lietzensee
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Das Bild
„Danke“, sie bedankte sich mehrmals, obwohl ihr danach nicht zumute war. Luisa hatte ein Geschenk bekommen. Sie wollte es nicht haben. Aber das flache Paket war eingewickelt in buntes Papier und überreicht mit einem Lächeln. Was konnte sie also anderes sagen als „vielen Dank!“ Sie öffnete eine Schleife. Sie riss Papier auseinander, stellte das Ding auf den Tisch vor sich und betrachtete es.
„Gefällt es dir?“ fragte Margarete.
Luisa schaute auf den Tisch. Es war ein Ölbild, so hoch wie ihr Unterarm lang war. Es hatte einen aufwendigen Rahmen und die Leinwand zeigte grobe Striche.
„Das auf dem Bild bist du!“ Margarete sah sie mit wichtigem Blick an. Sie umarmte Luisa. Dann nahm sie die Schleife wieder an sich und ging.
Eine Weile blickte Luisa aus dem Fenster ihres kleinen Zimmers. Dann holte sie Luft und drehte sich zu dem Bild um. Die Konturen darauf waren schief und mit Klecksen ausgeführt. Aber bald erkannte sie immer mehr Details. Das auf der Leinwand war wirklich sie selbst. Sie überlegte und prüfte das Format des Bildes mit ihren Fingern.
Wenn sie ausging, ließ Luisa ihr schwarzes Haar in einem Zopf über die Schulter fallen. Als Schmuck darin trug sie eine silberne Möwe. Das Tier hatte seine Flügel ausgebreitet und sein Auge war ein rot funkelnder Stein. Sie wartete darauf, dass Leute ihr Schmuckstück bemerkten und sagten, dass sie ja einen Vogel hatte. Dann lachte sie ihnen ins Gesicht, denn sie waren ihr auf den Leim gegangen. Den Sitz dieses Vogels prüfte Luisa, indem sie in der U-Bahn auf das Fenster gegenüber schaute. Sie war unruhig. Wahrscheinlich hatte Margarete es gut gemeint. Manche Sachen meinte sie tatsächlich gut. Aber begriff sie nicht die Konsequenzen, die ihr Geschenk hatte? Alles würde jetzt doppelt so schwer werden. Schon davor war Luisa ihr Leben nicht leicht gefallen. Und dafür hatte sie auch noch danke gesagt!
„Ist der Platz hier noch frei?“
„Nein!“ Sie sah den Mann im Anzug böse an. In den letzten Stationen war der Wagon immer voller geworden und Leute drängten sich vor ihr im Gang. Vorsichtig streckte sie ihren Arm aus und hielt das Bild auf dem Platz neben sich fest.
Ein Mädchen das gegenüber saß beugte sich zu ihr. „So ein Bild habe ich ja noch nie gesehen. Und ich studiere Kunst!“
Luisa nickte. Sie versuchte freundlich zu lächeln. Aber auch das fiel ihr sehr schwer.
„Ich mag den ungewöhnliche Rahmen. Kann ich das Bild vielleicht kaufen?“
„Sie wollen… was?“
„Ich will das Bild kaufen- wenn sie mir einen Preis sagen, den eine Studentin sich leisten kann.“
„Nein!“
„Ich wollte nur fragen...“
„Was fällt ihnen ein!“ Die Leute sahen Luisa an. Sie hielt das Bild auf dem Platz neben sich umklammert. Das Mädchen sprang auf und stürzte durch die sich gerade schließenden Türen. Was hatte Margarete ihr da aufgebürdet? Luisa kaute an ihrer Unterlippe. Das Bild konnte sie nicht zurück geben. Sie hatte sich überlegt, was sie nun tun musste. Auf jeden Fall würde sie dieses mal alle Vorschriften beachten!
Am Gleisdreieck hatte ihr Zug Verspätung. Sie stand auf der oberen Plattform und blickte auf die Stadt. Als sie jemand den Bahnsteig entlang kommen hörte, wollte sie sich nicht umdrehen. Dann aber wusste sie, wer da kam. Das war Maik, ausgerechnet er. Er zog an der Zigarette in seinem Mundwinkel und kam direkt auf sie zu. Ihr Herz schlug schneller.
„Hallo Maik.“
„Hallo Luisa.“ Er sah auf einen Baukran der sich zwischen zwei Häusern drehte und stieß eine Rauchwolke aus.
Nervös umklammerte sie das Bild. Maik hatte sie im Krankenhaus kennen gelernt. Nachdem sie drei Wochen dort gewesen war, hatte er eines Nachmittags am Gartenteich gestanden und geraucht. Er hatte merkwürdiges Zeug erzählt. Nach ein paar Tagen aber hatte er sie mit auf sein Zimmer genommen und ihr eine Mappe mit Bildern gezeigt. Maik brachte Sachen aufs Papier, die andere Leute sich nicht mal hätten vorstellen können. Eine seiner Zeichnungen hing jetzt in ihrem Zimmer, direkt gegenüber der Tür. Zuerst hatte sie darin nur sich kreuzende Linien erkannt. Dann jedoch merkte sie, dass sich in dem Muster eine Figur abhob. Sie hatte kreisende Arme und ein Gesicht, das aus einer riesigen schreienden Spirale bestand. Diese Zeichnung hielt böse Menschen von ihrem Zimmer fern. Sie bewunderte Maik für sein Talent. Zu malen hatte sie sich selber nie getraut. „Denkst du, das Bild sieht wie ich aus?“
Maik sah sie an, dann das Bild in ihrem Arm, dann den Kran, der einen Stahlträger über die Dächer gleiten lies. Er nickte, aber es war nicht klar, auf was er sich damit bezog. „Der Zug ist verspätet“, sagte er. Dann stieß er eine Rauchwolke aus. Er warf seine Kippe zwischen die Gleise und verschwand.
Luisa hatte sich genau überlegt, was sie tun musste. Jetzt kamen ihr wieder Zweifel. Aber Zweifel kamen immer. Die meisten Zweifel musste man ignorieren, sonst kam man nie zu irgendetwas. Welche Zweifel waren aber die meisten Zweifel und welche waren die wenigen Zweifel, die man nicht ignorieren durfte? Der Zug ratterte in den Gleisen und sie sah ihr Spiegelbild in den zittrigen Scheiben. Das Bild saß ruhig neben ihr. Immerhin hatte sie sich einen Termin besorgt. Es gab viele Menschen, die ihr nicht zugetraut hätten, sich einen zu Termin besorgen und ihn dann tatsächlich auch wahrzunehmen.
Bis sie das richtige Gebäude gefunden hatte, musste sie lange suchen. Sie kam an einem Garten mit Teich vorbei und schließlich stand sie vor einer großen Anzeigetafel mit Nummern. Sie zog einen Zettel aus ihrer Tasche. Die fünfte Nummer war ihre! Nervös drückte Luisa das Bild an sich. Reichte ein Termin überhaupt? Oder hätte sie einen Doppeltermin buchen müssen?
Lange bewegen sich die Nummern auf der Tafel nicht nach vorne. Dann bewegten sie sich plötzlich sehr schnell und sie wurde aufgerufen. Mit ihrem Bild schritt Luisa durch eine gepolsterte Tür. Ihr Herz schlug schneller und Eine Frau mit rotem Lippenstift begrüßte sie. „Wie kann ich ihnen helfen?“
„Ich will einen zweiten Personalausweis, weil dieses Bild hier auch ich ist.“
„Sie wollen… was?“
Luisa begann zu stottern. Ihr fiel ein, dass sie von dem Bild hätte Passfotos machen sollen. Dann aber fasste sie sich und begann zu erklären. Es war ein Geschenk gewesen, von ihr nicht gewollt, aber sie hatte sich auch nicht getraut, es abzulehnen. Schaute man richtig hin, erkannte man auf der Leinwand Luisa. Das Bild war sie und trotz allem liebte Luisa sich. Darum sollte das Bild auch alle Dokumente und Rechte erhalten.
Die Frau sah das Bild an. Sie presste die rot geschminkten Lippen zusammen. Dann wurde ihre Stimme hart. Ein Bild sei ein lebloser Gegenstand und keine Person. Was keine Person sei, brauche keinen Personalausweis. Sie sagte über den Schreibtisch hinweg, dass Luise einen Vogel habe. Von ihrem Platz aus konnte sie die Spange in Luisas Haar aber gar nicht sehen. Wer einen Termin wegen so etwas mache, der wolle die Zeit des Amtes verschwenden. Sie aber, sie würde die Zeit zu nutzen wissen. „Ihre Name ist?“ fragte sie. Dann begann sie bedeutsam in ihre Tastatur zu tippen.
Luisa saß mit offenem Mund vor ihr. Sie hatte alles richtig machen wollen und auf jetzt war das auch wieder falsch. Margarete hatte gesagt, das Bild war sie. Die Frau sagte jetzt, das Bild war nur ein Gegenstand. Beide glaubten entscheiden zu können, wo die Dinge aufhörten und Luisa anfing. Aber was sie selbst glaubte, das war ihnen egal. Tränen stiegen in ihr auf. Die Frau sprach etwas von einem Drucker und verschwand im Nebenraum.
Luisa konnte hören, wie sie dort mit Papier raschelte. Sie konnte auch Margarethe sehen, wie diese gerade vor ihrer Staffelei stand und zu viel Farbe auf die Leinwand kleckste. Dann kam ihr ein merkwürdiger Gedanke. Es war, als würde sich in ihrer Kehle ein Krampf lösen. Von dem Tisch vor ihr griff Luise einen roten Markierstift. Damit malte sie zwei große Lippen auf das Bild. Für den ersten Versuch gelangen sie gut. „Danke“, sagte sie, legte den Stift zurück und ging.
Die gepolsterte Tür hatte sie schon fast hinter sich geschlossen, als sie noch einmal durch den Spalt blickte. Das Bild saß noch auf seinem Stuhl. Die Frau beugte sich weit über die Tischplatte vor. Ihr roter Mund stand ungläubig offen. Sie starrte auf das Bild wie in einen Spiegel. Lachend rannte Luisa aus dem Gebäude und auf die Straße hinaus.