Daria

Walther

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Meyerle ist bieder. Sehr bieder, sagen die, die ihn kennen und schätzen. Zu bieder, sagen die ihn zu kennen glauben und nicht schätzen.
Er neigt, was die Biederkeit angeht, den letzteren zu. Was das Schätzen angeht, verlässt er sich auf exaktes Ausrechnen und Nachzählen. Man kann sich schwer verschätzen, weiß er. Aus Erfahrung.
Die Sache mit der Biederkeit führt bei Meyerle zu Bitterkeit. Und dazu, dass er der Damenwelt gegenüber noch reservierter ist, als er es vorher schon gewesen ist.

Meyerle, mit dem schönen Vornamen René versehen, ist von Beruf Wirtschaftsprüfer. Obgleich gerade 37 geworden, hat er bereits seine eigene Kanzlei.
Er hat Betriebswirtschaft an der Universität in Mannheim studiert, mit 23 seinen Master abgeschlossen, mit 26 seinen Steuerberater und mit gerade mal 29 seinen Wirtschaftsprüfer. Nebenbei hat er kurz über ein sehr schwieriges Problem der Bilanzoptimierung promoviert. Alles unter „Sehr gut“ findet bei Meyerle nicht statt. Prüfungen, bei den mehr als zwei Drittel der Prüflinge wiederholen, besteht er im Freischussversuch unter Verkürzung der Zeiten als Bester.
Meyerle ist ein absoluter Experte in heikelsten Bilanzfragen. Wenn er eine Bilanz liest und eine Buchhaltung samt Kostenrechnung prüft, kennt er nicht nur die Stärken und Schwächen des Unternehmens und wo man hinlangen muss, um es in die Gewinnzone zu bringen; er kennt auch die Schlüpferfarbe der Geliebten des Hauptgesellschafters und den Umfang des Geschlechtsteils des Liebhabers der Ehefrau. Ohne jemals beide in Augenschein genommen zu haben.
Dass er nebenbei noch entdeckt, wer wen wie wann mit welchem Betrag beschissen hat, versteht sich von selbst. Meyerle ist auf seinem Gebiet nicht nur ein Ass, er ist ein Phänomen.

Obwohl Meyerle erst 37 ist, sieht er aus wie 52. Er ist ca. eins fünfundsiebzig groß und das, was man einen Spargeltarzan nennt, was heißt, dass sein Hüftumfang wegen der schlechten Körperhaltung und seiner unvorteilhaften Kleidung breiter erscheint als sein Schulterumfang. Für die holde Damenwelt ist das ein No-Go. So sieht jedenfalls kein Lebensretter aus, an den man sich anlehnen kann. Wenn ein Lüftchen bläst, haut es Meyerle aus den Schlappen. Hat er zwar keine, aber so sieht es eben aus.
Seinen übergroßen Kopf ziert ein schlecht frisierter Kranz an Haaren. Die hohe Stirn, die dadurch bis an den Hinterkopf reicht, ist mit einem blonden Fläumchen überzogen. Die Haarfarbe ist ein Muschelbraun. Hervorstechend sind seine wirklich schönen und schlanken Klavierspielerhände. Allerdings spielt Meyerle kein Instrument. Ebenso hat er beeindruckende Augen, die bernsteinfarben sind, mit irritierenden blauen, braunen und grünen Einsprengseln, die er hinter einer selbsttönenden Brille verbirgt. Leider hat noch nie eine Dame ihm tief in diese Prachtiris geschaut. Sie wäre mit an Sicherheit in diesem See versunken und hätte völlig vergessen, wie er sonst aussieht.
Meyerle trägt außerordentlich gewöhnliche Anzüge. Sie sind so durchschnittlich, dass Graue Maus überkandidelt erscheint, wenn man eine solche Ausgabe männlicher oder weiblicher Art neben ihn stellt. Seine Hemden sind entweder weiß oder kariert. Seine Krawatten hinterlassen keinen Eindruck. Wenn er das Zimmer nach einem Termin verlässt, erinnert man sich nicht, welche Farbe oder welches Muster sie hat.
Jeans hat er nicht im Schrank. T-Shirts oder Polos trägt er auch nicht. Wenn keinen Anzug, dann Popeline der Marke Adler. Mit den Schuhen ist es genauso. Seine Sandalen könnte sein Opa tragen, die Socken sind dazu passend. Sommer- und Winterjacken stammen ebenfalls aus dem nahen Adler.
Der Grund liegt darin, dass Meyerle sich von seiner Mutter einkleiden lässt. Er hat keinen eigenen Geschmack, weil ihn Kleidung nicht interessiert.
Sport macht er keinen, er trinkt nicht, er geht nicht aus, kurz geht: Er ist ein Langweiler.

Meyerle ist bisher ungeküsst und Jungfrau. Nach dieser Schilderung nimmt das niemanden wunder. Meyerle selbst auch nicht. Oder besser: nicht mehr.

Meyerle hat inzwischen eine große Penthouse-Wohnung, ein Mietshaus mit acht Partien und etwas Geld auf der Bank. Da er nicht in den Urlaub fährt, hat er gespart, gespart und gespart. Das Grundstück kommt von seiner Mama, die aus einem örtlichen Bauerngeschlecht abstammt. Meyerle ist ein Schwabe, wie man an seinem Namen unschwer erkennen kann.
Meyerle besitzt eine Mercedes B-Klasse mit allem Drum und Dran. Meyerle hat einen großen Fernseher und einen großen Rechner mit zwei großen Bildschirmen zu Hause. Er ist elektronisch mit Tablet und Smartphone auf dem neuesten Stand.
Meyerle hat ein einziges Laster: Er besitzt einen amerikanischen Pony Car aus der Mitte der sechziger Jahre des vorhergehenden Jahrhunderts. Er ist auf dem neuesten Stand restauriert und sein ganzer Stolz, für den er ein Vermögen ausgegeben hat. Der Wagen steht bei der Motorwelt in einer angemieteten oldtimergerechten Garage und wird regelmäßig bewegt und gepflegt.
Dazu trägt Meyerle Golfkleidung, Handschuhe mit Löchern, eine entsprechende Kappe, einen Seidenschal und absolut oberaffengeile Sonnengläser. Wenn er in diesem Auto cruist, ist er frei.

Nun ist es nicht so, dass Meyerle asexuell wäre. Ist er nicht. Es gibt Zeiten, da leidet er regelrecht unter einem Besamungskoller. Rausschwitzen geht bekanntlich nicht. Man muss schon Hand anlegen. Gelegentlich treibt er es so wild, dass er Schmerzen in beiden Unterarmen hat und Krämpfe in der Hand. Und das durch übermäßige Reibung in Mitleidenschaft gezogene Fortpflanzungsorgan mit Panthenol-haltiger Salbe behandeln muss. Natürlich erwirbt er inzwischen ein Nachahmerpräparat in der Internetapotheke. Ist billiger. Bei dem Verbrauch.
Für diese Aktivitäten benötigt man, also auch Meyerle, als Mitglied der menschlichen Unterart männlicher Augentiere, Anschauungsmaterial. Per Zufall hat er so etwas wie das russische Instagramm gefunden. Dort schaut er sich, wenn es ihn arg umtreibt, mehr oder meist minder bekleidete jungen Damen an. Das geht eine Weile gut, bis seine geschärften Augen Wunderaugen auf eine junge Frau fallen, von der er sofort weiß: Die oder keine.
Doch wie an sie herankommen?

Meyerles Büro liegt im Ausfeld, im Gewerbegebiet. Er hat keine Privatkunden und keine Laufkundschaft. Es ist in einem Neubau untergebracht und immerhin ein Stockwerk groß, also fast dreihundert Quadratmeter. Er hat nur weibliche Mitarbeiterinnen. Mit Männern kommt er nicht zurecht. Sie sind ihm zu selbstverliebt und müssen die ganze Zeit Chef spielen. Das stört bei der Arbeit.
Seine Mitarbeiterinnen schätzen ihren Chef. Er ist nüchtern, sachlich, freundlich. Eines ist er gar nicht: übergriffig. Und er ist kein Großkotz. Manchmal lässt er sogar seinen trockenen Humor aufkommen.
Die meisten der Mitarbeiterinnen hat er mitgenommen, als er aus einer großen regionalen Kanzlei ausgeschieden ist. Als man ihn an anderen Aspiranten vorbei zum Partner gemacht hat wegen seiner nachgewiesenen Expertise und der Einnahmen, die er generiert hat, begannen Intrigen gegen ihn, die bis zum Mobbing gingen und zu übler Nachrede. Man hat ihm Homosexualität und Pädophilie unterstellt. Anonym und mit gefälschten Fotos. Obgleich er seinen Namen reinwaschen konnte, hat er darauf die Konsequenzen gezogen.
Allein, hat sich Meyerle gesagt, ist es besser. Ich hasse es, meine Zeit mit solchen Nebensächlichkeiten wie Intrigen zu verplempern. Ich will meinen Kunden und Mandanten helfen. Dazu gehe ich jeden Tag ins Büro, und das eigentlich doch gerne.
Meyerles Kanzlei besteht aus ihm, einer Steuerberaterin, einer Wirtschaftssprüferin, beide verheiratet mit Kindern, zwei Steuerfachgehilfinnen, einer Auszubildenden und einer jungen Betriebswirtin, die sich gerade auf das Steuerberaterexamen vorbereitet. Meyerle hilft ihr, wo er kann. Sie ist ihm dafür dankbar. Sie hat zwar einmal versucht, mit tiefem Ausschnitt und Wimpernklimpern seine Resistenz zu testen, hat das aber schnell wieder gelassen, als er ihr geraten hat, sie solle sich einen Schal um den Hals legen, um sich nicht erkälten.
Sie weiß bis heute nicht, ob er das scherzhalt oder ernst gemeint hat. Meyerle weiß es, ehrlich gesagt, auch nicht. Wahrscheinlich beides.

Meyerle arbeitet gerne systematisch und planvoll. Das ist eines der Geheimnisse seines Erfolgs. Auch das Projekt „Schöne Ukrainerin“ wird dieser Verfahrensweise unterworfen. Als erstes bucht er einen Fotokurs bei der Volkshochschule, Schwerpunkt Aktfotografie. Erzählt er keinem, macht er in der benachbarten Kreisstadt und hofft, nicht erkannt zu werden. Das gelingt.
Warum das? Ganz einfach. Er hat vor, mit seiner angebeteten schönen Ukrainerin und einem in Berlin ansässigen ukrainischen Aktfotografen, der Aktworkshops macht, einen solchen in Berlin zu buchen – und zwar exklusiv. Die Kosten hat er ermittelt. Sie schrecken ihn nicht.
Wenn Meyerle sich etwas in den Kopf gesetzt hat, wird es gemacht. Und wenn der Himmel einstürzt.
Der zweite Akt spricht das Thema Aussehen an. Meyerle fragt seinen einzigen Vertrauten, seinen Steuerberaterjahrgangskollege Titus Eigenrieder aus Biberach an der Riss, also auch ungefährlich, was er denn machen soll, damit er endlich beim weiblichen Geschlecht punktet. Dieser, ein Hallodri auf selbigem Gebiet – ganz im Gegendsatz zur Steuerberaterei, wo er vielleicht gehobene Mittelklasse ist und zudem Meyerle das Examen verdankt –, ist eindeutig.
„Zuerscht“, sagt er in seinem Honoratiorenoberschwäbisch, „gehsch amal in Fitness, damit du a paar Muskeln auf die Rippen kriegscht und dich endlich richtig hältscht. Bauch rein, Bruscht raus, Schultern zurück. Hascht du mich verstanden?“
„OK, Titus, notiert.“
„Zweitens brauchscht du einen Bekleidungsberater. Du siescht aus wie dein eigner Großvatter. So kannscht nicht rumlaufen, wenn’d a Weib aufreißen willscht.“
„Verstanden, Titus, auch notiert.“
„Drittens muscht du dir a andre Brille b’sorgen. Mit derra alta siehscht du aus wia dr Franz-Josef in de Siebziger. Dees goht schon einmal gar idda.“
„Kapiert, Titus, ebenfalls notiert.“

Also meldet er sich beim lokalen Fitness-Center an und lässt sich beraten. Nach dem ersten Training hat er verstanden, warum Liebe und Schmerzen so nahe beieinander liegen.
Das wird mit der Zeit besser. Die Muskeln schwellen etwas, der Bauch entwickelt unter der Bauchdecke etwas Ähnliches wie ein Sixpack, Meyerle hält sich endlich leidlich gerade. Der Spiegel sagt ihm, dass er sich auf dem Weg der Besserung befindet. Die Augen der holden Weiblichkeit auch. Allerdings registriert er letzteres nicht.
Im Fitness-Center lernt er einen Verkäufer bei einem Herrenausstatter kennen, der aussieht wie ein etwas zu kurz geratener griechischer Gott, allerdings mit kurzgeschorenen blonden Haaren. Von diesem lässt er sich zu beiderseitigem Nutzen komplett neu einkleiden. Seine Mutter ist tödlich beleidigt mit ihm, bei einem Bankengespräch bekommt er gesagt, dass er gut aussehe, und er möge doch sagen, wo er den Anzug samt Krawatte, Hemd und Schuhe erworben habe. Meyerle errötet und wechselt das Thema.
Der Abziehbild-Adonis in kürzer empfiehlt ihm einen Optiker, der was drauf hat in Sachen Style. Dieser verpasst Meyerle (a) neuen schnittige Augengläser für Sommer, Herbst und Winter und (b) Linsen. Genauer gesagt war das eine Optikerin. Und die hat ihm bei der Anpassung letzterer derart tief in seine Wunderiris geschaut, dass man ihr einen Rettungsring zuwerfen musste.

Die nächste Hürde ist schwieriger. In welcher Sprache redet man denn mit einer schönen Ukrainerin? Deutsch? Hm. Meyerle denkt, eher nein. Bleibt russisch. Meyerle denkt an Donbass und Krim und kommt zur Conclusio: Wohl eher nein. Englisch. Hm. Nicht gerade meine Stärke. Also: Volkshochschulkurs. Aber Englisch allein? Hm. Vielleicht sollte man wenigstens ein paar Worte Ukrainisch können. Hm. Noch ein Volkshochschulkurs.
Ergebnis: Meyerle gerät in Freizeitstress und kommt unter die Leute. Ergebnis zwei: Meyerle wird leutselig.
Naja, nicht gerade leutseliger. Aber kommoder wird Meyerle schon. Die Umwelt ist erstaunt. Die Mutter ist verbiestert. Meyerle blüht auf. Er rasiert sich sogar seine Pläte. Er lässt sich seinen Haarkranz regelmäßig frisieren. Er gestattet sich einen milden Dreitagebart. Meyerle wird richtig modern.
Aber Experte in Bilanzfragen bleibt er. Nur umgänglicher ist er. Lockerer. Freundlicher. Unheimlich kommt er manchen vor. Vor allem die, die ihn nicht schätzen. Die trauen ihren Augen nicht.

Nach ca. zwei Jahren fühlt Meyerle sich in der Lage, den Stier bei den Hörnern zu packen. Er kramt die Daten des Aktfotografen heraus, ruft an und vereinbart den Workshop mit seiner angebeteten Schönen Daria Verner. Er findet aber erst im Mai im Berlin statt. Was tun bis dahin? Die ersten beiden Nächte kann Meyerle kaum schlafen, und er muss bestimmte Stellen danach einkremen. Die Armprobleme sind wegen des Trainings glücklicherweise verschwunden.
Seine Mitarbeiterinnen stellen bei Herrn Meyerle kurzzeitig eine gewisse Geistesabwesenheit fest, die aber nach ca. zwei Wochen wieder verschwindet. Man, bzw. frau, macht sich so seine Gedanken. Ob eventuell ein weibliches Wesen dahintersteckt? Sie würden es ihrem Chef, der ihnen inzwischen richtig gut gefällt, wirklich wünschen.
Denn eigentlich ist Meyerle geblieben, wie er ist: sachlich, freundlich, umgänglich, überhaupt nicht bossy. Nur ist er eben jetzt auch recht nett anzusehen und viel umgänglicher. Er scherzt sogar. Und er hat ein echtes Privatleben bei den vielen Dingen, die er mittlerweile so unternimmt!

Meyerle rettet also die nächsten drei Monate kurz mal dreien seiner Mandanten den berühmt-berüchtigten Arsch, zwei Bankvorständen die Karriere und sorgt dafür, dass zwei leitende Angestellte und ein Geschäftsführer wegen Wirtschaftens in die eigene Tasche fristlos gefeuert werden. In zwei Fällen findet er alles Geld, in einem wenigstens zwei Drittel. Genau das, was man von ihm, dem WP Dr. Meyerle, erwartet.
Schließlich nähert sich das Datum, es handelt sich um die Tage rund dem den der Arbeit. Meyerle teil bereits vor Ostern seiner überraschten Belegschaft mit, dass er eine Woche zu einem Seminar nach Berlin reist. Meyerle bei einem Seminar in Berlin? Das kann nichts mit dem Steuerfach zu tun haben, da ist keine Fachtagung. Was ist es dann. Man rätselt, man tuschelt, man spekuliert. Keine weiß Bescheid. Und der Chef ist wie eine Auster. Verschlossener als ein Safe auf jeden Fall.
Meyler kommt mitsamt lockerer Kleidung, also Sneakers, Jeans, T-Shirt, Goldkettchen, in Berlin an, checkt in das vereinbarte Hotel ein und trifft den Fotografen, ein sehr netter und umgänglicher Mann mittleren Alters, abends an der Hotelbar. Die junge Dame, der Gegenstand der Meyerleschen Begierde, fehlt. Die kommt schon noch, sagt der Fotograf. Stanis Gomow heißt er. Er spricht sehr gut deutsch. Keine Angst, die kommt. Auf Daria kann man sich verlassen. Ist eine Deutsche. Sieht man am Namen.
Aha, sagt Meyerle, der an seiner Goldkette nestelt. Er hasst Goldkettchen. Eigentlich. Aber er hat gedacht, das gehört zum Image. Morgen lässt er sie weg. Sie stört.
Vor lauter Ärger über sich trinkt er einen doppelten Vodka. Und noch einen. Und noch zwei. Jedenfalls hat er am nächsten Morgen einen dicken Kopf.

Als sie an der Location angelangt sind, ist auch Daria Verner anwesend. Er erkennt sie an den vielen Sommersprossen. Sie begrüßt den Fotografen herzlich, indem die beiden Wangenküsse austauschen. Sie kennen sich gut. Meyerle hat darauf geachtet, dass er einen Fotografen auswählt, der das Objekt seiner gelegentlich feuchten Träume – aber durchaus nicht nur – kennt. Dessen Fotos von ihr sind gut. Er hat sich immer wieder gern angeschaut. Egal, ob ganz, mehr oder minder oder gar nicht bekleidet.
Eigentlich ist das Bildermachen nur ein Vorwand, um mit der jungen Dame ins Gespräch zu kommen. Das weiß der Fotograf, Stanis will er genannt werden, und dieser hat ihn ungenant gefragt, ob Meyerle sie ins Bett kriegen wolle. Meyerle hat das verneint und etwas pikiert gesagt: Ich will mit ihr reden. Länger, wenn’s geht.
Dann haben sie sich die Kameraausrüstung von Meyerle angeschaut. Fachmännisch und fachfrauisch. Und seine Fotos, von denen er die besten mitgebracht hat. Auch Aktfotos, aber nicht nur. Hast Talent, hat Stanis gemeint. Und Daria hat genickt und zum ersten Mal gelächelt. Er hat zurückgelächelt, und dabei haben seine Augen die ihren gestreift. Und da Meyerle seine Linsen am Morgen trotz Hangover unfallfrei appliziert hat, ist ihr seine Wunderiris im Vorbeihuschen ein wenig ins Innere gesunken und hat ihr einen kurzen wohligen Schauer im Nacken verschafft.

Die erste Fotosession in der abenteuerlichen Umgebung einer alten Fabrikhalle ist sehr gut, kurzweilige und fröhlich verlaufen. Daria hat sich mehr und mehr entspannt und hat das gezeigt, was sie eigentlich ist: Eine fröhliche, unkomplizierte junge Frau, die damit ihr Geld verdient, Hochglanzfotos und Videos für Männerträume zu machen, weil sie in ihrer Heimat einen solchen Batzen Geld sonst nicht verdienen kann – egal, was für eine Ausbildung frau hat. Und Daria hat sogar studiert, aber das gibt sie nicht zum Besten. Denn eigentlich ist sie sehr privat und gar nicht frivol. Das spielt sie nur, weil sie muss.
Beim Shooting mit Meyerle muss sie nicht. Das überrascht sie. Denn eigentlich hat sie einen schlecht aussehenden verschwitzten und versifften notgeilen deutschen Möchtegernhengst erwartet und die Gage entsprechend angepasst.

Abends, es ist bereits dunkel, kommen sie wieder im Hotel an. Meyerle druckst herum, als sie im Foyer stehen, um auf die Zimmer zu gehen, um sich fürs Essen bereit zu machen, und Stanis wird ungeduldig und sagt: Nun sag schon. Meyerle. Daria beißt nicht.
Meyerle brummelt: OK, ich weiß. Ist nicht mein Ding, und schaut Daria ziemlich hilflos an. Die hat (a) Mitleid, und (b) guckt sie kurz in seine großen Hundetriefaugen und hat einen weiteren Wunderirisschauer, der diesmal bis in den Magen zieht.
Daria räuspert sich und sagt unbeabsichtigt heiser: OK, Meyerle, du darfst mich zum Essen einladen, aber auch nur zum Essen, klar?
Meyerle nickt und verschluckt sich fast. Und lächelt schief. Wie ein Honigkuchenpferd, dem man eine Möhre reicht.
Daria sagt: Um 8 an der Rezeption. Pünktlich. Klar?
Sie dreht sich um, und weg ist sie.
Meyerle braucht einen Presslufthammer, um die Wurzeln loszueisen, die er geschlagen hat. Vor Schreck und Ich-weiß-nicht-was-mit-mir-grade-geschieht. Der kommt in Form eines mordsmäßigen Schlags auf die Schulter durch die Rechte von Stanis. Der schüttelt ihn durch und löst den Bann.
Siehst du, Meyerle, geht doch. Ist gar nicht schwer. Morgen um 9 beim Friehstick. Zweite Tag. Klar?
Meyerle sagt: Klar, Stanis, geht klar. Und: Danke.
Stanis meint trocken: Nix danke. War ich gar nicht. Warst du. Habt Spaß.
Wedelt schelmisch mit dem Zeigefinger und geht ab.
Meyerle steht noch eine Weile fast wie angewurzelt. Erst als ihn eine Dame mittleren Alters sehenden Auges mit ihrem Koffer überrollt, rappelt er sich auf und geht zum Fahrstuhl.

Meyerle ist punkt acht an der Rezeption. Daria ist punkt acht an der Rezeption.
Beide sind punkt acht an der Rezeption. Sie mustern sich. Sie haben sich zuvor bereits vor dem Spiegel gemustert. Und sind nicht zufrieden gewesen. Jetzt sind sie zufrieden. Mit dem jeweils anderen.
Du siehst schön aus, Daria, radebrecht Meyerle auf Ukrainisch. Daria errötet und sagt: Du siehst gut aus, Meyerle.
Meyerle sieht für seine Verhältnisse wirklich gut aus heute Abend. Er gibt des best- und schönstmöglichsten Spargeltarzan aller Zeiten; es geht schließlich um was.
Er denkt: Was für eine wunderbare junge Frau.
Sie denkt: Was will er nur von mir?
Meyerle bestellt ein Taxi, der sie zum Restaurant fährt. Gut-bürgerlich, der Ratskeller im Roten Rathaus. Hat ihm sein Freund Titus empfohlen, sollte er mal in Berlin sein. Meyerle hat sich das selbstredend notiert. Wie er sich alles fein säuberlich und peinlich genau aufschreibt. Man weiß ja nie.

Meyerle und seine Daria Verner sitzen an einem schönen Tisch, etwas privat. Es gibt eine englische Karte. Sie bestellt Fisch. Meyer bestellt auch Fisch. Meyerle bestellt einen ProSecco. Sie nippt. Sie bestellt einen Pino Grigio. Er nippt. Sie bestellt einen Espresso. Er bestellt ein Zimtparfait. Beide für beide.
Meyerle redet, als um es um sein Leben ginge. Und sich um Kopf und Kragen, wie er nachher glauben wird. Sie schweigt fasziniert, nicht gelangweilt, und nicht von dem, was er erzählt. Es sind seine Augen mit der Wunderiris. Sie erzählt fast nichts von sich. Außer, dass sie eine kranke Mutter hat, die sie unterstützt, weil die anderen Kinder gerade so herumkommen. Es ist nicht gut in der Ukraine, sagt sie. Meyerle sagt: Der Donbass. Sie sagt: Nicht nur. Meyerle ergänzt: Die Korruption. Daria nickt. Und schlägt traurig die Augen nieder.
Als die Bedienung ungeduldig um den Tisch herumtrippelt, bezahlt Meyerle schließlich und gibt trotz des Herumtrippeln ein freundliches Trinkgeld. Daria sagt: Du bist nett, Meyerle, ich hätte weniger gegeben. Das ist kein Service. Meyerle hilft ihr in den leichten Mantel. Sie lächelt und errötet.

Als das Taxi kommt, fragt er, ob sie noch irgendwo hinwill. Daria schüttelt den Kopf und sagt: Ich bin müde. Lass uns ins Hotel fahren.
Meyerle gibt dem Taxifahrer die Adresse.
Im Hotel gehen sie zum Aufzug und steigen ein. Meyerle hat ein Zimmer im fünften Stock, Daria auch. Als der Aufzug anfährt, schlägt Daria die Augen nieder. Meyerle verstummt. Er bringt sie zu ihrem Zimmer und reicht ihr die Hand zum Abschied. Daria nimmt sie, drückt sie. Ihre Hand ist kühl. Meyerles Hand ist warm. Und nicht verschwitzt. Einfach nur warm.
Darias Hand fühlt sich in seiner gut an. Sie bleiben lange stehen, die Hände gereicht, in sich versunken. Dann sagt Daria: Schlaf gut, bis morgen. Und Meyerle erschickt fast und antwortet: Schlaf gut, bis morgen. Es war schön, sagt sie, als sie die Tür schließt und ihn noch stehen sieht. Doch, es war schön, als müsse sie selbst das bestätigen. Meyerle nickt und steht minutenlang vor der Tür, um sich zu sammeln. Dann wendet er sich ab, geht in sein Zimmer und ist verwirrt.
Meyerle schläft sehr schlecht. Am Morgen wacht er auf und fühlt sich wie gerädert.

Beim Frühstück sieht er Stanis und Daria sitzen und reden. Daria gestikuliert. Stanis gestikuliert. Irgendetwas stimmt nicht, weiß Meyerle sofort. Er geht trotzdem sein Frühstück holen und bestellt einen Grüntee. Als er an den Tisch kommt, verstummen die beiden. Stanis hat rote Backen. Daria hat rote Ohren.
Stanis schaut Meyerle an und sagt: Daria flegt bereits heute nach Kiew. Ihre Mutter, du weißt. Meyerle sagt: OK. Ist es was Schlimmes?
Ja, spuckt Stanis aus.
OK, sagt Meyerle, dann ist es eben so. Schicksal.
Das geht nicht, sagt Stanis.
Höhere Gewalt nennt man das, sagt Meyerle.
Daria schweigt.
Ich habe ihr gesagt, dass ich sie nicht bezahle, wenn sie geht, sagt Stanis.
Meyerle sagt: Quatsch. Du bezahlst sie.
Vertrag ist Vertrag, sagt Stanis.
OK, dann bezahl ich dich auch nicht, sagt Meyerle.
Stanis schweigt.
Daria schweigt immer noch.
Meyerle schweigt auch und trinkt seelenruhig seinen Grüntee und schaufelt sein Frühstück in sich hinein.
Stanis: Das kannst du nicht machen. Außerdem hab ich die Anzahlung. Die kriegst du nicht zurück.
Meyerle: Gut, kannst du machen. Würd ich aber an deiner Stelle nicht.
Stanis überlegt, Daria schweigt, Meyerle bestellt sich einen Kaffee. Ungerührt. Kaffee und Meyerle. Er trinkt seinen Kaffee schwarz. Und mit ohne Zucker.

Meyerle sagt: Stanis, mein Vorschlag: Du zahlst Daria, schickst mir den Beleg, Daria bestätigt die Zahlung, und ich zahl die restlichen zwei Drittel.
Stanis sagt: Harter Brocken mit weichem Herz für schönen Frauen, was? OK.
Daria schweigt weiter
Meyerle sagt: Du musst was essen, Daria. Daria räuspert sich. Danke, verdrückt sie und nimmt einen Schluck Wasser und isst das Müsli weiter.
Stanis holt sich ein Omelett, das er mit großem Appetit verschlingt.
Wie war’s gestern, fragt er zwischen zwei Bissen mit vollem Mund. Daria sagt: Schön. Meyerle sagt: Wenn Daria das sagt. Sonst sagt er nichts.
Anschließend brechen alle Drei zu einer anderen Location auf. Es ist ein lichtdurchflutetes Bürogebäude. Am Ersten Mai ist es leer. Daria post, Meyerle knippst, Stanis schimpft, weil sein Modell verkrampft ist. Es werden trotzdem wunderbare Fotos. Die Effekte des Sonnenlichts, den Schattenwürfe auf dem Frauenkörper. Umwerfend. Stanis sagt: Besser hätt ich das auch nicht gekonnt. Meyerle schweigt. Ihn bedrückt, dass Daria bedrückt ist. Und dann ist das Shooting vorbei, und Daria springt ins Taxi, winkt und ist weg.
Meyerle fühlt Leere in sich.
Stanis sagt: Hör mal, ich hab da eine Schöne, die ist Daria ziemlich ähnlich. Sie könnte morgen. Die macht auch mehr als Fotos.
Meyerle sagt: Ist schon gut. Ich wollte Daria kennenlernen. Hat geklappt und nicht geklappt. Wie das Leben so spielt.
Heißt was? fragt Stanis. Heißt nein, sagt Meyerle. Aber du zahlst den vollen Betrag, sagt Stanis. Natürlich, sagt Meyerle, wenn du die Belege bringst. Scannen und Email, OK? Mach ich, sagt Stanis, gleich morgen. Ja, mach, sagt Meyerle schmallippig.
Wollen wir heute Abend noch einen trinken? fragt Stanis. OK. Aber lass uns morgen nach dem Frühstück die Bilder auswählen, Stanis. Bis später.
Bis später.

- - -

Meyerle hat von Daria Verner nichts mehr gehört. Wie vom Erdboden verschluckt, meint selbst Stanis. Merkwürdig. Die Bilder schaut er immer wieder an. Er kann sich an ihnen nicht sattsehen. Danach braucht er manchmal seine Panthenolsalbe.
Es ist mittlerweile das zweite Jahr vergangen, und sie geht ihm nicht aus dem Sinn. Meyerle martert sich das Hirn, was er falsch gemacht hat. Sein Schluss am Ende ist: Alles. Von Anfang an.
Die Sache mit der Damenwelt ist insofern besser geworden, als dass Meyerle einige Begleiterinnen hat und kennt, die gerne mehr wären als Begleiterin. Meyerle spürt das, hat aber mit Ausnahme netter Unterhaltung und kleinen Flirts keinerlei weiteren Ambitionen. Die Damen geben nicht auf. Meyerles Festung hält. Er ist fast vierzig und immer noch Jungfrau.
Seine Mutter mag ihn wieder, macht sich aber Sorgen, dass er immer noch unbeweibt ist. Sie sieht die Sache mit der Omawerdung immer kritischer. Meyerle würde gerne liefern, kann aber nicht mangels richtigem Gegenstück.
Daria!

Eines Tages schreibt er eine Stelle aus. Er braucht eine Assistentin. Seine Spezialisierung führt ihn zu Einsätzen quer durch Europa. Und seit kurzem auch Übersee. Das muss geplant werden und Kunden taktvoll beigebogen werden, dass selbst ein Genie wie WP Dr. Meyerle nicht an drei Orten gleichzeitig sein kann, höchstens an zwei.
Die Bewerbungslage ist mau. Sehr mau.
Er schaut sich diese an. Und schaut sich jene an.
Dann schreibt er nochmals aus. Schaut sich wieder diese an und jene an, und dann schreibt er nochmal aus.
Beim dritten Versuch sind jetzt drei Bewerberinnen dabei, von den jede etwas hat. Von der Papierform her. Eine ist ganz besonders. Ihr Bild lässt etwas in ihm vibrieren. Er weiß nur nicht was.
Er bestellt sie alle ein. Eine nach der anderen. Seine zwei leitenden Damen schauen sie sich ebenfalls an. Eine nach der anderen. Am Ende sitzen sie zu dritt zusammen, und Meyerle sagt: Ich bin ratlos. Zwei sagen mir fachlich zu, eine menschlich.
Die Kolleginnen schauen sich an und tauschen wissende Blicke aus. Dann sagen sie unisono: Diesmal ist es wirklich schwer, Herr Dr. Meyerle. Lassen Sie um Himmels Willen diesen Doktor weg! Das ist ja grauslich, sagt Meyerle, und die Damen sind leicht betreten. Obgleich sie seine Einstellung zu Titeln eigentlich kennen könnten.
Gut, sagt Meyerle, dann lassen wir mal das Herz sprechen und probieren es mit dieser Kandidatin.

Sie heißt Katia Laus und kommt – aus der Ukraine. Kommt daher das Kribbeln? Meyerle rätselt. Meyerle recherchiert. Meyerle spekuliert.
Sie fängt an und ist eine patente junge Dame mit dunklem Haar und blassem Teint und ist angezogen wie eine Graue Maus. Bieder. Zu bieder. Viel zu bieder. Meint nicht nur Meyerle. Aber sie macht einen tollen Job. Und den leichten Akzent übersieht man. Was Meyerle nicht übersieht, sind die schlanken Fesseln und die wohlgeformten Waden, die manchmal aus den weitgeschnittenen Hosen herausblitzen, wenn sie mal gerade sehr in einer Arbeit vertieft ist. Und die Hände. Meyerle ist sich sicher, dass er diese Hände schon einmal gesehen hat. Aber wann? Aber wo? Aber wie?
Meyerle fantasiert. Und braucht Panthenolsalbe.
Katia Laus ist nach nur drei Monaten unersetzlich. Nach sechs Monaten hat sie alle Kolleginnen überzeugt. Nach einem Jahr ist sie Teil des Inventars.

Eines Tages fällt ihm bei der Durchsicht seiner Fotos ein Bild von Daria in die Hände, indem ihre Hände groß abgebildet sind. Er hat ein Déjà-Vu. Er legt markiert das Foto und druckt es aus.
Meyerles Neugier ist geweckt. Er durchsucht die Bilder und findet eins, auf dem die linke Fessel deutlich zu sehen ist. Auch dieses Foto markiert er und druckt es aus. Langsam ist er sich sicher.
Er sucht weiter und zittert, als er ein Foto mit einer deutlichen Auflistung der linken Wade gefunden hat. Jetzt ist er sich sicher. Er markiert das Bild und druckt es aus.
Daria!
Meyerle sagt den Namen laut in das übergroße und leere Wohnzimmer – wenn man mal von den Möbeln absieht – seiner Penthouse-Wohnung. Es ist Mitte April, es ist warm, die Fenster sind geöffnet, und Meyerle schlägt sich die Hand vor den Mund und beginnt zu zittern.
Kann das wahr sein?
Meyerle hat bald Geburtstag und fragt sich, wie er diese Erkenntnis an die Frau – in diesem Falle Katia Laus – bringen kann. Warum, fragt er sich, spielt sie dieses Spiel mit mir?
Nach einiger Überlegung kommt er zur Conclusio, dass er das wohl verdient hat. Schließlich versucht man nicht ungestraft, mit der Fantasieanregung seiner feuchten Träume im Wege eines Aktfotoworkshops anzubandeln. Dann muss man doch nicht ganz gebacken sein, nicht wahr.

Meyerle ist verzweifelt. Er findet einfach keinen Weg, sein Wissen nutzbringend zu verwenden. Da kommt ihm der Zufall in Form seines vierzigsten Geburtstags wie gerufen, gerade recht und ins Spiel. Denkt er. Manche Spiele haben Spielführer, andere Regisseure. Manche haben sogar ein Skript mit Einsätzen.
Jedenfalls fragt ihn Katia Laus eine Woche vor dem Ereignis, was er denn zu seinem Geburtstag sich wünsche von seiner Belegschaft. Seine Antwort kommt prompt, da vor dem Spiegel bereits bis zum Erbrechen trainiert: Ein Abendessen mit einer Person meiner Wahl.
Meyerles Assistentin schaut ihren Chef interessiert an. Dabei stellt sie ihren Kopf in einer Weise schräg, der ihn wieder an Daria erinnert. Er bekommt davon ganz rote Ohren und bemerkt nicht, dass sich in den Augenwinkeln seiner Assistentin ganz zarte Lachfältchen verstecken. Man könnte sagen, dass sie ein ganz klein wenig amüsiert ist. Meyerle eiert sowieso mit etwas dauernd um sie herum. Was nicht nur ihr aufgefallen ist. Auch andere bienenfleißige Mitarbeiterinnen der Meyerleschen Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungspraxis ahnen, dass ihrer Chefdrohne vielleicht eine Bienenkönigin zuwachsen könnte – und zwar in Form einer Grauen Maus.
Am Montag der Geburtstagswoche, jener bzw. dieser ist am Freitag, teilt sie ihrem Chef das Ergebnis ihrer Sammelaktion mit. Jede Kollegin hat 10 Euro gegeben, sagt sie fröhlich, herausgekommen ist ein Gutschein über 70 Euro in einem Lokal Ihrer Wahl, Herr Meyerle.
Danke, liebe Frau Laus. Das freut mich, flötet Meyerle gestelzt, würden Sie es denn übers Herz bringen können, mich zu begleiten?
Wollen Sie nicht lieber Ihre Frau Mutter einladen? Sie würde sich jedenfalls sehr freuen, hat sie mir heute Nachmittag gesagt, lieber Herr Meyerle.
Katia muss an sich halten, um nicht zu lachen. Schafft es aber wegen des verletzt-konsternierten Gesichtsausdrucks ihres Chefs, sowohl ein Glucksen zu unterdrücken als auch eine Gesichtsentgleisungsrettungsmaßnahme einzuleiten.
Aber natürlich fühle ich geehrt, wenn das Ihr sehnlichster Geburtstagswunsch ist. Ich werde mir für Ihre Frau Mutter und den Familienfrieden etwas einfallen lassen.
Meyerle hat sein Gesicht in der Tat wieder in Ordnung gebracht und sagt etwas steif: Das freut mich jetzt aber, liebe Frau Laus, und zwar ganz außerordentlich.
Da sag einer, Männer könnten nicht flöten. Es klingt nur ein paar Oktaven tiefer nicht mehr nach Flöten. Eher nach Bariton- oder Bass-Sax.

Jedenfalls holt Meyerle seine Assistentin an deren kleiner Wohnung ab, die er ihr damals organisiert hat. Meyerle staunt, als er seine Assistentin sieht. Graue Maus war gestern. Trotzdem ist das Sommerkleid sehr züchtig, verbirgt die Figur mehr, als dass es sie zeigt. Allerdings sind weder die Waden, noch die Unterarme bedeckt. Und die Füße stecken in strumpflosen Pumps.
Meyerle ist sich fast sicher, dass sie entweder eine Verwandte seiner Daria ist – oder sie selbst. Er ist wild, ganz wild, entschlossen, das herauszufinden. Was er nicht ahnt, ist, dass seine Gegenüberin ihr Versteckspiel ebenfalls Leid hat. Und ebenfalls wild, äußerst wild, entschlossen ist, dieser verkackten bzw. verhakten Geschichte ein Ende zu machen.
Die beiden zum Letzten Entschlossenen stochern daher mehr in ihrem wunderbaren Hirschragout mit Serviettenknödeln herum, als dass sie es wirklich essen. Nach dem Prosecco, an dem sie nippt, verschmutzen uninspirierte Belanglosigkeiten die Luft über dem schön gedeckten, sehr privaten Tisch. Sie bestellt einen italienischen Rosé, an dem er wiederum nur nippt. Zum Nachtisch ordert sie einen Espresso und er das Zimtparfait. Beide für beide. Letzeres ist übrigens ein Gedicht, besonders wegen der eingelegten Birne.
Damit wäre eigentlich alles gesagt – wenn es gesagt worden wäre. Ist es aber nicht.
Als sein Gast zum Sprechen anheben will, fummelt Meyerle die zusammengefalteten Ausdrucke aus der Innentasche seiner teuren Anzugjacke und legt sie zusammengefaltet auf den Tisch. Sie zeigen genau die Merkmale, die ihn ins Grübeln gebracht haben. Sie schaut interessiert auf die drei Stücke gefalteten Papiers. Ihr Gesicht ist ein einziges – hübsches – Fragezeichen.
Meyerle nimmt wortlos ihre – kühle! – Hand und legt sie neben den Bildausschnitt. Und lächelt irgendwie undefiniert. Zum ersten Mal in den vergangen beinahe zwölf Monaten schaut sie ihn absichtsvoll in seine belinsten Augen. Er hat diesmal keine seiner stylischen Brillen an. Das ist ihr gleich aufgefallen. Und fällt in sie.
Liebe Frau Laus, das ist erstaunlich. Schauen Sie, das ist doch Ihre Hand, nicht wahr? Sogar der kleine Leberfleck am Handgelenk, genau identisch.
Sie schaut gebannt und schweigt. Ich habe noch ein Bild von einer Wade. Und hier eines von einer Fessel. Dürfte ich kurz um Ihr linkes Bein bitten, um die Ausschnitte danebenzuhalten?
Die Angesprochene greift wortlos, den Blick nicht von Meyerle abwendend, so als wäre sie von ihm gebannt, unter den Tisch, zieht ihren linken Pump aus und streckt ihr linkes Bein ihm so entgegen, dass es auf seinem Schoß zu liegen kommt. Dort brennt der Fuß wie Feuer. Er hält die Bilder an die beiden Stellen, räuspert sich und heisert: Liebe Frau Laus, auch hier ist die Ähnlichkeit frappierend. Was meinen Sie?
Die Angesprochene atmet tief und lässt dem Atem zitternd entweichen. Darf ich mein Bein bitte wiederhaben, es ist doch sehr unbequem.
Meyerle sieht und sagt, ohne den Fuß loszulassen: Daria?
Sie nickt. Und eine Träne rollt die Wange herunter und in den Kragen ihres Kleides. Und noch eine. Und noch eine. Und noch einige mehr.
Meyerle lässt den Fuß los. Katia-Daria zieht das Bein zurück und sagt: Verzeih.
Meyerle sagt nichts. Seine Assistentin steht auf und sagt: Bitte nicht weggehen. Bitte warte. Ich bin gleich wieder da.
Meyerle wartet. Als er zurückkommt, erkennt Meyerle, warum sie gegangen ist. Jetzt kommt Daria die kleine Treppe hinunter, ihre tizianüber¬hauchten rotbraunen Haare, ihre Sommersprossen. Und, als sie am Tisch zurück ist und sich hingesetzt hat, sieht er die haselnussbraunen Augen und die nicht mehr von der Brille versteckten in besonderer Weise geschnittenen Lider.
Warum?, fragt Meyerle.
Deine Augen, sagt sie, deine Augen.
Sie sieht ihn intensiv an, sucht seinen Blick.
Ich konnte sie einfach nicht vergessen, deine Wunderaugen, sagt sie.
Meyerle schluckt. Meine Augen, sagt er, was ist an ihnen nur besonders?
Alles, sagt sie, sie sind anders, tief, einsaugend, vertrauenerweckend. Sie machen hilflos und lassen zugleich wohlfühlen. Sie machen schwach und lassen zugleich unendlich stark fühlen.
Meyerle schluckt erneut. Und wie heißt du nun?, fragt er.
Katia Daria Laus, sagt sie, meine Mutter hieß Verner.
Ist sie gestorben?, fragt Meyerle jetzt betroffen
Ja, sagt Katia Daria, sie ist gestorben, drei Tage, nachdem ich damals heimgeflogen bin.
Meyerle nimmt ihre Hand und hält sie. Wie soll ich dich nennen?, fragt er. Daria, sagt sie, und wie heißt du?
Hans-Peter. Ich hasse diese Vornamen.
Und was machen wir jetzt?, fragt sie.
Wir zahlen, sagt Meyerle, und dann bringe ich dich nach Hause.

Meyerle tut genau das. Als sie an der Eingangstür ankommen, sagt sie: Du kommst aber mit, Hans-Peter.
Meyerle tut, wie ihm geheißen. Als sie oben angelangt sind, schließt sie die Tür auf.
Komm, wir müssen rasch ein paar Träume von jemandem wahrmachen, und zwar jeden einzelnen, Hans-Peter, du kommst mir nicht aus. Das lasse dir gesagt sein, du kommst…
Meyerle nimmt sie in den Arm und küsst sie. Und dann tut er, was er schon immer tun wollte. Er zieht sie komplett aus und legt die Kleider fein säuberlich auf den Stuhl in der Garderobe. Ordnung muss sein. Seine Daria friert bereits ein wenig, was man an ihren Nippeln sieht, aber sie lässt es geschehen. Dann nimmt er sie auf seine Fitness-gestählte Arme, und sie dirigiert ihn in ihr Schlafzimmer.
Meyerle verliert just dort genau in der letzten Minute seines vierzigsten Lebensjahrs seine Unschuld.
 
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ThomasQu

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Hallo Walther,

mein Leseeindruck: Wirklich sehr lang geraten.

Trotz bester Vorsätze hab ich es nicht geschafft, mich bis zum Ende durchzuarbeiten und meine Sprünge über die Zeilen sind immer größer geworden.
Gefühlt fängt jeder dritte Satz mit Meyerle an und der Name kommt mindestens tausendfünfhundertmal vor.
Oder z.B. … die weiblichen Mitarbeiterinnen … das klingt nicht elegant.
Oder … Meyerle ist punkt acht an der Rezeption. Daria ist punkt acht an der Rezeption. Beide sind punkt acht an der Rezeption. Sie mustern sich. Sie haben sich zuvor bereits vor dem Spiegel gemustert. Und sind nicht zufrieden gewesen. Jetzt sind sie zufrieden.
All das ist ermüdend.
Dein Protagonist kommt mir einfach nicht nahe. Möglicherweise liegt das auch daran, dass du zu viele überflüssige Informationen über ihn präsentierst. Kaum eine empfinde ich als besonders wichtig, witzig oder spannend und kaum eine bringt den Text signifikant weiter. Würde denn die Geschichte etwas verlieren, wenn du z.B. den ersten Absatz komplett streichen würdest? (Das könnte man aber vielleicht über den zweiten, dritten oder vierten Absatz genauso sagen.)
Ich finde ja nicht mal, dass das schlecht geschrieben ist, aber irgendwie ist das ein Stil, der mich nicht anspricht. Sorry.

Grüße
Thomas
 

Walther

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Hallo Walther,

mein Leseeindruck: Wirklich sehr lang geraten.

Trotz bester Vorsätze hab ich es nicht geschafft, mich bis zum Ende durchzuarbeiten und meine Sprünge über die Zeilen sind immer größer geworden.
Gefühlt fängt jeder dritte Satz mit Meyerle an und der Name kommt mindestens tausendfünfhundertmal vor.
Oder z.B. … die weiblichen Mitarbeiterinnen … das klingt nicht elegant.
Oder … Meyerle ist punkt acht an der Rezeption. Daria ist punkt acht an der Rezeption. Beide sind punkt acht an der Rezeption. Sie mustern sich. Sie haben sich zuvor bereits vor dem Spiegel gemustert. Und sind nicht zufrieden gewesen. Jetzt sind sie zufrieden.
All das ist ermüdend.
Dein Protagonist kommt mir einfach nicht nahe. Möglicherweise liegt das auch daran, dass du zu viele überflüssige Informationen über ihn präsentierst. Kaum eine empfinde ich als besonders wichtig, witzig oder spannend und kaum eine bringt den Text signifikant weiter. Würde denn die Geschichte etwas verlieren, wenn du z.B. den ersten Absatz komplett streichen würdest? (Das könnte man aber vielleicht über den zweiten, dritten oder vierten Absatz genauso sagen.)
Ich finde ja nicht mal, dass das schlecht geschrieben ist, aber irgendwie ist das ein Stil, der mich nicht anspricht. Sorry.

Grüße
Thomas
Hi Thomas,
danke für dein feedback. den text hätte ich besser unter "Erzählungen" posten sollen. ich mach das mal. den inhalt deines beitrags werde ich in ein paar tagen kommentieren. im moment ist ein bisschen viel los.
lieben dank für deine geduld!
lg W.
 

Walther

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Hallo Walther,

mein Leseeindruck: Wirklich sehr lang geraten.

Trotz bester Vorsätze hab ich es nicht geschafft, mich bis zum Ende durchzuarbeiten und meine Sprünge über die Zeilen sind immer größer geworden.
Gefühlt fängt jeder dritte Satz mit Meyerle an und der Name kommt mindestens tausendfünfhundertmal vor.
Oder z.B. … die weiblichen Mitarbeiterinnen … das klingt nicht elegant.
Oder … Meyerle ist punkt acht an der Rezeption. Daria ist punkt acht an der Rezeption. Beide sind punkt acht an der Rezeption. Sie mustern sich. Sie haben sich zuvor bereits vor dem Spiegel gemustert. Und sind nicht zufrieden gewesen. Jetzt sind sie zufrieden.
All das ist ermüdend.
Dein Protagonist kommt mir einfach nicht nahe. Möglicherweise liegt das auch daran, dass du zu viele überflüssige Informationen über ihn präsentierst. Kaum eine empfinde ich als besonders wichtig, witzig oder spannend und kaum eine bringt den Text signifikant weiter. Würde denn die Geschichte etwas verlieren, wenn du z.B. den ersten Absatz komplett streichen würdest? (Das könnte man aber vielleicht über den zweiten, dritten oder vierten Absatz genauso sagen.)
Ich finde ja nicht mal, dass das schlecht geschrieben ist, aber irgendwie ist das ein Stil, der mich nicht anspricht. Sorry.

Grüße
Thomas
So,
lb Thomas,
jetzt habe ich das nach deinen bemerkungen durchgelesen und dabei ein paar bugs gefunden und ausgebaut. es war also gut und richtig, nochmals drüberzulesen. der text stammt aus dem jahr 2019, wahrscheinlich ist er sogar noch ein wenig älter. abstand hilft zur besseren selbstbeurteilung.
ich habe den text mit der frage im hinterkopf durchgelesen, ob ich ihn heute noch so schriebe und die intension verstünde, die ich hatte, als ich schrieb. meine antwort lautet: in der tat. das ist bei mir durchaus nicht immer so. gerade prosa arbeite ich oft nachhaltig um, nachdem ich abstand zum text habe.
die rhetorischen figuren, die dich stören, haben eine funktion. sie richtig aufzunehmen, setzt in diesem fall möglicherweise den audiovortrag voraus. ich habe versucht, den ton in einigen wortspielen und bildern auch beim stillen durchlesen erlebbar zu machen. das scheint mir wenigstens bei dir nicht gut gelungen zu sein.
der text ist für eine shortstory, wie man sie hier versteht, also im verhältnis zu den meisten anderen eintragungen im ursprünglichen forum "Kurzgeschichten", sicherlich zu lang und zu ausführlich in der beschreibung des protagonisten. letztlich geht es in diesem text auch nicht um action. es geht um die zeichnung und entwicklung des protagonisten, der sich am ende verändert, um zu sich zu finden und sein ziel zu erreichen. der autor und seine leser begleiten ihn bei dieser reise. am ende ist das ergebnis eine besondere form der liebesgeschichte.
diese art von thema ist nicht jedermanns sache. es gibt kein bumms-peng-boing-aua. es wird niemand erschossen, aufgeschlitzt oder aus einem flugzeug geworfen. nicht dass ich so etwas nicht gerne läse. ich schreibe solche texte sogar mit vergnügen. es gibt diverse romane von mir, die bei verschiedenen verlagen erschienen sind (SF, Krimi, Cyberthriller).
hier aber haben wir eine charakterstudie mindestens zweier durchaus origineller menschen. eigentlich geht es sogar besonders darum, wie interessant doch so ein echter durchschnittsmensch sein kann, wenn man sich ihn einmal länger zu gemüte führt und ihn eine gewisse zeit erst ironisch-süffisant und dann auch zugeneigt begleitet. auch der blick von autor und leser verändern sich mit der person des handelnden im laufe des geschichte.
genug selbstinterpretation. warum? nun, ganz einfach. die erzählung muss so sein, wie sie ist. deine vorschläge sind aus deiner sicht gut gemeint. aber umsetzen würde bedeuten, das konzept des texts zu zerstören. ich muss also damit leben, dass der text eben gescheitert ist, wenn du richtig lägst.
lg W.
 



 
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