Das Dorf seines Vaters

Es war nicht einmal das Heimatdorf, schon Bens Großvater war fortgezogen. Aber sein Vater fuhr immer noch oft hin. Er, der ständig Gehetzte, der unfrohe Pläneschmied, er unterbrach fast jede Arbeit gern, um wieder einmal in Murbach zu sein. Dort, im Kreis seiner Cousins und Cousinen und der vielen weiteren Verwandten, da schien er ein anderer zu werden, schien einmal ausatmen zu dürfen. Ihre leichtere Lebensart, ihr geselligeres Wesen verlockten ihn immer wieder zu diesem Ausflug, der einem Ausbruch ähnelte. Zu allen Jahreszeiten fuhr er mit Frau und Sohn hin – eine Stunde mit dem Auto.

Die Besucher waren den Leuten dort nicht vollkommen geheuer. Ihre gewöhnliche Neigung zur Absonderung gab es in Murbach nicht. Dort hielt man noch an der althergebrachten und sippenverhafteten Geselligkeit fest. Die Feiertage wurden in großen, dunklen, verräucherten Stuben begangen, in deren Mitte Neunzigjährige saßen und Stunde um Stunde die Besuche der vielköpfigen Nachkommenschaft empfingen. Da war ein Kommen und Gehen, ein Bewirten und Zulangen, eine unmittelbare Ansprache und offene Aussprache …

Fremd und einschüchternd wirkte diese Welt auf Ben, zum Beispiel am Neujahrsmorgen, wenn er verschlafen und frierend dort ankam. Zu Hause waren sie vor Morgengrauen abgefahren und trafen mit dem ersten Frühlicht ein. Ben wollte jetzt nichts essen, keine Neujahrswecken, keine Brezeln, er wollte bloß den lebhaften Großcousinen zuhören und die Gesichter der Großcousins betrachten. Da er sich weigerte, etwas zu verzehren, geriet er unfehlbar ins Zentrum der großfamiliären Aufmerksamkeit und fühlte sich dort doppelt unwohl - nun hätte er wirklich nichts mehr hinuntergebracht. Die Sippenältesten redeten ihm zu und auf ihn ein, versuchten ihn umzustimmen. Dann schimpften sie. Ben hatte eines der wichtigsten Gebote übertreten: an den allgemeinen Genüssen und Vergnügen teilzuhaben. Er war schlecht erzogen, gab man seinen Eltern zu verstehen. Sie lächelten unsicher und versuchten, seine Appetitlosigkeit zu bemänteln. Er war doch erst fünfeinhalb …

Jahre später aß er immer noch nichts bei ihnen. Es war zur Gewohnheit geworden, und sie taten die Sonderbarkeit nur noch mit einer kurzen Bemerkung ab. Sie ging im allgemeinen Wortschwall unter. Wie laut sie hier redeten – und sein sonst so schweigsamer Vater debattierte munter mit, als wäre er einer von ihnen. Bens Mutter strengte sich an, den Anschluss nicht ganz zu verlieren.

Ben fuhr jetzt immer lieber mit nach Murbach - Fredis wegen. Fredi war der Sohn aus dem Nachbarhaus, mit Ben gleichaltrig. Sprach es sich in der Kaiserstraße herum, dass die aus dem Norden wieder da waren, war Fredi bald zur Stelle und lotste ihn hinüber. Mit ihm konnte man herrlich spielen. Ihre Bühne war das Getränkedepot, das Fredis Vater führte. Zwei Etagen mit Kästen voller Flaschen, Biere und Limonaden, Sprudel und Säfte und im Keller die Eisblöcke, die mit den Bierfässern an die Wirtshäuser geliefert wurden. Sie waren dort allein, erzählten sich dies und das, schrieen sich an, tobten, rannten einander nach, versteckten sich, suchten sich.

Einmal hatte Ben Fredi hinter einem turmhohen Stapel aufgespürt, und Fredi rannte los und bog um eine Ecke und streifte im Durchgang zum Hof eine der Eisenstangen, mit denen die Fässer und Eisblöcke auf dem Bierwagen ergriffen und durch die Luken in die Bierkeller hinabgelassen werden. Die Stange löste sich aus ihrer Halterung, fiel auf Fredi, der niederstürzte, und bohrte sich mit der eisernen Spitze in seine Schläfe. Er schrie und blutete sofort stark. Ben ließ ihn liegen, lief vom Depot in die Wohnung und sagte Bescheid. Fredis Mutter rief die Sanitäter, schickte Ben ins Nachbarhaus zurück – aber geh über die Straße, nicht übern Hof! – und lief selbst ins Depot.

Er sah also den blutenden Fredi nicht mehr, er sah ihn überhaupt nie wieder. Er hörte zwar noch, die Risswunde sei gut verheilt. Aber bald darauf kam die Nachricht, Fredis Vater sei gestorben, viel zu früh, sagten die Leute. Ben schrieb ihm das Übliche: Wie leid ihm Fredi tue und dass er Mut fassen solle und so weiter … Er bekam nie eine Antwort. Bens Vater fuhr erst Monate später wieder mit ihm nach Murbach, und in der Zwischenzeit hatte die Witwe Haus und Betrieb verkauft und war mit Fredi weggezogen. In Ben entstand ein unklares Gefühl von Schuld und dass alles miteinander zusammenhing: ihr Toben im Depot, die blutende Wunde, der plötzliche Tod des Vaters und Fredis Schweigen.

Wieder Jahre später gab es neuen Verdruss. Die Großcousinen sprachen ihn mirnichtsdirnichts auf sein Äußeres an: „Ben, lass dich mal anschauen: Wie groß du geworden bist! Und den Mädchen könntest du schon gefallen … Aber - du hast so viele Pickel und Mitesser … Mach mal was dagegen.“ Ja, was sollte er bloß tun, wegen der Pickel …

Etwas später trat das bis dahin Unvorstellbare ein – die Fahrten nach Murbach hörten auf. Bens Vater war dabei, alt zu werden, und sein Sohn dachte nur noch ans Fortgehen.
 

wüstenrose

Mitglied
Hi Arno,
nachdem ich heute mal wieder auf den Geschmack gekommen bin, was von dir zu lesen, habe ich auch zu dieser Erzählung gefunden.
Aufs Neue ist es faszinierend zu sehen, wie deine Story einerseits unspektakulär (langweilig?) dahin tröpfelt und andererseits die tiefste Verstörung und Entfremdung bloßlegt. Das berührt sehr stark!
Ich glaube, man könnte es so deuten: Der flache Erzählstil bemüht sich zu vermitteln: Da wird nichts Wichtiges gesagt, ein bisschen erzählt halt. Dabei ist das Drama des jungen Ben verheerend, aber aus Gründen der Scheu und der Scham darf es nicht illuminiert werden. Illumination verschlimmert das Leiden (vgl. die Versuche, Ben in Sachen "Verzehr" umzustimmen). Das Leiden muss konturlos und unklar bleiben. Der Druck wird unerträglich. Am Ende Ausweichen in ein unbestimmtes Fortgehen; vielleicht der Startpunkt einer langen Odyssee - im Reisegepäck: das Fehlen von Grund und Haftung.

lg wüstenrose
 
Danke, Wüstenrose, auch für diese Analyse. In der Tat bemühe ich mich, sozusagen leise zu erzählen. Manche dieser Texte sind recht alt - dieser nicht -, und wenn ich sie bearbeite, kürze ich viel, streiche Superlative, Wiederholungen, Abschweifungen, Manierismen. Mein eigener Geschmack, auch bezüglich fremder Werke, hat sich im Lauf der Zeit dahin entwickelt. Ich versuche also mehr oder weniger unwillkürlich, mich dem Stil bedeutender Autoren, die ich schätze, ein wenig anzupassen.

Dazu passt vielleicht, was ich neulich in einem Interview mit Kofi Annan las. Er sagte, er habe als UN-Generalsekretär mit vielen unerfreulichen Diktatoren zu reden gehabt und dabei selbst stets ausgesprochen leise argumentiert. Er habe die Erfahrung gemacht, dass leisem Reden aufmerksamer zugehört wird als lautem. Das ist ganz natürlich, der Zuhörer muss sich stärker konzentrieren und wird nicht durch Lautstärke in eine Abwehrhaltung gedrängt.

Freundlichen Abendgruß
Arno Abendschön (in Kürze einige Zeit offline)
 

HelenaSofie

Mitglied
Hallo Arno,

ja, wahrscheinlich ist es der unaufgeregte Erzählstil, der es ermöglicht, sich ganz auf den Inhalt dieses Geschehens zu konzentrieren.
Sehr interessiert gelesen.

Liebe Grüße
HelenaSofie
 
Dank auch an dich, HelenaSofie. Nun, ob leiser oder lauter, ist natürlich auch eine Geschmacks- oder besser Temperamentsfrage. Dennoch sollte jedem zum Grellen, Schrillen, vordergründig Effektvollen, Provozierenden usw. neigenden Autor bewusst sein, dass ein Zuviel in dieser Hinsicht die Leser ebenso ermüden kann wie das Gegenteil. Viel hilft bekanntlich nicht immer viel. Und: "Was gestrichen ist, kann nicht durchfallen." (Otto Brahms)

Schönen Abendgruß
Arno
 



 
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