Das erfundene Lagerfeuer

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Du weißt, dass du den Anruf annehmen solltest. Stumm summt dein Handy. Du schaust eine Serie, eine gute – den Pause Knopf drückst du nicht. Trotzdem hörst du nicht mehr zu. Dein Handy summt vor sich hin, auf dem Bildschirm das bekannte Gesicht. Du selbst hast es dir ausgesucht, das Gesicht ihrer Anrufe. Es ist eines der wenigen, die dir noch bleiben. Bald werden sie deine letzte Erinnerung sein.

Der Anruf endet, sie gibt es auf. Erleichtert, doch mitgenommen von einem sonderlich trüben Gefühl richtest du deine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. Du spulst zurück. Die letzten 30 Sekunden der Serie sind wie gelöscht, du erinnerst dich nur an das summende Handy.

Du erinnerst dich an sie. Sie war keine von vielen, vielen die du zu wenig kennst. Sie war anders.

Du schaust auf dein Mobilgerät. Das Display leuchtet auf und ein vertrauter Ton füllt den Raum. Ihr Ton. Du selbst hast ihn dir ausgesucht, den Ton ihrer Nachrichten. Sie schreibt: „Geh‘ bitte ran, es ist wichtig“. „denke ich zumindest“ fügt sie hinzu, während du auf das Display starrst.

Du weißt nicht warum, aber du fühlst dich schlecht. Du schreibst zurück, wenn es wichtig sei, hättest du Zeit für sie. Für sie hast du immer Zeit. Du schreibst ihr, dass du mit Freunden am Lagefeuer sitzt und dich schnell verabschieden müsstest. „Gib mir fünf Minuten“ schreibst du. Du sitzt allein in deinem Zimmer. Die Serie läuft noch immer. Viel zu lange schallen die plötzlich so Irrelevanten Gespräche in dein Ohr. Du denkst nicht an Gespräche, du denkst an sie.

Das weiße Herz in ihrem Namen scheint dir vom Display aus entgegen. Du selbst hast es dir ausgesucht, das Herz in deinen Kontakten. Am Anfang war es noch rot, du erinnerst dich. So naiv war diese Zeit. Schwarz war es zu lange, auch das hast du dir ausgesucht.

Sekunde um Sekunde tropft die Zeit wie Kaffee in einer verkalkten Maschine. Es waren keine fünf Minuten, da bist du dir sicher. Es ist wichtig sagt sie, du fragst dich, ob sie Hilfe braucht, was ihr auf dem Herzen liegt. Ihr Bild häng noch immer an deiner Wand. Nie hast du dich überwunden, es abzuhängen.

Sie ruft dich an. Schnell stehst du auf, gehst in den Flur, um den Anruf anzunehmen. „Hey“, hörst du ihre Stimme. Du gehst, öffnest und schließt ein paar Türen, bevor du schlussendlich zu deinem Platz zurückkehrst und ihr eine halbherzige Antwort präsentierst. Schließlich kommst du gerade vom Lagefeuer. Du stellst dir den Rauchgeruch vor, der an deinem Shirt hängt. Deine Lüge wird erträglicher.

Sie beginnt zu erzählen, du hast ihre Stimme vermisst. Den Gedanken versuchst du zu verdrängen, irgendwo hin, wo er später, in einer dieser einsamen Nächte wieder an die Oberfläche stoßen kann.

Sie spricht von einem Haus, einer Überraschung und wie sie es nicht fassen kann. Sie spricht von Ummeldung, von neuen Freunden und einer Renovierung. Du bist derjenige, der es nicht fassen kann. Sie wird für eine Zeit bei ihrer Tante wohnen, sagt sie, sie haben die Zusage früher bekommen als geplant, sagt sie. Ihre Stimme hat einen fragenden Ton, du sagst nichts. Sie weiß nicht, ob es dich interessiert, meint sie. Es gibt nichts, was dich mehr interessiert. „Klar, ich freue mich für dich“ würgst du hervor.

Sie erzählt von ihren Freunden, wie süß sie sich verabschiedet haben. Sie bedauert, dass sie es nicht früher wusste. Du bedauerst, dass du den Anruf angenommen hast. Du stellst dir vor, wie es wäre, wenn sie einfach weggezogen wäre. Ohne dich anzurufen, ohne dir bescheid zu sagen. Du stellst dir die Fragen in der ersten, die Erkenntnis in der zweiten und den Schmerz in den Wochen darauf vor. Nichts davon ist real, nicht so.

Sie sagt, dass sie viele nie wieder sehen wird. Sie ist schlecht mit Leuten, sagt sie. Still wunderst du dich, ob du einer dieser Leute bist. Bist du einer von vielen?

„Versprich mir, dass wir uns noch einmal sehen“ forderst du. „In Zehn oder 20 Jahren oder so, Hauptsache einmal“ wünscht du dir. Sie lacht. Du stellst dir ihr Lächeln vor, ihre Haare, die seit noch nicht allzu lange viel kürzer sind, als du sie dir wünschen würdest.

„Das kann Ich nicht versprechen“, sagt sie. „Nein?“ fragst du. „Was wenn Ich das nicht möchte?“, meint sie. Etwas in dir bricht. Ist das der Moment, der ihre Fassade bröckeln lässt. Ist es das, was sie wirklich möchte? Dich nie wieder zu sehen? „Das ist frech“ stellst du lachend fest. Dir ist nicht nach Lachen zumute.

Sie meint, dass sie es einfach nicht versprechen möchte. Versprechen werden gebrochen, sagt sie. Innerlich nickst du. Damals hattest du ihr auch etwas versprochen. Jemand anderes hatte dich verlassen, in ihr fandest du deinen Trost. Es war falsch, das weißt du heute. Ob sie dir jemals verziehen hat?

Sie möchte dich nicht weiter aufhalten, du sollst deine Freunde nicht warten lassen. Du verfluchst deine Lüge. Es gibt kein Lagerfeuer, keine Freunde. Nur dich, den Bildschirm und diese verfluchte Serie, von der mittlerweile nur noch der Abspann zu sehen ist.

Du verfluchst dein Leben. Sie verabschiedet sich. „Du?“ fragst du. „Ja?“. Für einen kurzen Moment hörst du die Kerze auf deinem Fensterbrett flackern. Als du dich umdrehst, hat sie der Wind bereits erlöschen lassen. „Ach nichts… Schlaf gut“. du lächelst und drückst sie weg.

Lächelnd nimmst du dir Papier und Stift. Du schreibst alles, was du nie sagen konntest. Alles, was du nie sagen wolltest. Alles, was dieses Etwas zwischen Dir und Ihr hätte verändern können. Alles, was sie wahrscheinlich sowieso schon wusste. Alles schreibst du und schließt mit „Ich liebe dich“. Du bist ein Idiot, denkst du zu dir selbst. Du hast wahrscheinlich recht.

Die Kerze vom Fensterbrett ist noch warm, als du sie wieder anzündest und deinen Brief langsam zusammenrollst. Das Papier ist rau, rau wie die Geschichte, die du mit schwarzer Tinte darauf geschrieben hast. Nichts davon ist wahr. Zumindest wünschst du dir das.

Die Kerze flackert auf, als du die Rolle langsam, aber sicher der Flamme überlässt. Du schließt ab, oder wünscht dir abzuschließen. Du weißt es nicht, so vieles scheint surreal in dieser Nacht. Du schmunzelst bei dem Gedanken, dass ein Zünglein deiner Lagefeuergeschichte am Ende doch wahrgeworden ist.

Du beobachtest den Rauch, wie er langsam in den Nachthimmel steigt. Wie oft hast du hier gestanden, mit Blick in den Himmel und dachtest an sie, deinen kleinen Stern.

Du erinnerst dich an sie. Sie war keine von vielen, vielen die du zu wenig kennst. Sie war anders.

Du weißt, dass du den nächsten Anruf annehmen sollest.

Dein Gefühl sagt dir, dass es der letzte war.

Eine Träne erstickt die Flamme.
 



 
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