Dann behaucht er kalt

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wiesner

Mitglied
Dann behaucht er kalt


Kaum verwurzelt steht sein Wanken
an Stein und Moos. Und funzelt graues Licht,
schleicht er sich den alten Kranken
aufs dünn und fremd gewordene Gesicht.

Dann behaucht er kalt die Wunden,
bedrängt, erstickt und alles niederwirft.
Wer nur reicht in diesen Stunden
den Kelch, aus dem die Welt ihr Trösten schlürft?

So verwaist in Erdeneile
das Du vorm Wir. Und Todes Auftrag ist,
an die Knochenhand mit Feile,
ein holzgebauter Himmel, dumpf und trist.

Dort entseelt verladen droht kein Wanken,
es flackert nur ein graues Licht.
 

wiesner

Mitglied
Ich befürchtete die in der Lupe üblichen Diskussionen bei unterschiedlichen Sichtweisen, denn das hier vorliegende Finale hat ja sein eigenes Aussehen, das möglicherweise nicht zum englischen S. passt. Wers mag, solls in die feste Form verschieben.

Dankeschön, mondnein, für den Besuch.

Béla
 

fee_reloaded

Mitglied
Ein starker Text, lieber Bela!

Geht wirklich unter die Haut - auch sprachlich. Sehr schön! Ich verorte es auch unter "Sonett" und ich meine auch, hier schon einige Shakespeare - Sonette in den festen Formen als solche gelesen zu haben. Ganz diskussionsfrei.

QUOTE="wiesner, post: 885229, member: 27056"]
Dann behaucht er kalt die Wunden,
bedrängt, erstickt und alles niederwirft.
[/QUOTE]

geht für mich allerdings, was die Syntax betrifft, nicht wirklich auf. "Dann.....behaucht er...und niederwirft" - klingt (nimm's mir nicht übel) ein bissl hopperdatschig bzw. zu offensichtlich verbogen, um den Reim zu liefern. Wie wäre etwas wie

Dann behaucht er kalt die Wunden,
bedrängt, erstickt, was er so niederwirft


Dann wäre es syntaktisch wie auch reimetechnisch glatt.

Ist aber das Einzige, wo ich kurz hängengeblieben bin. Ein rundum höchst gelungenes Gedicht und herrlich unverbraucht angesichts des viel-beschriebenen Themas! Jede einzelne Strophe, jeder Vers ein Highlight! Das muss man erst mal so hinbekommen. Und inhaltlich absolut treffsicher (meine Mutter starb (voller Angst vorm Tod) im Krankenhaus an Lungenkrebs...daher kann ich sagen: du hast keines der dem Sterben eigenen Details ausgelassen. Und daher geht dein Text natürlich noch mehr unter die Haut (und holt tunlichst verdrängte Bilder hoch).

Wollte ich dein Sonett mit einem Gemälde zum Thema vergleichen, würde ich an Grünewalds zutiefst beeindruckende Darstellung der Kreuzigung denken. Auch da wird nichts gemildert oder beschönigt dargestellt. Und dadurch hat es eine Wucht und Realitätsnähe, die einem gruselig nahe geht.

Wirklich starkes Gedicht! Gratuliere!

Liebe Grüße,
Claudia
 

wiesner

Mitglied
@Galadriel

Danke für Kommentar u. Wertung!
Ich hoffe, dass das Schaurig-schöne länger vorhält als die Gänsehaut ;)!

@fee_reloaded

Liebe Claudia,
Auch Dir herzlichen Dank für Deinen Besuch!

Die von Dir 'belastete' Zeile 6 ist keinesfalls hingebogen und einem Reim geschuldet, ich hätte auch niederringt...Trösten trinkt nehmen können.
Die holprige Inversion, die mir übrigens gar nicht so schlecht gefällt, aber wohl keine Zukunft in diesem Gedicht hat, rührt wohl von der mir typischen Rhythmusstörung wechselnder Hebungsangebote in den Zeilen und damit von der Flüssigkeit der gesamten Strophe. Hätte die gemeinte Zeile eine andere Kadenz, die ja mit der Hebungsstruktur verknüpft ist, flösse der Vers gefälliger. In diese Richtung werde ich wohl die komplette Strophe umstruktuieren, ohne sie inhaltlich neu auszurichten. Keinesfalls, liebe Claudia, werde Deinen Vorschlag berücksichtigen können, denn die Wiederholung des Pers.pron. 'er' wollte ich ja vermeiden.

Noch eins: An anderer Stelle ist - zurecht - Sufnus für sein ausführliches Kommentieren gelobt worden. Ich will das hier für Dich tun, denn auch Du bist in dieser Frage ganz außergewöhnlich, weil qualifiziert, unterwegs! Merci bien!

Herzliche Grüße
Béla
 

fee_reloaded

Mitglied
Keinesfalls, liebe Claudia, werde Deinen Vorschlag berücksichtigen können, denn die Wiederholung des Pers.pron. 'er' wollte ich ja vermeiden.
Alles klar, lieber Béla!

Ich verstehe meine Vorschläge auch immer eher als "erklärende Beispiele", denn als konkrete Vorschläge. Ich mische mich tatsächlich nur ungern in fremde Texte ein in dem Sinne, dass ich meine Beispiele dann auch umgesetzt würde sehen wollen (ausgenommen natürlich, der Vorschlag trifft auch den Geschmack des/der Urheber:in).

rührt wohl von der mir typischen Rhythmusstörung wechselnder Hebungsangebote in den Zeilen und damit von der Flüssigkeit der gesamten Strophe. Hätte die gemeinte Zeile eine andere Kadenz, die ja mit der Hebungsstruktur verknüpft ist, flösse der Vers gefälliger. In diese Richtung werde ich wohl die komplette Strophe umstruktuieren, ohne sie inhaltlich neu auszurichten.
Ich weiß, du denkst dir immer bei allem, was - und wie - du schreibst, viel (und das spürt man deinen Gedichten auch an). Das mit dem "hingebogenen Reim" meinte ich nicht abschätzig, sondern eher als den Eindruck, den der Hebungsbruch erweckt. Sorry, wenn das etwas unglücklich von mir formuliert rüberkam.
Ich glaube, du "hörtst" deine Sprache in einer "gedachteren" Form (ergibt das Sinn für dich?) und daher ist es stimmig für dich als Urheber der Worte. Ich als Leserin kann offensichtlich in manchen Fällen das, was da mit-gedacht in den Worten und Sätzen steckt, nicht ausreichend erlesen...und dann wirkt auf mich verdreht, was für dich funktioniert. Du weißt, ich lese dich in vielen Fällen - und mit gerne aufgewendeter Geduld beim Lesen - weitestgehend so, wie es von dir gemeint ist (oder ich rede mir das zumindest ein)...vielleicht, wenn der Text nicht genau diese eine alleingestellte "Stelle" hätte, sondern öfter mit dem Rhythmus spielen würde (und ihn brechen), hätte ich die Chance gehabt, es als Absicht und dadurch Stilmittel zu erkennen.

Die Entscheidung, ob Lesefluss oder inhaltliche Mehrschichtigkeit durch Aufhebung der geradlinigen Syntax, ist definitiv nicht leicht.

Liebe Grüße,
Claudia
 

sufnus

Mitglied
Hey Béla!

Erstmal vielen Dank für den weiter obig so freundlich zugeeignete Lob. Mich als mit der guten Forenfee kommentierenderweise gemeinsame Sache zu machen eingeschätzt zu werden lesen zu können (yeeehaw!!!), ist wirklich höchst labsalig. :)

Mir gefällt (und das hat nix mit dem Lob meiner Person zu tun, ährlich!) das Gedicht sehr!

Vom erwartungsweckenden Titel, der erst nach einem wunderbaren Suspension-Bogen erst in der zweiten Strophe aufgegriffen wird bis zum Schluss-Couplet, das sich zwar nicht in sich reimt (wie bei einem englischen Sonett), aber als Echo der ersten beiden Zeilen das Gedicht überaus gekonnt rundet (nebenbeibemerkt: die Unreimung der letzten beiden Zeilen wird durch den Halbreim von Licht auf ist bzw. trist sehr trickreich abgemildert - das lässt sich ganz herrlich aufsagen :) ).

Was mir übrigens besonders gefallen hat, sind die syntaktisch und logisch etwas gegen den Strich gekämmten Formulierungen (wobei ich verstehe, dass die beim Lesen auch Stolperer darstellen können).
Schon der erste Satz des Gedichts "Kaum verwurzelt steht sein Wanken an Stein und Moos." ist, mit sehr nüchternem, unlyrischen (!) Auge gelesen, ein bisschen schwer "verständlich": Ist hier mit "an Stein & Moss stehen" gemeint, dass "Er" (das eigentliche Subjekt des Satzes, welches hinter dem "sein Wanken" steckt) sich in stehender Position bei Stein und Moss aufhält (und dabei wankt)? Das ist zumindest eine ungewöhnliche Formulierung. Oder ist ein "an etwas geschrieben stehen" gemeint (Beschriftung eines Gabsteins), was allerdings nicht so recht zum Wanken passen will.
Und der Satz in Strophe 2, den Fee schon beanmerkt hat, "Dann behaucht er kalt die Wunden,bedrängt, erstickt und alles niederwirft.", schert sich wirklich keinen Deut um grammatische Konventionen. Ich finde das ist grandios. Ich muss an ein Gedicht von Benn denken (ganz anderes Thema - auf den ersten Blick... auf den zweiten vielleicht doch nicht so anders): "Welle der Nacht". In diesem Gedicht, das die Experten sehr polarisiert hat (man vergleiche den schönen Aufsatz von Dieter Lamping, im Netz findbar, zu diesem Gedicht) wird die Norm-Grammatik auch mit großartiger Selbstverständlichkeit total übern Haufen geworfen. Und ich oute mich (obwohl ich den Kitschvorwurf, der diesem Benn-Gedicht gemacht wird, verstehen kann) gleich mal als großen Fan von diesem Werk.

Von daher fände ich eine Glättung dieser Formulierung in Deinem ganz schön raffinierten Sonett (sic!) schon etwas schade, lieber Béla. Aber das unterliegt natürlich vollständig der dichterischen Freiheit des Autors. Ein sehr schönes Gedicht bleibts eh. :)

LG!
S.
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Béla,

ich bin der Meinung, du solltest das Gedicht genau so lassen, wie es ist.
Mit etwas Konzentration lässt sich das durchaus flüssig lesen.

Wer nur reicht in diesen Stunden
den Kelch, aus dem die Welt ihr Trösten schlürft?
Das sind meine Lieblingsverse, ganz große Lyrik.

Liebe Grüße
Manfred
 

wiesner

Mitglied
@fee_reloaded

Liebe Claudia,
ich bitte Dich, Du musst doch keine Erklärungen - fast entschuldigend - abgeben, nur weil Du eigene Sicht- und Empfindungsweisen einbringst. Und dass Du Vorschläge machst, soll Dir unbedingt zur Ehre gereichen! Ich habe mich sehr darüber gefreut!


@sufnus @Franke

Hallo zusammen,

nach Eurem Zuspruch ist eine 'Korrektur' in der zweiten Strophe dann wohl wieder etwas in die Ferne gerückt. Dieses Sonett hat ja in jeder Strophe seine Angebote ganz eigener Art, sogar der Zweizeiler ohne Reim grüßt echoartig zurück zur ersten Strophe ...
Danke für die Besuche und die schönen Wertungen!


Euch allen ein schönes Wochenende
Béla
 

Tula

Mitglied
Hallo Béla
Mich erinnert es an die Poesie des Expressionismus, vor allem Heym und Trakl. Das ist natürlich als Lob zu verstehen.
LG Tula
 

wiesner

Mitglied
Hallo Tula,

Heym und Trakl - da rühren die Knie bereits Pudding ...
Schnell hab ich ein paar Texte dieser Dichter noch mal gelesen. Merkwürdig, das eigene Gedicht kommt mir viel sanfter vor, die Sprache der Expressionisten ist deutlich steiniger, obwohl ihr auch das Melancholische nicht fremd ist.

Danke für Deinen Besuch!

Gruß
Béla
 

wiesner

Mitglied
Hallo Michael und Dio,

auch Euch beiden allerbesten Dank für's Lesen und Werten!

Eine schöne Zeit
wünscht
Béla
 



 
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