Das Ende der Welt

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Rätsel der Schöpfung

»Gott sah alles, was er gemacht hatte, und fürwahr, es war sehr gut.«
Genesis 1, 31


Der Mann stand auf der Veranda vor dem kleinen Haus und betrachtete seine Welt. Das, was er dort sah, gefiel ihm nicht. Seine müden Blicke schweiften über eine kahle, triste Steppenlandschaft, die sich bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckte. Dichter Rauch verhüllte die Sonne und warf tobende Schatten auf die Erde. Überall schien er herzukommen. Er quälte sich aus zerstörten Vorstadtvillen, die sich früher an schmucken Baumalleen geschmiegt hatten, aus brennenden Firmenkomplexen, von deren Chefetagen aus einst das mächtige Bollwerk der Industrie kontinuierlich aufgebaut worden war, aus eingestürzten Hochhausanlagen, die vor nicht allzu langer Zeit noch unermüdlich arbeitenden Menschen ein sicheres Heim geschenkt hatten, aus verrotteten Läden, die sich dicht an dicht in die Fußgängerzone gequetscht hatten, und aus abgebrannten Farmbetrieben, die ehemals Tag für Tag in hektisches Treiben verfallen waren, um den Hunger Aller zu stillen.
Zwischen all diesen Ruinen stach gelegentlich ein verkümmertes, von der Asche ergrautes und gefangenes Pflänzchen hervor, das keine Kraft mehr hatte, die letzten Sonnenstrahlen zu erhaschen, die ihrerseits verzweifelt durch die schier undurchdringliche Nebelwand zu schlüpfen versuchten. Wasser hatte schon seit Unendlichkeiten, seit dem Höhepunkt der unvorstellbaren Hitze, nicht mehr die kümmerlichen Wurzeln berührt. Die großen Ströme der Welt waren längst ausgetrocknet und nur die mächtigen Flussbette zeugten noch von ihrer ruhmreichen Vergangenheit, in der sie die mächtigsten Schiffe und elegantesten Boote sicher zu ihrer Destination geleitet hatten.
Doch all das verblasste im Gegenteil zu einer viel erschreckenderen Erkenntnis, im Gegensatz zu einer grauenhaften Kognition: Kein Lebewesen strolchte mehr über die Mondlandschaft, kein Kinderlachen, kein Hundegebell, kein Vogelgesang durchbrach die apokalyptische Stille. All das gab es nicht mehr, war absent für alle Ewigkeit.
Verweste Leichen säumten die aufgerissenen, verkommenen Straßen. Leblose Körper lugten zwischen Häuserruinen hervor, mit entwürdigtem Angesicht, in bizarrer, abstruser Stellung oder einfach nur banal und steif. Der Tod- überall war er anwesend, keine Stelle, an dem nicht ein erloschenes Individuum den defätistischen Blicken des Mannes begegnete, kein unbefleckter Ort, an dem ihm nicht der nackte Tod entgegen grinste. Er war präsent für alle Zeiten.
Der Mann war der einzige, den das endgültige Ende, der obligate Exitus, noch nicht ereilt hatte, der einzige, der der Vernichtung bisher hatte entkommen können. Doch er wusste selbst am besten, dass es auch ihn bald treffen musste. Da machte er sich keine Illusionen, sondern schätzte realistisch seine Lage ein. Die Indizien waren einfach zu deutlich. Sein Körper war in den letzten Wochen rigoros schwächer geworden, zu einem asthenischen, morbiden Korpus verkommen. Zuerst war es nur ein leichter Husten gewesen, dann kamen immer heftiger werdende Schweißausbrüche und intransingente Schwächeanfälle hinzu, die ihn Tag und Nacht peinigten, unabhängig davon, ob er arbeitete oder schlief. Es hatte ihn viel Kraft gekostet, noch einmal nach draußen zu gehen und sich zu verabschieden. Es würde ihn bald ereilen, perfide und schleichend. Vielleicht blieben ihm noch ein paar Tage, vielleicht nur noch ein paar Stunden, Minuten, vielleicht sank er auch schon im nächsten Moment zu Boden und beendete sein Dasein.
Seine Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit, an den Anfang des Dramas. Wie hatte es so weit kommen können, wie war die Apokalypse der Erde möglich geworden...

Als der amerikanische Präsident Truman am 6. August 1945 den Befehl gab, eine Atombombe über Hiroshima fallen zu lassen, ahnte niemand, dass damit die endgültige Zerstörung der Erde eingeleitet worden war. Sie war der traurige Höhepunkt der menschlichen Fehlentwicklung. Schon in frühester Vorzeit hatte der Mensch die Natur ausgebeutet, ohne Rücksicht gelebt, seine egoistischen Triebe befriedigt. Schon früh hatten sich riesige Heere bekämpft, zuerst auf offenem Feld, dann hinterhältig versteckt im Gelände und schließlich nur noch per Knopfdruck. Die besten Forscher waren für die Weiterentwicklung von Waffen eingesetzt worden, von elitäre Waffen, die noch mehr Zerstörung über den Feind bringen sollten. Die Gewalt herrschte über allem. Das römische Reich hatte nur mit ihrer Hilfe sein Weltreich aufbauen können, Karl der Große hatte immer wieder mit seinen Truppen die Angriffe seiner Feinde abwehren müssen und die französische Revolution hätte ohne den Einsatz von Waffen und Kampfkraft niemals zum Erfolg geführt. Gewalt gegen Gewalt.
Doch alles hatte seinen vorläufigen Höhepunkt im 20. Jahrhundert gefunden. Die deutschen Chemiker Otto Hahn und Fritz Straßmann spalteten ein Uranatom und hatten damit das erbärmliche Wettrennen, um die perfekteste, grausamste, letalste und wirkungsvollste Waffe der Welt eingeläutet: Die Atombombe.
Am 16. Juli 1945 zündeten die USA die erste ihrer Art auf einem Testgelände und was dann folgte war eine der größten Katastrophen, der die Menschheit je hatte beiwohnen müssen: Hiroshima. Hunderttausende starben qualvoll, unzählige andere wurden heimatlos. Doch die Menschheit lernte nicht aus diesem Desaster. Sie hatten nicht begriffen, welch verheerende Wirkung die Atomforschung haben konnte, und baute Atomkraftwerke in der desperaten und ridikülen Hoffnung, damit ihren Fehler, den exorbitanten Verbrauch von Brennstoffen, wieder ausmerzen zu können. Aber die Menschheit übersah die Warnzeichen. Sie übersah den Störfall von Harrisburg an und tat überrascht, als das Reaktorunglück von Tschernobyl an jenem 26. April des Jahres 1986 in die traurige Geschichte der Atomenergie einging. Unzählige Menschen litten noch Jahre später an der Verstrahlung. Man versprach den Leuten, dass so etwas nie mehr vorkomme, dass nun alles sicherer und honetter sein werde, man gelobte feierlich eine neue, gemeinsame Welt zu errichten.
Es kam alles anders. Der Ost-West Konflikt, die Auseinandersetzung zwischen Russland und den USA, die Kontroverse zwischen zwei Nationen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, spitzte sich immer weiter zu. Niemand traute dem anderen, niemand glaubte dem anderen mehr ein Wort, jedes gequälte Treffen blieb doktrinär, ohne positive Entwicklung. Und nicht nur dort herrschte Missvertrauen. Überall herrschte es. In der Wirtschaft, auf der Straße, in den Parks, in den Wohnvierteln, in den Geschäften, in den Kirchen, ja selbst in Schulen und Universitäten. Es gab sogar einige, die nicht einmal sich selbst mehr trauen konnten. Missvertrauen, das zum Verhängnis wurde.
Am 22. 9. 2012 sichteten die Radarschirme der US-Armee feindliche Geschosse: Atombomben. Der Präsident musste handeln und drückte ohne zu zögern den roten Knopf. Damit war die letzte Runde der Erde eingeläutet, die Sonne würde schon bald nicht mehr aufgehen......

Der Mann sah auf, wie von einem Geschichtsaufsatz, und versuchte nicht weiterzudenken. Es war zwecklos. Vergangenheitsfetzen schossen ihm in durch Kopf: Der Tod seines einzigen Sohnes, der bei einem Fliegerangriff sein leben hatte lassen müssen. Der qualvolle Tod seiner Frau, die nach Tagen des Kampfes gegen eine unheilbare Krankheit, teuflische Konsequenz der atomaren Verseuchung, an einem grauen Montagmorgen verstorben war. In seinen Armen hatte sie ihren letzten Atemzug gemacht. Nie, nie, würde er ihren letzten Blick vergessen. Augen voller Hoffnung und zugleich so hoffnungslos, Augen voller Freude und doch gleichzeitig von unglaublicher Trauer geprägt.
Der Mann sah auf und holte einen tiefen Atemzug, der ihm den Tod ein Stückchen näherbrachte. Paradox, aber so erschreckend war.
Woher dieser Hass? Woher dieses Misstrauen?
Seine Gedanken schwirrten nur um dieses Thema.
Wieso hatte sich alles so schnell verändert, zum Bösen gewendet?
Eine traurige Erkenntnis ereilte den Mann. Unverhofft. Keine Antwort auf seine Fragen, nur eine bittere Erkenntnis: Die Menschheit hatte die Erde nicht verdient. Nein, keiner hatte sie verdient, alle hatten sie einen Anteil am jetzigen Zustand . Auch er?
Was hatte er gemacht, um den Frieden der Welt oder wenigstens den in seinem täglichen Leben ein wenig aufrecht zu erhalten? Erneut schweiften seine Gedanken zurück in die Vergangenheit, in seine Vergangenheit, in den Teil, den er lange versucht hatte zu verdrängen, weil er immer die Zukunft hatte denken wollen.
1977 war er als einziges Kind einer Mittelstandsfamilie geboren worden. Wie jedes andere Kind war er in den Kindergarten und danach in die Schule gegangen. Er konnte sich noch genau erinnern, wann er zum ersten Mal zugeschaut hatte. Ein Junge, zwei Jahre älter und dementsprechend größer, hatte seinen Freund auf dem Heimweg verprügelt, einfach so, ohne Angabe von Gründen. Der Mann war nicht eingeschritten, hatte nur stumm zugeschaut und seinen Gerechtigkeitssinn in sich hineingefressen. Ein paar Jahre später war er wieder stumm geblieben. Die Nachricht vom Test einer Atombombe hatte er regungslos hingenommen. Ohne ein Wort. Das hatte sich auch im weiteren Verlauf seines Lebens nicht mehr geändert. Immer wenn ein Wort des Protestes angebracht gewesen war, immer wenn es auf die Courage jedes einzelnen angekommen war, hatte er seinen Mund vernäht und jedes Protestwort im Keim erstickt, wie ein Pestizid das Ungeziefer, obwohl er innerlich pikiert war. Es fehlte einfach, bis heute, die Kraft, der Mut, die Überwindung. Er war nur einer von vielen Epigonen, die das Schweigen, ja sogar das gesamte Verhalten der anderen nachäfften, um nicht aus der Reihe treten zu müssen.
Ja, auch er war schuldig. Alle waren schuldig. Diejenigen, die aktiv an der Apokalypse beteiligt gewesen waren und diejenigen, die geschwiegen, als es auf ihr Wort angekommen war. Ja, er war genauso schuldig wie der größte Kommandeur, der mächtigste Staatspräsident, war genauso angeklagt wie die unüberschaubaren Heere von Soldaten, die plündernd übers Land gezogen waren und für Zerstörung gesorgt hatten. Es war eine schreckliche Erkenntnis und zugleich die nackte, bittere Wahrheit. Sie lachte ihn an und verschwand nicht mehr.
Der Mann ließ seinen Blick ab vom schrecklichen Szenario und kehrte zurück ins Haus, in sein letztes Refugium. Ein Teller stand auf dem einsamen Holztisch in der Zimmermitte. Ein Rest Suppe war noch geblieben. Er hielt den Teller unter den Wasserhahn und trocknete ihn anschließend sorgfältig ab. Dann stellte er ihn zu den anderen in den Schrank und legte sich auf sein Bett, das ihm selben Raum stand. Es knarrte unangenehm, als er sich ausstreckte.
Seine gerade erst aufgetauchten Gedanken überrumpelten ihn wieder, ließen ihn wieder aufschrecken aus seinem Halbschlaf. Und da war sie, die Frage, die er schon immer gefürchtet hatte, die bisher nur in seinem Unterbewusstsein gebrodelt hatte und nun übergeschwappt war. Sie war nicht mehr zu leugnen, steuerte unaufhaltsam auf ihn zu und kämpfte sich durch die letzten apathischen Barrieren:
Wieso hatte Gott überhaupt den Menschen geschaffen, wenn er doch wusste, dass diese sein Werk nicht achteten und rücksichtslos sein Tun wieder zunichte machten? Nein, ein Gott hätte dies nie gewollt, niemand baute etwas auf, um es dann vom bösen Individuum zerstören zu lassen. Gab es vielleicht überhaupt keinen Gott, kein allmächtiges Wesen, das über alles Geschehende wachte? Hatten die scheinbar gelehrten Theologen Jahrhunderte lang in die falsche Richtung geforscht, ohne es zu merken, ohne dass ihnen ihre diffuse Situation klar geworden war. Waren sie Jahrhunderte lang nur ihrem Verlangen nachgegangen, die Schöpfung der Erde einem allmächtigen Wesen, das vom Guten entstammte, zuzuschreiben.
Der Mann spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er schwitzte aus Angst. Wenn Gott nicht existierte, nicht der Schöpfer war, dann hatte etwas anderes die Erde geschaffen, ein Wesen, das es fertig brachte, sein eigenes Werk wieder zu zerstören: Das Böse. Der Teufel. Nur er hatte diese Animosität und Boshaftigkeit, sein Schaffen zu liquidieren. Und wenn dies nicht der Fall war, dann hatte er zumindest den Menschen geschaffen, um den Planeten Erde, das Werk einer verfeindeten Macht, zu zerstören und mir ihr die gesamte Menschheit.
Der Mensch war vom Teufel geschaffen worden? Er sollte das Böse innehaben, ein jeder sollte es in seinem Inneren tragen? Der Mann spürte seine letzten Sekunden und suchte nach einer Antwort, nach einer Antwort, die ihm die Schuld abnahm und alles den Mächten der Finsternis zuschrieb, sie für alles verantwortlich machte und ihn selbst als Opfer, als Spielball der Dämonen darstellte.
Er fand sie nicht. Die Sonne verschwand gerade hinterm Horizont, als sein Herz das letzte Mal schlug. Nur Momente später starb der letzte Mensch und mit ihm die Hoffnung auf ein Wiederkehr des Lebens. Der Kampf war verloren, das Rätsel der Schöpfung blieb ungelöst.
 



 
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