt hatte, sehr zu Daniels Entsetzen.
„Freut mich."
„Aber abgesehen von der technischen Seite ..."
„Ja?"
„Ich weiß jetzt, wie mein Protagonist sich fühlen muss nach der Tat."
Elaine umarmte ihn. „Gut gemacht."
 

petrasmiles

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Liebe SilberneDelfine,

eine gut geschriebene Szene. Als Krimi-Tante war ich natürlich sofort in der Spur.
Sich dem ganzen psychologisch zu nähern, fand ich interessant, die Pointe überzeugend.
Ob sich Krimi-Autoren wirklich solchen Prozeduren unterziehen und nicht statt dessen frech behaupten, mag ich nicht entscheiden.

Nur an dieser Stelle könnte es eine Glättung geben:
Daniel ging ein paar Schritte. Womöglich die letzten in Freiheit, schoß ihm durch den Kopf.
Wenn sie ihn erwischten, wäre es vorbei mit der Freiheit ['ihr' oder 'damit'].
Die zweite 'Freiheit' ist noch nah genug an der ersten dran, dass man sich auf die beziehen kann - meine ich.
Gerne gelesen!

Liebe Grüße
Petra
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Silberne Delfine,
die Idee finde ich klasse. Bei der Ausführung stört mich aber, dass Daniel wirklich wie ein Verbrecher zu denken scheint. Das finde ich nicht schlüssig. Zum Beispiel:
Auf dem Weg hierher hatte er davor gezittert, in eine Polizeikontrolle zu geraten.
Warum solte er zittern, wenn er nur eine harmlose Puppe auf der Ladefläche zu liegen hat? Ich verstehe, worauf du hinaus willst. Daniel will sich in seine Romanfigur einfühlen. Aber ich würde das zweideutiger formulieren, damit es besser zum Twistende passt.

„Nein, ich habe unseren Kasimir nicht wirklich entsorgt."
Du könntest Kasimir schon früher auftreten lassen, wenn die Katze noch nicht aus dem Sack ist. Vielleicht fragt die Freundin besorgt, was mit Kasimir ist und der Leser weiß noch nicht, dass alles nur ein Test war und Kasimir nur eine Puppe. Das könnte den Leser doch gut aufs Glatteis führen.

Viele Grüße
lietzensee
 
Hallo lietzensee,

danke für deinen Kommentar! :)

die Idee finde ich klasse. Bei der Ausführung stört mich aber, dass Daniel wirklich wie ein Verbrecher zu denken scheint.
Das war natürlich Absicht - hast du auch richtig erkannt. Und genau darum geht es: dass er sich dermaßen in seine Romanfigur einfühlt, dass er selbst wie ein Täter denkt.
Was dich also hier stört, ist quasi die Grundessenz der Geschichte.

Warum solte er zittern, wenn er nur eine harmlose Puppe auf der Ladefläche zu liegen hat?
Weil es in seiner Vorstellung keine harmlose Puppe mehr ist und er sich mit seiner Rolle identifiziert.

Du könntest Kasimir schon früher auftreten lassen, wenn die Katze noch nicht aus dem Sack ist. Vielleicht fragt die Freundin besorgt, was mit Kasimir ist und der Leser weiß noch nicht, dass alles nur ein Test war und Kasimir nur eine Puppe. Das könnte den Leser doch gut aufs Glatteis führen..
Nee, das hätte meiner Meinung nach den Überraschungsmoment zerstört. Es ging auch tatsächlich weniger darum, den Leser aufs Glatteis zu führen (war nur ein willkommener Nebeneffekt, der mir erst beim Schreiben einfiel), sondern um das psychologische Einfühlen in eine Figur.

LG SilberneDelfine

Hallo Petra,

auch für deinen Kommentar vielen Dank! Freut mich, dass dir die Geschichte gefällt.

.
Die zweite 'Freiheit' ist noch nah genug an der ersten dran, dass man sich auf die beziehen kann - meine ich.
Gerne gelesen!
Ich hatte mir das zwar vor dem Einstellen auch überlegt. Aber dann habe ich es absichtlich so gelassen - es ist gar nicht schlecht, wenn er sich doppelt Gedanken über Freiheit macht, fand ich dann.

LG SilberneDelfine
 
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lietzensee

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,
vielen Dank für deine Erklärung.
Und genau darum geht es: dass er sich dermaßen in seine Romanfigur einfühlt, dass er selbst wie ein Täter denkt.
In dem Fall fehlt für mich eine Motivation, warum Daniel sich so in die Romanfigur einfühlt. Macht er das bei jeder seiner Romanfiguren? Hat der Spot seiner Frau irgend ein Trauma wachgerüttelt?
Und wenn er sich so einfühlt, warum gibt er die "Leichenentsorgung" dann so schnell wieder auf? Er merkt, dass er den Kasimir nicht einfach in den See werfen kann und fährt mit der "Leiche" zurück zu seiner Frau. Das würde ein vor der Polizei zitternder Täter ja auch nicht tun.

Viele Grüße
lietzensee
 
Hallo lietzensee,

In dem Fall fehlt für mich eine Motivation, warum Daniel sich so in die Romanfigur einfühlt. Macht er das bei jeder seiner Romanfiguren? Hat der Spot seiner Frau irgend ein Trauma wachgerüttelt?
Vielleicht. :)
Wie sagte @DocSchneider mal unter einer ganz anderen Geschichte (keine von mir, ich weiß nicht mehr welche, ist ziemlich lange her), und das war etwas, was ich mir gemerkt habe: „Erkläre niemals deinen Text". Das Spekulieren darüber, warum er es macht, überlasse ich dem Leser.
Es ist ja auch Kurzprosa, nur eine kurze Momentaufnahme, keine Kurzgeschichte mit Rückblende und Erklärungen. Wobei mir auch mal jemand gesagt hat, ich solle in meinen Texten nicht so viel erklären.

Und wenn er sich so einfühlt, warum gibt er die "Leichenentsorgung" dann so schnell wieder auf? Er merkt, dass er den Kasimir nicht einfach in den See werfen kann und fährt mit der "Leiche" zurück zu seiner Frau. Das würde ein vor der Polizei zitternder Täter ja auch nicht tun.
Nein, aber ab diesem Punkt ist er ja aus seiner Rolle ausgestiegen.

Er würde es ausprobieren. Das hatte sie davon.
Und jetzt?
Er konnte das, was auf der Ladefläche des Pick-ups lag, nicht hier im See entsorgen. Bestenfalls wäre es Umweltverschmutzung. Er drehte sich um
Ab „und jetzt" landet er wieder in der Wirklichkeit. Ein mutmaßlicher Täter würde sich auch keine Gedanken über Umweltverschmutzung machen.

LG SilberneDelfine
 
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