Das Dezembertreffen

Das Dezembertreffen

Es begab sich vor noch gar nicht zu langer Zeit, als ich, Dorahn Mavelius, die Seiten wechselte. Ich hatte einige unüberbrückbare persönliche Differenzen in einem kleinen Land, wo ich es einstmals einen hohen Rang im Militär auf Landesebene innehatte.
Leider äußerte ich das Falsche zur falschen Zeit und zog daraus die Konsequenz, zu gehen. Ich bin mir sicher, wäre ich weniger stur gewesen und hätte den Fehler als Solchen erkannt, wäre ich noch immer dort. Aus Erfahrungen gleich welcher Art kann man nur lernen. Nach einem halben Jahr versuchte ich, unter falschem Namen, zurückzukehren. Mittlerweile hatte sich aber soviel verändert, das ich den Anschluss verpasste; ich ging ein zweites Mal fort. Kurz darauf hörte ich vom sagenumwobenen Land Providentia, das vom weisen und gerechten König Rogus geführt wird. Ohne anderweitige Verpflichtungen und Umschweife reiste ich Anfang Oktober dieses Jahres dorthin und fand binnen kürzester Zeit mein ganz persönliches Refugium. Sicher, auch hier eckte ich mit meiner Art an, aber man gab mir die Chance, mich einzuleben, obwohl ich, wie ich zugeben muss, schon sehr über die Stränge schlug. Vor etwa einer Woche lernte ich jemanden kennen, und hier beginnt die Geschichte nun…

Ich sitze mit meinem langjährigen Waffengefährten und Freund Taff Besik in der kleinen Taverne am Fuße der mächtigen Ebenenspringerakademie zu Brelun. Einmal im Jahr, immer Anfang Dezember, treffen wir uns hier und erzählen uns gegenseitig, was wir in den letzten 12 Monaten erlebt haben. Taff ist Ebenspringer geblieben, das heißt, er gehört einem kleinen Orden an, dessen Aufgabe es ist, in Paralleluniversen Kontrakte anzunehmen. Dabei geht es um Diplomatie, Kampf, die Wiederbringung eines Artefaktes oder die Errettung einer Person oder eines Wesens. Die Ebenenspringer greifen erst dann ins Geschehen ein, wenn der Rat von Brelun es für nötig erachtet. Sie kommen meist unaufgefordert, bringen die Dinge in Ordnung und gehen wieder; der Rat von Brelun ist die oberste rechtliche Instanz auf allen Ebenen und seine Entscheidungen sind bindend, ein Widerrufsrecht von Seiten der Parallelwelten existiert nicht. Taff ist sozusagen ein Multi-Söldner, da er in verschiedenen Ebenen handeln muss, und deswegen ist er ja auch ein Ebenenspringer. Ich hingegen habe die Akademie vor ein paar Jahren verlassen, mir wurde die ständige Umherspringerei zu viel. Meine Entscheidung wurde akzeptiert, aber glücklich war wohl niemand. Mein Waffenmeister, Katos Rasall, hatte große Pläne mit mir, ich sollte Tutor werden und junge Kadetten in die Kunst des Springens und die damit verbundene Verantwortung einarbeiten, ich schätze, außer Taff war er einer der Wenigen, die enttäuscht waren.

„Nun, Dorahn, erzähl mal, was erlebst du in Providentia? Beschreib mir das Land!“ begehrt Taff neugierig.
„Och, weißt Du, es ist ein wunderbares Land mit wunderbaren Menschen und wunderbaren…“ versuche ich zu erklären. Er springt auf und fühlt mit der Hand meine Stirn.
„Oh oh, Dorahn du hast den selben Ausdruck in deinen Augen wie damals, als du Kales kennenlerntest!“
„Quatsch!“ sage ich einen Hauch zu schnell. Taff grinst von einem Ohr zum anderen, klopft mir auf die Schulter und nickt mir aufmunternd zu.
„Du kannst vor mir doch nichts verheimlichen, Dorahn, du bist ein offenes Buch für mich! Ich erinnere mich noch gut, als Kales an die Akademie kam, du warst sofort Feuer und Flamme für sie. Sonst warst du ´nur´ ein Kamerad, aber wenn sie in deiner Nähe war, warst du charmant, als wolltest du unsere Kaiserin beeindrucken!“ Taff grinst immer noch breit. Mir wird mulmig, das Gespräch entwickelt sich anders als erwartet.
„Taff, äh…was hast DU denn so getrieben?“ unternehme ich einen schwachen Ablenkungsversuch.
„Oh nein, Dorahn, jetzt reden wir erstmal über dich! Keine Angst, ich kenne meinen besten Freund gut genug, um zu wissen, was ich fragen kann und was nicht. Also, erzähl, wer ist sie?“
„Ähm, Taff, ich kenne sie noch nicht sehr lange…“
„Ach, Dorahn, du bist in allem so schnell, sei es im Kampf oder im Umgang mit anderen, andersgeschlechtlichen Menschen. Versuch doch mal, die Dinge auf dich zukommen zu lassen und greif dem Schicksal nicht ständig vor. Was passieren soll, wird passieren, du wirst es dadurch nicht
besser machen, wenn du alles sofort willst. Du erinnerst dich noch, wie das mit Kales ausging. Sie mochte dich, sehr sogar, aber du mit deiner teils arroganten, teils mimosenhaften Art hast sie vergrault.“
Es schmerzt mich, mich an Kales und meine Dummheit zu erinnern, aber Taff hat Recht.
„Kannst du einschätzen, ob sie dich mag?! Du weißt, es gehören zwei dazu…“ fragt Taff mit leichter Sorge in seiner Stimme.
„Hmhm… ja, ich glaube, das tut sie.“
„Dir ist hoffentlich klar, dass sie zu nichts verpflichtet ist? Mal angenommen, sie würde morgen nicht mehr mit dir reden, müsstest du das nach Breluner Art akzeptieren! Auch, wenn ich niemanden, der dich kennenlernt, so einschätze. Ich habe mich mit dir nach kurzer Zeit blendend verstanden, aber sie ist eine Frau, da hast du schon immer Startschwierigkeiten gehabt.“
Achja, Taff Besik. Er ist ein Bürgerlicher, ich bin Adeliger; die Kluft in diesem Land zwischen diesen beiden Fraktionen ist immens und so urteilte Meister Rasall an unserem ersten Tag auf der Akademie salomonisch: Je ein Adeliger und ein Bürgerlicher teilen sich ein Zimmer! Ich war schockiert, ich sollte den Raum mit einem Bürgerlichen teilen! Mein Vater wies mich, freundlich, aber bestimmt, darauf hin, dass Adel den Menschen nicht besser macht! Im Gegenteil, seiner Einschätzung nach ist der Adel hochnäsig, eingebildet und verlogen. Mit dieser neuen Perspektive, die ich mir schnell zu Eigen machte, verstand ich mich sehr gut mit Taff und, tja, wir sind die besten Freunde, die man sich denken kann.
„Dorahn?“
„Hm? Oh, entschuldige, ich habe an unseren ersten Akademietag gedacht.“ sage ich lächelnd.
„Hast du mitbekommen, was ich sagte, du Träumer?“ lächelt Taff.
„Ja. Hab ich. Und du hast Recht. Nach Breluner Gesetz, das ich als wahr erachte, ist dem auch so.“ seufze ich und schaue Taff verklärt an.
„Ich kenne diesen Blick und ich sage dir eines: Wenn sie dir etwas bedeutet, und ich bin mir sicher, das dem so ist, lässt du ihr soviel Zeit, wie sie möchte!“
„Naja, Taff, du kennst mich doch, ich…“
Taff duldet keinen Widerspruch und legt seinen Zeigefinger auf die Lippen, als Zeichen, das ich schweigen soll. Betreten schaue ich zu Boden. Es ist nicht etwa so, das ich nicht in der Lage bin, Menschen kennen zu lernen, vielmehr schoss ich in der Vergangenheit dank meiner Ungeduld über das Ziel hinaus und verbaute mir mögliche Chancen.
„Ich weiß, Taff. Aber Geduld ist nun mal nicht mein Ding.“
„Dann, Dorahn Mavelius, ist es an der Zeit, das du es endlich lernst!“ Er knufft mir mit der Faust freundschaftlich an die Schulter. Draussen schneit es nun schon geraume Zeit, und die dicken Flocken legen einen dicken weissen Teppich. Um auf andere Gedanken zu kommen, schlage ich eine Schneeballschlacht vor.
„Du kannst doch gar nicht zielen, Dorahn! Das dauert höchstens zehn Minuten, dann bist du beleidigt und wir sitzen wieder hier am Feuer!“
„Täuscht Euch nicht, Taff Besik!“ grinse ich. „Sagen wir, es ist meine Lektion in Geduld!“
„Das würde ich gerne noch erleben!“ Taff lacht laut, nimmt seinen Ledermantel von der Stuhllehne und stapft hinaus. Ich nehme ebenfalls mein wollenes Wams vom Haken am Kamin und laufe hinterher.

Taff eilt, schnell wie ein Wiesel, hinter eine Schneewehe und als ich den Kopf aus der Tür der Taverne stecke, erwischt mich sein erster Schneeball am Ohr.
„Das ist unfair! Ich bin noch nicht soweit!“ maule ich.
„Du musst lernen, mögliche Deckungen besser ausnutzen, du bist eingerostet, seit du die Akademie verlassen hast. Außerdem: Willst du diskutieren oder kämpfen?“ höre ich seine lachende Stimme von irgendwo hinter der Wehe.
Ich murmele einen Fluch und verstecke mich hinter dem Regenwasserfass direkt neben der Tür. Wartend bastele ich mir ein paar Bälle, lege sie zurecht, als ich plötzlich eine Stimme hinter mir vernehme.
„Reingefallen!“ Ich drehe mich instinktiv um, blicke ihn erschrocken an und sein zweiter Treffer landet mitten in meinem Gesicht! Hat er sich doch tatsächlich um die Taverne geschlichen! Ich fühle Wut in mir aufsteigen und schreie ihn an.
„Wenn ich dich erwische, Taff, bist du dran!!“
„Aha? Wolltest du nicht geduldiger und ruhiger werden?“ lacht er mich aus.
Hochroten Kopfes sage ich trotzig
„Ja, will ich, aber du machst es mir extra schwer!“
„Och, eine Runde Mitleid für Dorahn! Du solltest spaßeshalber an den Tests der Kadetten teilnehmen, um deine Einschätzung von Schwere überdenken zu können!“ In kurzen Haken und Sprüngen verschwindet er wieder im Schneetreiben.
„Bist du bei ihr auch so? Dann bete, das sie leicht verzeiht!“ lacht Taff von irgendwo in östlicher Richtung.
„Ich hab keine Ahnung, was sie jetzt damit zu tun hat!“ antworte ich gereizt.
„Na, das ist doch klar: Du reagierst überempfindlich. Wenn du, was du ja nicht einmal böse meinst, gemein zu anderen bist, ist das für dich in Ordnung, aber andere dürfen dir nichts antun. Du musst lernen, zu parieren und gegebenenfalls auch mal etwas kommentarlos einzustecken. Du musst nicht immer das letzte Wort haben. Manchmal ist es besser, man sagt gar nichts! Und noch was: Hör auf, ständig alles, was passiert, auf dich zu reflektieren. Wenn jemand sauer ist, liegt das nicht zwangsweise an dir, also halt´s Maul! Dieses ´Das ist meine Schuld´ oder ´Liegt an mir´ kommt nicht gut an. Ich kenne dich und weiß, wie du bist, aber das kannst du von Fremden nicht erwarten.“
Seine lange Rede verfolge ich aufmerksam, in vielerlei Hinsicht. Seine Stimme ist wie ein Leuchtfeuer, das zu ihm führt. Ich habe auch den Sinn und die, wie ich zugeben muss, Wahrheit in seinen Worten gehört und gebe zu, das es genau so ist, wie er sagt. Es gibt außer meinen Eltern nur ihn; er ist der Bruder, den ich nie haben durfte.
Während ich mich hinter seine vermeintliche Deckung werfe, schleudere ich zwei Schneebälle auf einmal. Erstaunt blickt Taff nach rechts, versucht noch auszuweichen, wobei ihn zumindest einer der Bälle am Hals trifft. Röchelnd sackt er zusammen. Ich rolle mich ab und verstecke mich hinter einer Tanne.
„Taff? Alles in Ordnung?“ rufe ich. Nichts. Er antwortet nicht.
Unruhig verharre ich mehrere Sekunden, die mir sehr lang vorkommen, in meiner Deckung. Dann halte ich es nicht mehr aus und sehe nach ihm; doch der Platz, an dem er eben noch sass, ist leer. ´Eine Finte!´, denke ich, als mich im gleichen Moment ein nasskalter Ball klatschend am Nacken trifft.
„Hahaha, Dorahn. Das hast du von deiner Ungeduld!“
„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Taff!“ antworte ich wütend.
„Gut, hören wir auf, ja? Es macht mir keinen Spaß, dich verlieren zu sehen.“ Lächelnd setzt er sich zu mir in den Schnee. Der Himmel über uns ist sternenklar, kleine Wolkenfetzen ziehen am Firmament umher und die zwei Monde, die unseren Planeten Arslan umkreisen, stehen voll und gross am Himmel.
„Wie großzügig, Taff!“ sage ich zerknirscht. Lachend umfasst er mit seinem rechten Arm meine Schulter und drückt mich an sich.
„Du weißt doch, wie ich das meine, Dorahn!“
Während wir so dasitzen, schaue ich auf die Häuser im Dorf, jedes mit Kerzenlicht im Fenster.
„Auf der Welt Erde begeht man diese Zeit als Weihnachtszeit. Man ehrt damit einen jungen Mann, der für den Glauben vieler sterben musste. Jesus hieß er.“ erkläre ich veträumt.
„Du warst gerne auf der Erde, oder, Dorahn?“
„Ja, Taff, aber das ist vorbei. Mein Platz ist in Providentia, ich baue mir da etwas auf.“ flüstere ich seufzend.
„Wann springst du zurück?“ fragt er unvermittelt.
„Noch heute. Ich habe mit Meister Rasall besprochen, das ich gegen Nachmittag aufbreche. Providentia gehört zwar nicht dem Bund an, aber es ist erreichbar von unserem Sprungknoten aus. Sollte kein Problem sein.“
Es ist tiefe Nacht, hier in Brelun etwa 3.30 so genannter mitteleuropäischer Erdenzeit.
„Lass uns wieder hineingehen, mein Hintern wird nass vom Schnee.“ schlage ich vor.
„Vom Schnee? Klar!“ lacht Taff und auch ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
In der Taverne mustert uns der Wirt, Bok, zweifelnd, murmelt „Kinder“ und schüttelt lächelnd den Kopf. Mit seiner tiefen Stimme brummt er
„Ihr zwei habt euch in den letzten 15 Jahren nicht verändert, immer noch die Kindsköpfe, die ich in eurer ersten Woche kennen und schätzen lernte! Bleibt so, bewahrt euch das! - Hier, der heiße Wein geht aufs Haus!“ Er stellt zwei große Krüge heißen Gewürzwein auf unseren Tisch am Kamin und verschwindet wieder im Nebenraum. Wir nicken ihm dankend zu und lächeln. Bok ist so was wie ein väterlicher Freund für uns. Vorsichtig schlürfend und mit beiden Händen den heissen Becher umfassend trinke ich davon.
„Wenn ich noch etwas Schlaf bekommen möchte, muss ich gleich ins Bett, Taff. Ich möchte dir für deine weisen Ratschläge danken und verspreche, sie zu beherzigen. Du bist ein guter Kerl und ich weiss, das alles, was du gesagt hast, richtig ist.“ Taff errötet leicht, lächelt mich an und flüstert mir zu.
„Dorahn, du bist wie mein Bruder, ich möchte, das es dir gut geht. Man selbst sieht oft nicht, wenn man Fehler macht, man ist auf Hilfe anderer angewiesen. Sieh es nicht jedes Mal als Tadel, die meisten Leute wollen dir helfen. Nimm ihren Rat an und wäge ihn weise ab. Du musst nicht alles tun, was man dir sagt, behalte ein paar Ecken und Kanten, wärst du perfekt, wärst du uninteressant, vergiss das nicht! – Und was die junge Frau angeht, tu mir einen Gefallen: Wenn du nicht an meine Worte glaubst, befrag das Orakel von Rin!“
„Taff, ich glaube dir und weiß, das die Schwestern des Rin mir das Gleiche raten würden! Aber es kann nicht schaden, dorthin zu gehen und zu beten. Ein guter Vorschlag, danke! Ich werde vor meinem Sprung dort ein paar Stunden meditieren.“
Wir reden noch einige Zeit, bis der Wein ausgetrunken ist. Er erzählt von seinem Jahr und seinen Abenteuern. Dann umarme ich ihn lange und bemerke beim Abschied seinen glasigen Blick. Der harte Taff Besik hat Tränen in den Augen. Aber auch ich muss mich sehr zusammen reißen, nicht zu weinen. Während Taff traurig zur Akademie hinüber schlurft, gehe ich auf mein Zimmer und denke noch stundenlang an meine neue Bekanntschaft, die ich zu ihrem Schutz nicht namentlich erwähnen möchte. Irgendwann in den frühen Morgenstunden schlafe ich dann ein und träume davon, sie aus der Hand eines schrecklichen Monsters zu befreien…

ENDE


© by Dorahn Mavelius
 



 
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