Das Alibi

1,00 Stern(e) 1 Stimme

Maribu

Mitglied
Das Alibi

Seit einigen Wochen spürte sie eine Leere in ihrem Leben, fühlte sich erschöpft und entschlusslos. Ein Gemisch aus
Resignation und Verausgabung.
Vor einem Vierteljahr hatte ihr Sohn das Haus verlassen und sich mit zwei anderen Studenten eine Wohnung gemietet.
Ihre Tochter war vor zwei Jahren ausgezogen und lebte mit ihrem Mann in einer Eigentumswohnung in Kassel. Sie arbeiteten beide, um die Kosten tragen zu können. Sie als Zahnarzthelferin und der Schwiegersohn verdiente sein Geld als Handelsvertreter.
Sein Gebiet reichte bis nach Österreich und in die Schweiz.
Oft kam er abends nicht nach Hause und übernachtete in Hotels.
Zwei- oder dreimal im Jahr besuchten sie einander. Die Hoffnung auf ein Enkelkind hatte sie aufgegeben.
Als der Junge noch im Hause war, konnten sie sich unterhalten und sie sah es als ihre Pflicht, ihn zu betreuen. Aber sie hatte es auch gerne getan.
Obwohl die Vierzimmer-Wohnung nach wie vor in Ordnung gehalten werden musste, hatte sie weniger zu tun und manchmal dachte sie daran, wieder zu arbeiten.
Vielleicht im Sozialdienst, wo sie vor dreiundzwanzig Jahren Menschen betreut hatte. Aber man hörte überall von Entlassungen. Wer würde sie noch einstellen? Mit zweiundfünfzig Jahren gehörte auch sie zum "alten Eisen"!
Mit ihrem Mann hatte sie noch nicht darüber gesprochen. Er war in letzter Zeit sehr wortkarg. Ab und zu erzählte er von
seinen Kollegen oder über seine Tätigkeit als Schiffsbauer bei einer Hamburger Werft. Sie machten sich Sorgen um ihre Arbeitsplätze. Sie hatten nur Reparaturarbeiten. Der erhoffte Auftrag für ein Containerschiff war nach Südkorea gegangen.

Nach dem Abendessen erledigte sie den Abwasch und er las die Zeitung oder machte einen Spaziergang. Pünktlich um acht war er aber zurück, um nicht die Tagesschau zu versäumen.
Danach einigten sie sich auf ein Programm und gingen zwischen zehn und elf Uhr schlafen.
Jeder lag still in seinem Bett. Manchmal las sie noch ein paar Seiten und hoffte, dass er zu ihr kommen, das Buch zuklappen und das Licht löschen würde, so, wie sie es bis vor einigen Monaten gewohnt war und genossen hatte.
Aber seine Liebe war offensichtlich abgekühlt. Vielleicht ist das immer so nach vierundzwanzig Ehejahren. Aber vielleicht auch nicht! Diese Ungewissheit beschäftigte und bedrückte sie. War er einfach nur müde? War es die Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes? Oder hatte er jemanden kennen gelernt?
Gab es irgendwo eine Geliebte? Eigentlich hatte er gar keine Gelegenheit. Am Tage ging er seiner Arbeit nach und abends und am Wochenende waren sie zusammen. Bis auf seinen Kegelabend am Donnerstag. Aber den nahm er schon seit über zehn Jahren in Anspruch, und sie hatte ihm nie misstraut.
Vielleicht hatte die Gruppe sich vor ein paar Monaten aufgelöst und er tat nur so, als würde er dahin gehen. Ein besseres Alibi gäbe es nicht!
Am Tage verwarf sie diesen Gedanken, konnte sogar darüber lachen. Aber er hatte sich so festgesetzt, dass sie abends wieder ins Grübeln kam und sich verschiedene Versionen ausmalte. Sie ertappte sich dabei, dass sie sich nicht auf das Buch konzentrieren konnte, nicht wusste, was sie zuletzt gelesen hatte, weil sie mit ihrer eigenen imaginären Liebesgeschichte beschäftigt war. Es war höchste Zeit, die Situation zu klären! Das erschien ihr aber nicht einfach.
Freiwillig würde er nichts zugeben. Sie müsste ihn überrumpeln, eine List anwenden, um ihn auf die Probe stellen zu können.
Eines Nachts schrie sie: "Dass du dich nicht schämst!"
"Weshalb?" tat er ahnungslos.
"Du liegst da schnarchend wie ein alter Mann an der äußersten Bettkante und hast das faustdick hinter den Ohren!"
"Ich weiß wirklich nicht, was du meinst!" antwortete er ruhig.
"Dann will ich dir mal auf die Sprünge helfen! Donnerstagabend hat ein Kegelfreund von dir angerufen. Sie machen sich Sorgen um dich. Du warst seit zwei Monaten nicht mehr dabei!"
Er schwieg. "Hat dir das die Sprache verschlagen? Erzähl mir mal, warum du Donnerstags erst um Mitternacht nach Haus kommst!"
"Ich kann dir alles erklären", sagte er zaghaft, "ich bin..."
"Keine Ausflüchte!" unterbrach sie ihn. "Wer ist die Hure?"
"Nicht wie du denkst!" antwortete er. "Es ist ganz harmlos. Sie hat mir ihr Herz ausgeschüttet. Ihre Ehe ist kaputt. Du musst keine Angst haben. Wir haben uns nur unterhalten."
Sie lachte höhnisch. "Unterhalten sagst du dazu? Bei ihr spielst du den Seelentröster und wie das in mir aussieht, ist dir vollkommen egal!"
"Du hast auch Schuld!" widersprach er sofort. "Jahrelang hast du dich um unsere Kinder gekümmert. Und jetzt wo sie aus dem Haus sind, hast du Langeweile und bist traurig, als wärst du allein! Ich bin noch da! Das hast du vergessen! Um mich hättest du dich auch ein bisschen bemühen können!"
Jetzt schwieg sie. "Natürlich kommt irgendwann der Alltag, wenn man so lange zusammen ist wie wir", nahm er das Gespräch wieder auf. "Man hat sich nicht mehr so viel zu sagen und die Neugier ist gestorben."
Sie hatte ihre Aggressivität zurückgewonnen. "Du hast was vergessen: Die Liebe ist auch gestorben! Seit zwei Monaten hast du mich nicht mehr in den Arm genommen! Das sind genau die zwei Monate, in denen du auch deine Kegelfreunde im Stich gelassen hast! - Wo warst du? Wer ist diese Frau? Wo hast du sie kennen gelernt?"
Er zögerte einen Augenblick. "Es hatte jemand aus unserer Gruppe Geburtstag und wir machten eine Pause und sind alle an die Theke gegangen. Sie saß zufällig neben mir und wir sind ins Gespräch gekommen."
"Was für ein Zufall!" sagte sie ironisch. "Und wie ging das weiter? Sie wird dir nicht in der Kneipe ihre Lebensgeschichte erzählt haben!"
"Sie trank mit uns Sekt, den Richard wegen seines Geburtstages
auch für sie ausgegeben hatte. Später war sie ebenso angeheitert wie wir und ging mit uns noch zum Kegeln. Beim Abschied drückte sie mir einen Zettel mit ihrer Telefonnummer in die Hand."
"Und du hattest nichts Eiligeres zu tun als anzurufen und dich mit ihr zu verabreden. Dafür war der Donnerstag ja bestens geeignet!"
"Ja, ich war neugierig, wie das in anderen Ehen funktioniert oder in diesem Falle auch nicht. Aber es ist wirklich nichts passiert! Sie brauchte nur jemanden zum Zuhören!"
"Dass ich nicht lache! Und dafür hat sie ausgerechnet dich erkoren! Du bist so dreist, seit acht Wochen heimlich dieses Weibsstück zu besuchen und versuchst mich zu überzeugen, dass ihr nur gequatscht habt!" Voller Wut zog sie ihr Bein an, trat kräftig gegen seine Bettdecke und schrie: "Gib zu, dass du mich betrügst, du alter Bock!"
Der Tritt war so heftig, dass sie auch sein Schienbein traf und er mit einem Aufschrei hellwach im Bett saß. Sie war ebenfalls aufgewacht und schwieg beschämt.
"Was ist passiert?" fragte er besorgt und schlüpfte in ihr Bett.
"Es tut mir leid!" antwortete sie. "Kannst du mir verzeihen? Ich habe mich geirrt. Mir war so, als hätten wir Streit."
Er lachte und nahm sie in den Arm. Sie schmiegte sich glücklich an ihn und sagte leise, unverständlich für ihn,
"Nun bewirkt der Albtraum noch ein schönes Ende!"
 



 
Oben Unten