Das Äolische Lied (erneut eingestellt)

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Vera-Lena

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Das Äolische Lied

Es mag einige Zeit her sein, als im Land Äolien, auf der Insel Lipari ein Einsiedler in seinem leicht gefügten von Pinien beschatteten Zufluchtsort in das jenseitige Leben hinüber gegangen war. Als man ihn fand, deuteten Körperhaltung und Gesichtsausdruck auf ein friedliches Ableben, und auch die Behausung machte den Eindruck, als hätte das Dahinscheiden seinen Bewohner nicht unvorbereitet angetroffen. Alles schien an seinem, seit langer Zeit feststehendem Platz, zu sein, und so vermisste unter der spärlichen Habe niemand die Harfe, die den alten Mann viele Jahre in seiner Einsamkeit begleitet hatte.

Die Harfe, von nun an ihres Besitzers beraubt, lag auf dem feinen weißen Sand einer geschützten Bucht, wo sie im Schatten einiger Felsen der Witterung nicht allzu stark preis gegeben war. Derselbe Ort zählte zu den Verweilplätzen des jüngsten der vier Söhne des alten Sturmvaters bevor er auf das Tyrrhenische Meer hinaus zu brausen pflegte.

Der junge Wind fächelte ein wenig Sand umeinander und hatte seine Freude an dem aufsteigenden Staubgewölk bis er die Harfe erblickte. Staunend ließ er sich nieder. Nachdem er die Harfe lange Zeit betrachtet hatte, er fand ihre Formen lieblich, die Schnitzereien, die sie zierten, anmutig, wagte er es, sie anzusprechen. „Bist du nicht so ein Klingding?“ fragte er so behutsam wie ihm das sein angeborenes Ungestüm erlaubte. „Ja“, hauchte sie. “Dann kling doch einmal“, sagte der Wind. „Ich möchte schon, dass meine Saiten in Schwingungen geraten“, antwortete die Harfe, „aber ich könnte ja auch dabei kaputt gehen.“ „Ach“, machte der Wind erstaunt. „Hast du noch nie etwas kaputt gemacht?“ fragte ihn die Harfe. Huiiii, schon war der Wind davon gesaust. „So warte doch noch“, rief die Harfe ihm nach, “wo willst du denn jetzt hin?“ Wer weiß, wann er wieder vorbei kommt, dachte sie sich.

Der alte Sturmvater saß auf seinem knorrigen Thron. Mit der rechten Hand pflügte er durch sein quastiges Haar, und mit dem Zeigefinger und Daumen der linken Hand schnippte er kleine Luftkringel vor sich her, was eine große Kunst war. Er hob den Kopf, als er jetzt seinen jüngsten Sohn vor sich stehen sah. Der junge Wind blieb in respektvollem Abstand und machte eine ehrfurchtsvolle Bewegung. „Sprich“, sagte der Alte. „Vater, habe ich schon einmal etwas kaputt gemacht?“ „Hahaha......“, fiepte, grölte und gurgelte der Alte, dass die vier Weltgegenden ein paar stürmische Minütchen hatten. „Was glaubst du denn, warum du auf der Welt bist? Denkst du, die Blüte fragt danach, ob ihre Blütenblätter zu Boden fallen, wenn du über sie hinfährst, um ihr den Blütenstaub zu entreißen und auf alle anderen Blüten zu verteilen? Ihr ist das ganz egal, denn sie denkt nur an die Früchte, die auf diese Weise entstehen und die sie sich wünscht.“ „Aber“, wollte der junge Wind gerade erwidern, doch noch nicht einmal so weit kam er. Der Alte schätzte keine Sätze, die mit „aber“ begannen. „Willst du vielleicht irgend etwas besser wissen, als dein alter Vater?“ grollte er. Er atmete tief ein, und alles, was nicht niet -und nagelfest war, flog auf ihn zu, um nach einem kräftigen Niesen über den Erdball hinweg zu fliegen. In diesen Luftstrom eingebettet machte sich auch der junge Wind wieder auf den Weg.

Er hatte immer nach vorn geschaut. Es machte so viel Spaß, voran zu stürmen. Für einen Wind ziemte es sich nicht, zurück zu schauen. Auch seine Brüder würden niemals nach rückwärts schauen, das wusste er. Woher hätte er also wissen sollen, was er auf seinem Weg hinterließ? Ohne dass er es beabsichtigt hatte, fand er sich in seiner Lieblingsbucht wieder. Die Saiten der Harfe funkelten in der Sonne. Jetzt erblickte sie ihn. „Da bist du ja wieder“, rief sie erfreut. „Ja“, sagte der Wind. „Fehlt dir etwas?“ fragte die Harfe. „Mein Vater sagt, ich hätte schon Vieles kaputt gemacht“, antwortete der Wind. „Ach“, sagte die Harfe enttäuscht. Dann schwiegen sie eine Weile. „Wenn du willst, kann ich einen Kranz von Muscheln um dich herum wehen“, bot ihr der Wind an. „Ich weiß nicht“, sagte die Harfe. „Hast du denn so viel Angst?“ fragte der Wind.

In diesem Augenblick stoben die drei älteren Brüder des jungen Windes auf ihrem Heimweg in großer Höhe vorüber. Aber trotz aller Eile sahen sie sehr wohl ihren kleinen Bruder dort unten in der Bucht.
„Es wird den Vater gar nicht freuen, zu erfahren, dass der Kleine da so untätig herumhockt“, versicherten sie einander. „Wo habt ihr euren kleinen Bruder gelassen“, fragte sie auch gleich der Alte. „Das Brüderchen scheint müde und lahm geworden zu sein“, spotteten die Brüder.

Der junge Wind hatte seine Brüder nicht bemerkt. Er lauschte, was ihm die Harfe jetzt zu sagen hatte. „Als der Mensch noch bei mir war“, erklärte ihm die Harfe, “wusste er genau, was er tun musste, damit ich zu klingen anfangen konnte. Woher soll ich wissen, ob es sonst noch jemanden auf der Welt gibt, der weiß, was da zu tun ist?“ In diesem Augenblick gellte ein Sausen durch die Luft, dass alle Wesen zusammen zuckten und selbst die Steine einen kurzen seufzenden Laut von sich gaben. „Oh“, sagte der Wind, „mein Vater ruft mich, ich muss eilends heimkehren, aber ich werde bald wieder bei dir sein. Und schon war er verschwunden.

Am Wohnort der Winde betrachtete der alte Sturmvater seinen Jüngsten. „Mein Sohn“, sagte er. „Ja, Vater?“ antwortete der Sohn erwartungsvoll. „Seht ihn euch an“, wandte sich der Alte an die älteren Brüder, “ist er etwas Besonderes?“ Was für eine Frage? Was meinte der Vater denn nur? Was sollte man jetzt antworten? Den Vater zu erzürnen, war kein Spaß. Und man durfte seinem Ungewitter nicht entrinnen, nein, das duldete er nicht. Man musste mit allen Kräften standhalten. War es klug, jetzt „nein“ zu sagen? Warum schließlich sollte der Kleine da etwas Besonderes sein, nur weil er der Jüngste war? Dann wäre ja auch der Älteste etwas Besonderes gewesen, und was war dann mit den beiden Mittleren? Worauf wollte der Vater hinaus? Dies waren die windstillsten Minuten auf der Erde seit wohl einhundert Jahren. Dann hörten sie das vertraute Geräusch, dies Gurgeln, das immer erklang, wenn der Vater zu lachen begann. Und alle Vier lachten erlöst mit, dass die Ozeane erzitterten. „Jeder von euch ist etwas Besonderes“, sagte der Vater nachdem er sein Lachen so abrupt beendet hatte, wie es seine Art war. „Du, mein Ältester, Eis und Schnee trägst du im Bart und pfeifst von Norden, dass die Gletscher zu singen anfangen. Du, mein Zweiter, bringst den Regen und peitschst von Westen über die Meere. Du mein Dritter, hilfst der Sonne, ihre Bahn zu ziehen und drängst die Wolken fort von Osten. Du, mein Jüngster, hauchst ein warmes Lüftchen über alle Kreatur von Süden. Wer von euch wollte es dem anderen gleich tun?“ Und zum Beweis, dass er, der Vater, alle Eigenschaften seiner Söhne in sich vereinte, schnippte der Alte wieder einmal mit Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand einen Luftkringel vor sich her. Der Lufthauch schwebte auf den Jüngsten zu, ganz knapp an seinen Augen vorbei, so dass er zu blinzeln begann. Zärtlich schaute der Alte auf den Südwind. “Wo es dich hinzieht, da gehe nur hin“, sagte er. „Danke, Vater“, rief der junge Wind. Er verneigte sich ehrfürchtig und stürmte davon.

Ganz sachte streifte er über die Wiesen. „Macht euch das Spaß“, fragte er die Gräser. „Oh, ja“, riefen die Grashalme, „es kitzelt so schön.“ Der junge Wind freute sich, und vor lauter Freude war er huiii, schon wieder auf das Meer hinausgesaust. Seufzend kehrte er wieder um. So ging das nicht. Es musste doch möglich sein, dass er sich nur dort hin bewegte, wo er wirklich hin wollte. „Vielleicht, wenn ich einfach daran denke, dass ich mich „auf der Stelle“ freuen möchte, dass es mir dann gelingt. Ruck-zuck streifte er einer gewaltigen Pinie die verdorrten Nadeln von den Zweigen. „Gefällt dir das?“ fragte er. „Danke schön“, antwortete die Pinie, „jetzt fühle ich mich freier und leichter.“ Der Südwind zog ein paar ganz enge Kreise über ihrem Wipfel. Hurra, es hatte geklappt, diesmal war er nicht vor lauter Freude irgendwo hingeweht. Das werde ich jetzt so lange üben, bis ich es ganz selbstverständlich beherrsche, sagte er sich. Tagelang war er mit nichts Anderem beschäftigt. Schließlich machte er sich auf, um der Harfe erneut zu begegnen.

„Was wollte denn dein Vater von dir?“ fragte sie ihn sogleich. „Ach, nichts Besonderes“, antwortete der Wind. „Dafür, dass er nichts Besonderes von dir wollte, hat er aber eine starke Art, dich nach Hause zu rufen“, sagte die Harfe. „So ist er nun einmal, aber wenn er will, kann er sogar unbemerkt an dir vorübergehen, ja, er vermag viele Dinge, der Alte. Aber sieh einmal, was ich kann. Ich kann ein winzig kleines Loch in den Sand hinein wehen, so dass nur ein Grashälmchen hineinpasst.“ „Wirklich?“, fragte die Harfe interessiert. „Ja, schau, so und so, ich werde einmal ein Muster um dich herum wehen.“ Geschickt machte er sich an die Arbeit, so wie er es lange geübt hatte. Als er damit fertig war, betrachtete er die Harfe so, als sähe er sie zum ersten Mal. „Was glaubst du, wie du jetzt aussiehst?“ fragte er. „Ich weiß es nicht“, sagte die Harfe. „Du siehst aus wie eine Sonne, weil ich lauter Sandpunktstrahlen um dich herum geweht habe, und das passt auch gut zu dir, weil deine Saiten so prächtig in der Sonne funkeln.“ „Wie heißt du eigentlich?“ fragte ihn die Harfe. „Dolko, und du?“ „Oh, wir haben ja ganz ähnliche Namen, ich heiße Dulzima. Da könnten wir ja zusammen Dolkozima oder Dulzokol heißen“, antwortete die Harfe.“ Das finde ich aber nicht so schön“, sagte der Wind,“ vielleicht ginge Kozudol oder Dulzkozma.“ „Das ist aber auch nicht besser“, sagte die Harfe, und dann lachten sie zusammen so kindlich, so verspielt und so endlos wie nur eine Harfe und ein junger Wind in solchen Augenblicken zu lachen pflegen.

Dann rührte der Wind behutsam die Saiten der Harfe, und die beiden lauschten. Ja, das war ihrer beider Name, diese Klänge, die nur sie beide miteinander erschaffen konnten, dieser Gesang, der ringsum alles berührte und erfüllte und bis hinauf zu den Sternen schwang. Es waren keine Worte nötig. Immer würden sie ihre Gemeinsamkeit durch alles hindurchtönen lassen können, sobald sie einander in einem Lied begegneten.

Wer immer die Insel Lipari betritt, kann von Zeit zu Zeit das Lied der beiden vernehmen, ein Lied von Zartheit, Verschmelzung, Glückseligkeit.
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe flammarion,

ja ich erinnere mich, und ich weiß auch noch, wieviel Flüchtigkeitsfehler ich drin hatte, die Du mir aufgezeigt hast und die ich dann verbessert habe.

Kann man eigentlich den älteren korrigierten Text hier reinkopieren, damit ich mir die Arbeit nicht noch einmal machen muss?
Ich kenne mich leider mit technischen Dingen gar nicht aus.

Danke für deine nochmalige Antwort unter dem jetzt wieder eingestellten Text! :)
Liebe Grüße von Vera-Lena
 

flammarion

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aus meiner Sammlung:

Veröffentlicht von Vera-Lena am 14. 11. 2002 14:45
Das äolische Lied


Auf dem feinen weißen Sand einer geschützten Bucht, wo sie im Schatten einiger Felsen der Witterung nicht allzu stark preis gegeben war, lag eine Harfe. An diesem Ort weilte zugleich der jüngste der vier Söhne des alten Sturmvaters.

Der junge Wind fächelte ein wenig Sand umeinander und hatte seine Freude an dem aufsteigenden Staubgewölk, bis er die Harfe erblickte. Staunend ließ er sich nieder. Nachdem er die Harfe lange Zeit betrachtet hatte, er fand ihre Formen lieblich, die Schnitzereien, die sie zierten, anmutig, wagte er es, sie anzusprechen. „Bist du nicht so ein Klingding?“, fragte er so behutsam, wie ihm das sein angeborenes Ungestüm erlaubte. „Ja“, hauchte sie.
“Dann kling doch einmal.“, forderte der Wind.
„Ich möchte schon, dass meine Saiten in Schwingungen geraten,“, antwortete die Harfe, „aber ich könnte ja auch dabei kaputt gehen.“
„Ach“, machte der Wind erstaunt.
„Hast du noch nie etwas kaputt gemacht?“, fragte ihn die Harfe. Huiiii, schon war der Wind davon gesaust. „So warte doch noch!“, rief die Harfe ihm nach, “ Wo willst du denn jetzt hin?“
Wer weiß, wann er wieder vorbei kommt, dachte sie sich.

Der alte Sturmvater saß auf seinem knorrigen Thron. Mit der rechten Hand pflügte er durch sein quastiges Haar, und mit Zeigefinger und Daumen der linken Hand schnippte er kleine Luftkringel vor sich her, was eine große Kunst war. Er hob den Kopf, als er jetzt seinen jüngsten Sohn vor sich stehen sah. Der junge Wind blieb in respektvollem Abstand und machte eine ehrfurchtsvolle Bewegung. „Sprich“, sagte der Alte. „Vater, habe ich schon einmal etwas kaputt gemacht?“
„Hahaha......“, fiepte, grölte und gurgelte der Alte, dass die vier Weltgegenden ein paar stürmische Minütchen hatten. „Was glaubst du denn, warum du auf der Welt bist? Denkst du, die Blüte fragt danach, ob ihre Blütenblätter zu Boden fallen, wenn du über sie hinfährst, um ihr den Blütenstaub zu entreißen und auf alle anderen Blüten zu verteilen? Ihr ist das ganz egal, denn sie denkt nur an die Früchte, die auf diese Weise entstehen und die sie sich wünscht.“
„Aber“, wollte der junge Wind gerade erwidern, doch noch nicht einmal so weit kam er. Der Alte schätzte keine Sätze, die mit „aber“ begannen.
„Willst du vielleicht irgend etwas besser wissen, als dein alter Vater?“, grollte er. Er atmete tief ein, und alles, was nicht niet -und nagelfest war, flog auf ihn zu, um nach einem kräftigen Niesen über den Erdball hinweg zu fliegen. In diesen Luftstrom eingebettet, machte sich auch der junge Wind wieder auf den Weg.

Er hatte immer nach vorn geschaut. Es machte so viel Spaß, voran zu stürmen. Für einen Wind ziemte es sich nicht, zurück zu schauen. Auch seine Brüder würden niemals nach rückwärts schauen, das wusste er. Woher hätte er also wissen sollen, was er auf seinem Weg hinterließ?
Ohne dass er es beabsichtigt hatte, fand er sich in seiner Lieblingsbucht wieder. Die Saiten der Harfe funkelten in der Sonne. Jetzt erblickte sie ihn. „Da bist du ja wieder“, rief sie erfreut.
„Ja“, sagte der Wind.
„Fehlt dir etwas?“, fragte die Harfe.
„Mein Vater sagt, ich hätte schon Vieles kaputt gemacht.“, antwortete der Wind.
„Ach“, sagte die Harfe enttäuscht. Dann schwiegen sie eine Weile.
„Wenn du willst, kann ich einen Kranz von Muscheln um dich herum wehen.“, bot ihr der Wind an. „Ich weiß nicht.“, sagte die Harfe.
„Hast du denn so viel Angst?“ fragte der Wind.

In diesem Augenblick stoben die drei älteren Brüder des jungen Windes auf ihrem Heimweg in großer Höhe vorüber. Aber trotz aller Eile sahen sie sehr wohl ihren kleinen Bruder dort unten in der Bucht.
„Es wird den Vater gar nicht freuen, zu erfahren, dass der Kleine da so untätig herumhockt.“, versicherten sie einander.
„Wo habt ihr euren kleinen Bruder gelassen?“, fragte sie auch gleich der Alte.
„Das Brüderchen scheint müde und lahm geworden zu sein.“, spotteten die Brüder.

Der junge Wind hatte seine Brüder nicht bemerkt. Er lauschte, was ihm die Harfe jetzt zu sagen hatte. „Als der Mensch noch bei mir war,“, erklärte ihm die Harfe, “wusste er genau, was er tun musste, damit ich zu klingen anfangen konnte. Woher soll ich wissen, ob es sonst noch jemanden auf der Welt gibt, der weiß, was da zu tun ist?“
In diesem Augenblick gellte ein Sausen durch die Luft, dass alle Wesen zusammen zuckten und selbst die Steine einen kurzen seufzenden Laut von sich gaben. „Oh“, sagte der Wind, „mein Vater ruft mich, ich muss eilends heimkehren, aber ich werde bald wieder bei dir sein.“ Und schon war er verschwunden.

Am Wohnort der Winde betrachtete der alte Sturmvater seinen Jüngsten. „Mein Sohn,“, sagte er.
„Ja, Vater?“, antwortete der Sohn erwartungsvoll.
„Seht ihn euch an,“, wandte sich der Alte an die älteren Brüder, “ist er etwas Besonderes?“
Was für eine Frage? Was meinte der Vater denn nur? Was sollte man jetzt antworten? Den Vater zu erzürnen, war kein Spaß. Und man durfte seinem Ungewitter nicht entrinnen, nein, das duldete er nicht. Man musste mit allen Kräften standhalten. War es klug, jetzt „nein“ zu sagen? Warum schließlich sollte der Kleine da etwas Besonderes sein, nur weil er der Jüngste war? Dann wäre ja auch der Älteste etwas Besonderes, und was war dann mit den beiden Mittleren? Worauf wollte der Vater hinaus? Dies waren die windstillsten Minuten auf der Erde seit wohl einhundert Jahren.
Dann hörten sie das vertraute Geräusch, dies Gurgeln, das immer erklang, wenn der Vater zu lachen begann. Und alle Vier lachten erlöst mit, dass die Ozeane erzitterten.
„Jeder von euch ist etwas Besonderes!“, sagte der Vater, nachdem er sein Lachen so abrupt beendet hatte, wie es seine Art war. „Du, mein Ältester, Eis und Schnee trägst du im Bart und pfeifst von Norden, dass die Gletscher zu singen anfangen. Du, mein Zweiter, bringst den Regen und peitschst von Westen über die Meere. Du mein Dritter, hilfst der Sonne, ihre Bahn zu ziehen und drängst die Wolken fort von Osten. Du, mein Jüngster, hauchst ein warmes Lüftchen über alle Kreatur von Süden. Wer von euch wollte es dem anderen gleich tun?“
Und zum Beweis, dass er, der Vater, alle Eigenschaften seiner Söhne in sich vereinte, schnippte der Alte wieder einmal mit Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand einen Luftkringel vor sich her. Der Lufthauch schwebte auf den Jüngsten zu, ganz knapp an seinen Augen vorbei, so dass er zu blinzeln begann. Zärtlich schaute der Alte auf den Südwind. “Wo es dich hinzieht, da gehe nur hin“, sagte er. „Danke, Vater“, rief der junge Wind. Er verneigte sich ehrfürchtig und stürmte davon.

Ganz sachte streifte er über die Wiesen. „Macht euch das Spaß?“, fragte er die Gräser. „Oh, ja,“, riefen die Grashalme, „es kitzelt so schön.“ Der junge Wind freute sich, und vor lauter Freude war er - huiii, schon wieder auf das Meer hinausgesaust. Seufzend kehrte er wieder um. So ging das nicht. Es musste doch möglich sein, dass er sich nur dort hin bewegte, wo er wirklich hin wollte. „Vielleicht, wenn ich einfach daran denke, dass ich mich „auf der Stelle“ freuen möchte, dass es mir dann gelingt.“
Ruck-zuck streifte er einer gewaltigen Pinie die verdorrten Nadeln von den Zweigen. „Gefällt dir das?“, fragte er. „Danke schön,“, antwortete die Pinie, „jetzt fühle ich mich freier und leichter.“
Der Südwind zog ein paar ganz enge Kreise über ihrem Wipfel. Hurra, es hatte geklappt, diesmal war er nicht vor lauter Freude irgendwo hingeweht. Das werde ich jetzt so lange üben, bis ich es ganz selbstverständlich beherrsche, sagte er sich. Tagelang war er mit nichts Anderem beschäftigt. Schließlich machte er sich auf, um der Harfe erneut zu begegnen.

„Was wollte denn dein Vater von dir?“, fragte sie ihn sogleich.
„Ach, nichts Besonderes“, antwortete der Wind.
„Dafür, dass er nichts Besonderes von dir wollte, hat er aber eine starke Art, dich nach Hause zu rufen.“, sagte die Harfe.
„So ist er nun einmal, aber wenn er will, kann er sogar unbemerkt an dir vorübergehen, ja, er vermag viele Dinge, der Alte. Aber sieh einmal, was ich kann. Ich kann ein winzig kleines Loch in den Sand hinein wehen, so dass nur ein Grashälmchen hineinpasst.“
„Wirklich?“, fragte die Harfe interessiert.
„Ja, schau, so und so, ich werde einmal ein Muster um dich herum wehen.“
Geschickt machte er sich an die Arbeit, so, wie er es lange geübt hatte. Als er damit fertig war, betrachtete er die Harfe, als sähe er sie zum ersten Mal. „Was glaubst du, wie du jetzt aussiehst?“, fragte er. „Ich weiß es nicht.“, sagte die Harfe.
„Du siehst aus wie eine Sonne, weil ich lauter Sandpunktstrahlen um dich herum geweht habe, und das passt auch gut zu dir, weil deine Saiten so prächtig in der Sonne funkeln.“
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte ihn die Harfe.
„Dolko, und du?“
„Oh, wir haben ja ganz ähnliche Namen, ich heiße Dulzima. Da könnten wir ja zusammen Dolkozima oder Dulzokol heißen.“, antwortete die Harfe. “Das finde ich aber nicht so schön.“, sagte der Wind, “vielleicht ginge Kozudol oder Dulzkozma.“
„Das ist aber auch nicht besser.“, sagte die Harfe, und dann lachten sie zusammen so kindlich, so verspielt und so endlos, wie nur eine Harfe und ein junger Wind in solchen Augenblicken zu lachen pflegen.

Dann rührte der Wind behutsam die Saiten der Harfe, und die beiden lauschten. Ja, das war ihrer beider Name, diese Klänge, die nur sie beide miteinander erschaffen konnten, dieser Gesang, der ringsum alles berührte und erfüllte und bis hinauf zu den Sternen schwang. Es waren keine Worte nötig. Immer würden sie ihre Gemeinsamkeit durch alles hindurchtönen lassen können, sobald sie einander in einem Lied begegneten.

Wer immer die Insel Lipari betritt, kann von Zeit zu Zeit das Lied der beiden vernehmen, ein Lied von Zartheit, Verschmelzung, Glückseligkeit.

und hübsche Bilder hab ich auch eingefügt, sind hier nicht zu sehen.
ganz lieb grüßt
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Flammarion,

danke, jetzt hast Du mir viel Arbeit erspart!

Schön, dass Du Dir beim Lesen etwas vorstellen konntest. Ich habe auch alles vor meinem inneren Auge gesehen, was ich da geschrieben habe.

Ganz liebe Grüße von Vera-Lena
 



 
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