Das Dorf - K(l)eine Rücksichten 1

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Gleichgültig aus welcher Richtung jemand kommt, er sieht das Dorf immer erst im letzten Augenblick. Wie ein Raubtier duckt es sich in eine Senke.

Meistens schläft es und in der Erinnerung waren die Straßen und Gassen immer leer. Nur in den Ställen hörte man das Vieh, unruhig und klagend, als hätten die Besitzer es im Stich gelassen.

Auf dem langen Gefälle vom Nachbarort sausten die Traktoren im Leerlauf ins Tal. Unsere Haare und die Angst der Mutter wehten im Wind.

Fünfhundert Meter vor dem Dorf war die Müllhalde. Wir saßen in einem verrosteten Goggomobil, gruben nach Büchern, Comics und sonstigen Schätzen. Besonders begehrt waren Briefumschläge und Postkarten wegen der Briefmarken. Und dann war da dieser Stapel Feldpostbriefe von dem, der nicht wiederkam.

Mit dem Mädchen aus der Nachbarschaft saß ich oft an der Bundesstraße und notierte fremde Autokennzeichen. Wir wollten heiraten und nach Hamburg, Essen oder Schwäbisch Hall. Jetzt gibt es eine Umgehungsstraße.

Jeden Samstag kam der Friseur ins Dorf. Er hatte sich einen Raum im Nebengebäude der Gastwirtschaft gemietet. Es gab nur zwei mögliche Haarschnitte – Normal oder Facon. Facon hat zwei Mark mehr gekostet. Das Ergebnis sah vollkommen identisch aus, aber alleine das Gefühl, einmal nicht normal zu sein, war den Mehraufwand wert.

Wer die Senke und das Dorf verlässt, verliert es schnell aus den Augen. Man leckt die Wunden, sortiert die Bilder und hofft, dass das Raubtier vergisst.
 
Zuletzt bearbeitet:

Ji Rina

Mitglied
Hallo Franke,

Deine Dorf Impressionen haben mich sehr interessiert, da auch ich in einem Dorf aufgewachsen bin. Auch hier, in diesem Text, schwingt die Melancholie mit. Am meisten gefallen hat mir die Beschreibung des Friseurs.
Ich würde diese Kurzprosa aber noch einmal mit den richtigen Abständen einstellen. Ich weiss es nicht, aber beim ersten Lesen kam mir die eine oder andere Stelle ein wenig “abgehackt” (nicht verdichtet) vor, was bestimmt mit der Einstellung der Sätze zu tun hat. Gern würde ich es noch einpaar mal mit der richtigen Einstellung lesen. Diese eine Zeile: Unsere Haare und die Angst der Mutter wehten im Wind, klingt in meinen Ohren ein wenig ungeschickt.

Liebe Grüsse,
Ji
 

molly

Mitglied
Meistens schläft es und in der Erinnerung waren die Straßen und Gassen immer leer.
Hallo Franke,

das ist in "meinem" Dorf noch immer so und um Mitternacht werden die Straßenlaternen abgeschaltet.

;)Ein Dorf vergisst nichts, denn hier werden Freundschaften und Feindschaften gepflegt.

Gerne gelesen
Viele Grüße
molly
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich würde diese Kurzprosa aber noch einmal mit den richtigen Abständen einstellen. Ich weiss es nicht, aber beim ersten Lesen kam mir die eine oder andere Stelle ein wenig “abgehackt” (nicht verdichtet) vor, was bestimmt mit der Einstellung der Sätze zu tun hat. Gern würde ich es noch einpaar mal mit der richtigen Einstellung lesen. Diese eine Zeile: Unsere Haare und die Angst der Mutter wehten im Wind, klingt in meinen Ohren ein wenig ungeschickt.
Hallo Ji,

Ich habe die Absätze jetzt verringert. Die weiten Abstände zuerst waren Absicht, da jede dieser "kleinen Rücksichten" auch für sich alleine stehen kann. Allerdings sehe ich ein, dass dies beim Lesen doch etwas hinderlich ist.

Unsere Haare und die Angst der Mutter wehten im Wind
Ja, da merkt man doch den Lyriker in mir, Wenn unser Vater den Traktor ins Tal sausen ließ, lachten wir Kinder vor Freude, aber unsere Mutter hatte immer große Angst dabei. Ich habe das sehr verdichtet, auch um der Angst der Mutter eine andere Richtung zu geben - je nach Lesart.

Dir wie immer herzlichen Dank für deinen wertvollen Kommentar.

Liebe Grüße
Manfred
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Molly,

;)Ein Dorf vergisst nichts, denn hier werden Freundschaften und Feindschaften gepflegt.
Das ist eine Sache, die mich nachhaltig beschäftigt und erschreckt. Feindschaften werden über Generationen hinweg weitergereicht.
Danke für deinen Kommentar.

Liebe Grüße
Manfred
 

Ji Rina

Mitglied
Ich habe die Absätze jetzt verringert. Die weiten Abstände zuerst waren Absicht, da jede dieser "kleinen Rücksichten" auch für sich alleine stehen kann. Allerdings sehe ich ein, dass dies beim Lesen doch etwas hinderlich ist.
Hallo Manfred,

Dann verstehe ich jetzt warum mir manche Absätze ein wenig "abgehackt" vorkamen, weil du sie vielleicht mit der Vorstellung geschrieben hast, dass jeder Absatz für sich allein stehen könnte.
Liebe Grüße , Ji
 
G

Gelöschtes Mitglied 21589

Gast
Lieber Manfred,

da ich deinen Text schon mit Spannung erwartet habe, bin ich froh, ihn nun lesen zu dürfen. Dabei weht die von Ji Rina bemerkte Melancholie auch mir wie eine sanfte Brise ins Gesicht, sie wirkt nicht aufdringlich, sondern beinahe zärtlich. Das erscheint zunächst verwunderlich, denn der Text enthält starke Anklagen: gegen die Mutter, gegen die Abgeschiedenheit, gegen das Vergessensein. Doch gleichzeitig bedeutet schon die Überschrift, dass hier eine rücksichtsvolle Rückschau zu erwarten ist. Die Orte der Kindheit haben auch immer etwas mit Geborgenheit und Liebe zu tun. Oder der Sehnsucht danach. Darauf schlägt man nicht wütend ein, auch nicht in der Kunst. Vielleicht erklärt sich aus dieser eigentümlichen Melange das Gefühl der Melancholie? Aber gut, ich drifte ab, kommen wir wieder zum Text.

Dieser ist in meinen Augen fragmentarisch geschrieben. In beinahe jedem Absatz wird eine andere Geschichte erzählt und doch - letztlich ergeben alle zusammen ein Bild. Doch wie Ji Rina in ihrem ersten Kommentar bin auch ich der Ansicht, dass dieses Bild mit einer besseren Verdichtung des Textes noch intensiver wirken könnte. Meiner Meinung nach hat dies aber nicht so viel mit der Formatierung zu tun, sondern viel mehr mit der Kohärenz des Textes. So schaffen es die einzelnen Fragmente zwar durchaus, ein mehr oder weniger stimmiges Gesamtbild zu erzeugen (kohärent ist dabei, dass sie immer wieder auf das Thema "Dorf" reflektieren), untereinander aber sind sie weitestgehend zusammenhangslos, sodass dadurch der Eindruck entsteht, der Text wäre nicht verdichtet oder sogar abgehackt.
Um diesen Eindruck zu vermeiden und die Kohärenz zu stärken, wäre es meiner Meinung nach ratsam gewesen, immer im jeweils nächsten Abschnitt auf den davorliegenden zu verweisen, entweder durch einen inhaltlichen Bezug, der über das Thema "Dorf" hinaus geht oder aber durch eine Analogie oder einen Vergleich. Ein Beispiel (wenn auch sicherlich kein gutes) wäre z.B., Absatz 2 und Absatz 4 direkt aufeinander folgen zu lassen. So hätte man allein schon eine Kohärenz erzeugt, weil in Absatz 2 das im Stich gelassene Vieh thematisiert wird, im nächsten Absatz dann aber die Kinder auf einer Müllhalde, also in meinen Augen noch eine immense Steigerung des Im-Stich-gelassen-seins. Würde dabei der Absatz, welcher die Müllhalde thematisiert, noch mit einem Verweis auf den vorhergehenden eingeleitet (z.B. "Allein waren wir auch auf der Müllhalde..."), wäre die Überleitung zum nächsten Fragment für den Leser wohl angenehmer gestaltet und der Text würde kohärenter wirken.

Unabhängig davon bin ich zudem der Meinung, dass die ersten drei Absätze gegenüber den folgenden etwas abfallen. Ich würde sogar beinahe soweit gehen, die ersten drei Absätze vollständig wegzulassen und mit dem Satz zu beginnen:
Fünfhundert Meter vor dem Dorf war die Müllhalde.
Doch weshalb denke ich so? Da wäre zum einen der Raubtiervergleich. Ein Raubtier zeichnet sich in der Regel dadurch aus, dass es ein besonders guter Jäger ist. Die Eigenschaft, sich gut (z.B. in einer Senke) verstecken zu können, gehört dabei zweifelsfrei dazu, doch hauptsächlich geht es dann um Geschwindigkeit, Kraft und Dynamik, um letztlich der Beute Herr zu werden. All dies sind Fähigkeiten, die mich, wenn wir bei diesem Vergleich bleiben wollen, eher an eine pulsierende Großstadt erinnern als an ein abgelegenes Dorf. Meiner Meinung nach ist der Vergleich zwischen Dorf und Raubtier deshalb nicht stimmig. Das Dorf schläft ja sozusagen die ganze Zeit, es wird niemals aus der Senke herausspringen.

Der Verweis auf das Schlafen in Abschnitt 2 würde demzufolge nur das unschlüssige Bild fortführen. Und so geschieht es auch: Denn der Erzähler erinnert sich nun, dass in dem Dorf meistens nichts Aufregendes geschehen ist. Durch die Raubtieranalogie wird aber die Erwartung geschürt, dass das Dorf überhaupt das Potential hätte, aus seiner Versenkung aufzuspringen und plötzlich zu einem lebhaften Ort zu mutieren. Diese Möglichkeit ist aber, wie bereits beschrieben, gar nicht vorhanden. In diesem Zusammenhang würde ich übrigens auch nicht von leeren Gassen und Straßen sprechen, weil Gassen und Straßen die Transportwege einer Stadt, nicht aber die eines Dorfes sind. Dort gibt es meistens eine Dorfstraße, Wege und Feldwege (und natürlich manchmal noch eine Umgehungsstraße).

Dass die, wahrscheinlich vor allem jüngeren Dorfbewohner der alltäglichen Langeweile z.B. durch schnelles Fahren mit dem Traktor (sausende Traktoren) entkommen wollen, empfinde ich wiederum als schlüssig, obwohl meiner Meinung nach der Bruch zwischen Absatz 2 und 3 sehr groß erscheint, hier wäre es, wenn du den Text an dieser Stelle nicht ändern möchtest, vielleicht sogar besser, die Formatierung zu ändern und den dritten Abschnitt ohne Absatz direkt an den zweiten anzuhängen. Dadurch wirkt es eher wie eine Aufzählung, was hier auch die Kohärenz erhöhen würde.

Was ich in Abschnitt 3 aber wieder recht unschlüssig finde, ist der Satz
Unsere Haare und die Angst der Mutter wehten im Wind.
Du hast nach der kritischen Anmerkung von Ji Rina ja erklärt, was deine Intention an dieser Stelle war. Ich kann diese auch einigermaßen nachvollziehen, denke aber, dass du den Text hier zu sehr verdichten wolltest. Denn wenn etwas im Wind weht, dann ist dies in der Regel eine Analogie auf die Freiheit, die Angst der Mutter aber ist das genaue Gegenteil von Freiheit. Meinem persönlichen Leseeindruck nach kommt deine wahrscheinliche Absicht, nämlich darzustellen, dass die Angst der Mutter auch im Winde verweht, hier nicht richtig zur Geltung, vielleicht auch weil es schwierig ist, das doch recht abstrakte Wort Angst mit dem sehr physischen Wehen in Verbindung zu bringen? Letztlich stelle ich mir, obwohl ich es auf der Metaebene zu verstehen scheine, die Frage: Wie soll Angst wehen?

In meinen Augen deutlich stärker wird dein Text dann ab Absatz 4. Dies liegt daran, weil hier Konkretes geschickt mit Emotionalem verbunden wird. Herausragend empfinde ich dabei die Stelle:
Und dann war da dieser Stapel Feldpostbriefe von dem, der nicht wiederkam.
Hättest du nur geschrieben, Und dann war da dieser Stapel Feldpostbriefe, wäre es eine bloße Erwähnung von Gegenständen gewesen, die ich als Leser schnell vergessen hätte. Aber durch den Anhang von dem, der nicht wiederkam, gelingt es dir, in meinem Kopf und in meinem Herzen Bilder und sogar Filme auszulösen, denn hier ist in wenigen Worten so viel geschehen: So kann ich mir z.B. vorstellen, wie die Kinder die Briefe nach Hause gebracht haben, sie haben ihren Fund stolz den Eltern gezeigt, die Eltern haben die Briefe gelesen, sie erinnern sich an ihre eigenen Eltern, an die Geschichten von Krieg und Vertreibung... Ich könnte diese Gedanken noch lange weiterspinnen. Weil all diese Gedanken als Möglichkeit in deinem Satz stecken. Das macht für mich gute Literatur aus!

Ebenso der nächste Abschnitt. Von der bereits angesprochenen mangelnden Kohärenz einmal abgesehen endet dieser mit der Aussage
Jetzt gibt es eine Umgehungsstraße.
Und auch hier stecken sie wieder drin: die Möglichkeiten, oder in diesem Falle sogar: die nie verwirklichten Möglichkeiten. Ich kann mir förmlich vorstellen, wie da zwei Kinder sind mit großen Plänen für die Zukunft, mit Träumen von der Ferne, und dann, wenn der Satz "Wenn wir einmal groß sind" irgendwann immer unglaubwürdiger wirkt, müssen sie sich eingestehen, dass sie noch immer hier sind, dass die großen Pläne nicht mehr größer werden, dass es nicht einmal für Schwäbisch Hall gereicht hat.

Und dann kommt ein weiteres Highlight deines Textes - der Abschnitt mit dem Friseur. Dieser Abschnitt ist in meinen Augen absolut großartig! Der letzte Satz
Das Ergebnis sah vollkommen identisch aus, aber alleine das Gefühl, einmal nicht normal zu sein, war den Mehraufwand wert.
hat hier beinahe schon etwas Tragikkomisches, man möchte weinen und (mitleidig) lächeln zur gleichen Zeit. Klasse!

Und dabei würde ich es auch belassen, d.h. also, ich würde den Schlussabschnitt entfernen (wie gesagt, ich denke, der Raubtiervergleich ist nicht stimmig) oder besser noch, ich würde versuchen, ein anderes Ende zu finden.

Zusammenfassend möchte ich sagen, dass ich deinen Text sehr gern gelesen habe, weil er zum Teil ganz starke literarische Momente enthält. Gleichzeitig hat er meiner Meinung nach aber auch Probleme mit Logik und Kohärenz. Wenn es dir gelänge, die einzelnen Textstellen noch besser untereinander zu verknüpfen und die Einleitung und das Ende schlüssiger und von gleicher Qualität wie die Absätze 4-6 zu gestalten, wäre das in meinen Augen den Aufwand einer Überarbeitung des Textes wert.

Herzliche Grüße
Frodomir
 
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Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Frodomir,

ganz herzlichen Dank für deinen ausführlichen Kommentar.
Ich kann deine Kritikpunkte absolut nachvollziehen. Wie in der Überschrift schon erkennbar sind es die Rücksichten 1, d.h. es werden weitere folgen.
Letztendlich werde ich die ganzen "Rücksichten" in eine sinnvolle Reihenfolge bringen und dabei hat mir dein Kommentar unheimlich viel geholfen.

Danke und liebe Grüße
Manfred
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Frodomir,
Ich ziehe den Hut vor dieser Textanalyse...
Ich habe alles durchgelesen und bin dir sehr dankbar, da man soviel dabei lernt.
Dies hier war mein Eindruck, und du hast es so gut erklärt:

Um diesen Eindruck zu vermeiden und die Kohärenz zu stärken, wäre es meiner Meinung nach ratsam gewesen, immer im jeweils nächsten Abschnitt auf den davorliegenden zu verweisen, entweder durch einen inhaltlichen Bezug, der über das Thema "Dorf" hinaus geht oder aber durch eine Analogie oder einen Vergleich.
Liebe Grüsse,
Ji
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo!

Ja, ich bin auch ganz begeistert von dieser Analyse und lese sie immer wieder durch.
Solche Textarbeit sollte man eigentlich als beispielhaft hervorheben.

Nochmal zu meinem Text:

Eigentlich sollten diese Erinnerungssplitter in keinem direkten Zusammenhang stehen. Der einzige Zusammenhang ist das Dorf.
Mein Fehler dabei war, dass ich mit dem schlafenden Raubtier (das ist es, das könnt ihr mir glauben) einen Rahmen und einen Zusammenhang schaffen wollte. In diesem Fall wäre es anscheinend besser gewesen, es bei den Splittern zu belassen.

Liebe Grüße
Manfred
 
G

Gelöschtes Mitglied 21589

Gast
Hi Ji Rina, hi Franke,

eine Textanalyse macht dann Spaß, wenn der Text eine Analyse hergibt. So war es hier und deshalb habe ich mich gern mit dem Text beschäftigt.

Liebe Grüße
Frodomir
 



 
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