Das Briefe-Geheimnis

Thomasius

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Das Briefe-Geheimnis

Ich muss das alles genau, möglichst exakt, aufschreiben. Für mich ganz allein. Es hat seinen Grund. Vor genau zehn Tagen hörte ich nämlich im Schwarzen Adler zufällig eine merkwürdige Diskussion am Nebentisch, genauer, am Tisch im Gastraum direkt hinter der Trennwand zur Theke, an der ich alleine vor meinem Glas Riesling saß.

Eine ältere Stimme beschränkte sich auf Einwürfe und es redete vor allem die junge Stimme. "Ich freue mich, dass Sie sich für mein Manuskript interessieren." "Nun, Herr Professor Nersdorff machte es sehr dringend." "Ja, ihm gab ich mein Manuskript, sonst niemandem. Es ist mein geistiges Eigentum." Die ältere Stimme mahnte, seine Zeit als Verleger sei knapp bemessen: "Zur Sache: Es geht um Schillers ästhetische Briefe, sagte Professor Nersdorff. Ein schon ausgiebig behandeltes Thema. Was ist ihr Punkt?"

"Ja, der Punkt. Voraussetzung dafür ist die Erkenntnis, dass diese Briefe hochpolitisch sind." "So, so…" "Friedrich Schiller, der Dichter der Freiheit, als der er damals gefeiert wurde, resignierte nach dem Scheitern der Französischen Revolution nicht, sondern sein Genie zeigte ihm einen Weg, das Ziel des 'Freien Staates' dennoch zu erreichen, und zwar durch die besondere Rolle der Kunst – der schönen Kunst." "Nun ja, schön und gut. Alles bekannt und widerlegt, Schiller war halt Idealist."

"Nein!" zischte die junge Stimme mit einer Energie, die mich erschauern ließ. "Nein, nein, nein! Er war Realist, dieses Bild von Schiller ist Teil der Operation, die ich entdeckt habe und in meinem Manuskript dokumentiere. Gerade weil die politische Brisanz seiner ästhetischen Briefe erkannt wurde, wirkten sehr einflussreiche Kreise darauf hin, den Begriff der schönen Kunst so zu verformen, dass diese die von Schiller gefundene gesellschaftliche Wirkung nicht mehr erzielen konnte. Die Aussage, dass es idealistisch sei, der Kunst eine politische Wirksamkeit zuzusprechen, ist ein zentraler Teil dieser Operation."

Die alte Stimme sprach betont langsam: "Und worin bestand denn ihre 'Operation'?" Die junge Stimme fuhr im Stakkato fort: "Erstens, indem Kunst in ein Wolkenkuckucksheim verlegt wurde, zur reinen Unterhaltung, was sich unmittelbar in der Romantik bewerkstelligen ließ. Zweitens in der Veränderung der Ästhetik. Dem Begriff des Schönen wurde das Erhabene genommen, was erst ein Jahrhundert später voll zum Tragen kam, in der Ästhetik des Hässlichen." "Ich verstehe, worauf Sie hinaus wollen. Schillers Konzept der Entwicklung zum freien Bürger durch schöne Kunst wird auf diese Weise blockiert und der Mensch auf sein kleines Ich zurückgeworfen." "Mehr noch, eine zunehmende Verrohung der Bevölkerung durch Unterhaltung mit Hass und Horror wurde geplant. Eine völlige Pervertierung von Schillers Idee!" Die alte Stimme unterbrach: "Sie meinen, so etwas sei wohlmöglich passiert…" "Es ist nicht passiert, es wurde bezweckt!" betonte die junge Stimme.

Es herrschte einen Augenblick Stille. Die alte Stimme räusperte sich: "Klingt nach Verschwörungstheorie…" "Egal, wie Sie es nennen. Es war eine geplante Weichenstellung in der allgemeinen Wahrnehmung. Heute sprechen wir von Framing…" "Und sie haben stichhaltige Beweise und Dokumente?" "Ja, das ist es ja – eigentlich durch Zufall gefunden. Ich studiere Bibliothekswesen, ich war selbst platt, als ich…" "Sie sind ab-so-lut sicher? Wo sind diese Dokumente?" "Ich habe sie an Ort und Stelle gelassen, aber alles Wesentliche ist in Kopie meinem Manuskript beigefügt." "Ich sehe, der genau Ort soll Ihr Geheimnis bleiben" ergänzte die alte Stimme in gesenktem Ton. Die junge Stimme flüsterte eindringlich: "Verstehen Sie, es ist wichtig, dass mein Manuskript möglichst breit veröffentlicht wird, es ist eine Bombe."

Wieder herrschte Stille. "Was denken Sie?" fragte die junge Stimme etwas verunsichert. Nach einer Weile sprach die alte Stimme, indem sie die Worte sorgsam formte: "Ich werde Ihren Text prüfen, der Professor scheint recht zu haben, obwohl er, wie Sie, kein Literaturwissenschaftler ist. Wenn es stimmt, könnte das tatsächlich eine Bombe werden." Und nach einer Weile mit bedrohlichem Unterton: "Wissen Sie eigentlich, dass der Jahresumsatz der heutigen Unterhaltungsindustrie das Sechsfache der Erdölindustrie ist?" Wieder eine Pause. "Ich vertraue Ihnen mein Lebenswerk an" die junge Stimme nahm bei diesen Worten einen fast feierlichen Klang an. "Eines muss klar sein, außer dem Professor und mir darf niemand etwas davor erfahren." "Ich verstehe."

"Zahlen!" rief die ältere Stimme abrupt und fuhr dann in vertraulichem Ton fort: "Ich habe leider keine Zeit mehr, sonst hätte ich mich gerne mit Ihnen weiter unterhalten, Herr Kaufmann. Aber ich habe ja ihr Werk". Der Verleger zahlte die Rechnung, Stühle rücken, Stille. Ich saß immer noch vor meinem Weinglas.

Den ganzen Abend ging mir durch den Kopf, wie die Geschichte wohl weitergehen würde. Sechs Tage darauf las ich von einem Studenten Karl Kaufmann, den Passanten tot im Stadtwald aufgefunden hatten, die Polizei vermutet eine Überdosis Drogen.
 

Bo-ehd

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Hallo Thomasius,
schöner Text, der mich leider mangels Sachkenntnis mit offenen Fragen zurücklässt.
Kleiner Tip: Um die Lesbarkeit zu erhöhen, empfehle ich, jeden neuen Dialog mit einem neuen Absatz zu beginnen. Das gilt besonders hier im Forum, wo die Zeilen im Verhältnis zur Schriftgröße viel zu lang sind (sagt ein ehemaliger Inhaber eines Satzbetriebes).
LG Bo-ehd
 

Thomasius

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Hallo Bo-ehd,

danke für den Hinweis. Die Zeilen sind wirklich lang. Ich lasse es aber erst einmal so. Wenn du die <Strg> Taste hältst und die <+> Taste drückst, wir die Schrift größer und die Zeilen kürzer, mit <->-Taste geht es zurück.

LG Thomasius
 

Bo-ehd

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Hallo Thomasius,
ich arbeite mit einem MacBook, da funktioniert diese Tastenfolge nicht. Für alle Mac-User: Mit Command + oder command - klappt's.
Gruß Bo-ehd
 



 
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