fossie
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Dass er anders war, wusste er schon lange. Irgendwann interessierte es ihn auch nicht mehr, was sie über ihn dachten. Ihre Blicke verrieten es ihm regelmäßig, wechselten von verächtlich bis spöttisch. Die Wenigsten zeigten Verständnis. Seine Verhaltensweisen fielen auf, aber er wollte sich trotzig so geben, wie er immer sein wollte – bereits damals als Kind. Wenn er zurückdachte, seit wann es so war, hatte er keine Antwort darauf. Bekam ich so etwas in die Wiege gelegt oder war es vielleicht eine Krankheit, die nicht heilbar ist, fragte er sich. Es war ihm irgendwann gleichgültig geworden.
Er erinnerte sich: In dieser Zeit spielte er lieber mit gleichaltrigen Mädchen, denn bis zu einem bestimmten Alter ist man weder Fisch noch Fleisch. Rein äußerlich unterschied er sich damals kaum von ihnen, seine langen blonden Haare waren schon immer sein ganzer Stolz. Wollte seine Mutter mit ihm zum Frisör, kam es für ihn einer Katastrophe gleich. Sie einigten sich dann auf eine Kürzung um höchstens einen Zentimeter.
Sein Gesicht erschien sehr weichgezeichnet und seine Körperstatur war kleiner und schwächlicher als bei den meisten männlichen Altersgenossen. Das führte dazu, dass man sich vor allem in der Schule regelmäßig lustig über ihn machte und hinterher rollten bittere Tränen über seine Wangen. Er hasste den Sportunterricht und seine Noten bildeten den Beweis dafür.
Dann folgte die Pubertät, die ihn brutal und ohne, dass er es eigentlich wollte, in sein zukünftiges männliches Leben zurückwarf. Während andere Jugendliche stolz feststellten, dass ihnen endlich zaghaft Barthaare im Gesicht wuchsen und sie damit dem weiblichen Geschlecht gegenüber damit prahlen konnten, sorgte das bei ihm nur für weitere Frustration. „Lass dir endlich deine langen Haare schneiden“, drängten ihn die Eltern unnachgiebig, „sonst hält man dich noch für schwul.“
Und er selbst? Er fühlte sich nicht schwul, das wusste er ganz genau. Jemals mit einem Mann etwas anzufangen, wäre für ihn der Horror gewesen, igitt! Die Haare blieben weiterhin sein ganzer Stolz. Betrachtete er sich aber im Spiegel, kamen ihm Zweifel, auf welche Seite er tatsächlich gehören würde. Innerlich zerrissen ging er damit durchs Leben. Einerseits wollte er dazugehören, fühlte sich als Jugendlicher an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Andererseits … er schien fraglos überfordert damit.
Sein Äußeres sprach Bände, hatte jedoch auch den Vorteil, dass er sich etwas Jungenhaftes bewahren konnte. Vom Verhalten her gab er sich krampfhaft männlich, spätestens jedoch, wenn es ums Handwerkliche ging, war es vorbei. Da traute er sich zu wenig zu.
Als junger Erwachsener war es zu seinem Traum geworden, endlich eine Frau kennenzulernen, er redete sich ein, er müsse dazugehören, sich keine Blöße geben. Aber war er ehrlich zu sich selbst? Gut, er hatte dann tatsächlich zwei Ehen hinter sich gebracht. Aber die waren krachend gescheitert. Warum? Da war diese allgegenwärtige, immer stärker in ihm drängende „Neigung“, wie es seine erste Ehefrau nannte, als sie ihn dabei ertappt hatte. Er schämte sich, denn - war es denn abartig, war es gar pervers, wie er da so vor ihr stand? Sie rannte in jenem Moment davon, in ein anderes Zimmer, sperrte sich ein. Lautes Schluchzen war zu hören. Er stand vor ihrer Tür, hilflos und zitternd, unfähig, nur ein Wort zu sagen. Dennoch war ihm in diesem Moment klar: Nur wenige Mitmenschen brachten Verständnis auf, aber sie gehörte nicht dazu. Hinterher drohte sie, ihn zu verlassen, wenn er sich nicht sofort von einem Psychologen behandeln ließe.
Schweren Herzens begab er sich in entsprechende therapeutische Behandlung, vielleicht hatte sie ja recht, dass es eine Krankheit sei, die man auf Dauer heilen könne. Immerhin erfuhr er dort, dass man auch damit leben könne, wenn man sich in der Ehe arrangieren würde. Das versuchten Beide – aber es scheiterte einfach. Irgendwann ließen sie sich scheiden.
Seine zweite Ehe war ein Spiegel dessen, was er vorher erlebt hatte. Auch die ging wegen fehlender Toleranz zugrunde. Aber wollte er das alles überhaupt noch?
Er war neugierig auf sein zweites Ich geworden, wollte sich völlig neu kennenlernen, es führte bei ihm sogar zu einer neuen Körperlichkeit. Und so verriet er niemandem sein Geheimnis, brauchte sich dadurch keine Rechenschaft sich selbst gegenüber ablegen. Was für ein wunderschönes Gefühl war das plötzlich. Vor allem, wenn er die Rolle tauschte, und es war nichts Anderes als ein Rollenspiel, steigerte es doch endlich sein Selbstwertgefühl ins Unermessliche und führte ihn hin zum Glück. Eines Tages würde er es ihnen zeigen, wer er wirklich war. Dann, ja dann könnte er endlich zu dem stehen, was schon immer in ihm existiert hatte. Diese innere Befreiung ließ ihn tief durchatmen. Dennoch, den letzten radikalen Schritt in diese bestimmte Richtung würde er sich vorerst aufsparen. Da müsste er vorher mit sich ins Reine kommen. Außerdem hatte er ziemliche Angst, wenn er daran dachte, was damit auf ihn zukommen könnte. Er hatte sich ausgiebig informiert, las Fachzeitschriften, recherchierte im Internet. Ein gravierender Eingriff in den Körper mit möglicherweise nicht zu verachtenden Komplikationen. Andererseits, je früher man es über sich ergehen lassen würde, desto besser wären die Erfolgsaussichten, hinterher gesund zu bleiben und endlich das Leben führen zu können, das man immer heimlich herbeigesehnt hätte.
Außerdem war es ein Selbstfindungsprozess. Der hatte sich bis jetzt lange hingezogen, Depressionen hatten sich nicht selten dazu gesellt und für einen Schwebezustand gesorgt, der ihn ab und an verzweifeln ließ. Dann verstärkt unsanfte Landungen in der Realität, weil er das Innere nach außen kehren wollte, ungefähr wie man einen Mantel auf links drehen würde, es aber nicht konnte. Der innere Kampf, sich endlich in einem anderen und richtigen Erscheinungsbild zu präsentieren, Neuland zu betreten, wurde zu einem übermächtig wachsenden Bedürfnis. In ihm schlummerte die zweite Person, die massiv ihr Recht forderte und ihn an den Rand der Persönlichkeitsspaltung brachte. Vor seinem geistigen Auge sah er sie, wie sie mit angezogenen Knien und nackt irgendwo am Boden seines Körpers saß und manchmal hemmungslos weinte. Und als er sie hörte, musste er schluchzend mit einstimmen. Es war zur Hölle geworden, für ihn und für sie. „Es muss, es muss, es muss sein - ich kann es nicht mehr länger wegsperren“, schrie er manches Mal verzweifelt daheim.
Es musste endlich etwas geschehen, zumindest äußerlich. Er würde vorsichtig agieren, am besten zuerst an einem Montagabend nach Einbruch der Dämmerung. Andere, die er über ein Internet-Forum mit Gleichgesinnten kennengelernt hatte, erzählten, wie glücklich sie hinterher waren und dass sie dieses geile Gefühl ab jetzt nie mehr missen wollten. In der Nacht wäre es für einen Anfänger wie ihn ideal, da würde er weniger auffallen.
Am frühen Nachmittag begann er eines Tages mit der Vorbereitung, denn es würde Zeit in Anspruch nehmen, da machte er sich nichts vor. Seine Erscheinung sollte gepflegt und keinesfalls schrill wirken. Nur nicht auffallend, durchschnittlich eben. Er würde sich Mühe geben und wenn man im Vorbeigehen in der Dunkelheit nicht direkt in sein Gesicht sähe, könnte es klappen.
Als Erstes stieg er in die Badewanne und versuchte, für sich die nötige Entspannung zu erreichen. Denn relaxed musste er sein, das war unbedingte Voraussetzung.
Es verwendete ein dezentes Parfüm, sollte es am Hals brennen und rote Flecken nach sich ziehen, würde er das schon mit Puder in den Griff bekommen. Ein Parfüm konnte man zudem unauffällig an dezenten Stellen des Körpers platzieren.
Es folgte die Wahl der angemessenen Kleidung, ein Thema für sich. Er ging äußerst selbstkritisch vor. Sollte daran nur das geringste Detail unangenehm auffallen, konnte er das Ganze gleich in die Tonne treten. Sein Kleiderschrank verfügte Gott sei Dank über einen großen Spiegel, was die Sache ungemein erleichterte und den Zeitaufwand reduzierte. Routiniert kontrollierte er sein Aussehen von allen Seiten. Ja, das sah nicht schlecht aus.
Jetzt blieb nur noch sein Kopf. Da halfen zwar nur künstliche Haare, aber Hairstyling auch auf diese Art wollte gelernt sein und er hatte deshalb oft vor dem Badspiegel geübt, sodass es ihm immer leichter von der Hand ging. Das Ergebnis fiel seiner Meinung nach sehr zufriedenstellend aus. Ohne fremde Hilfe von einer Friseurin hatte er es hinbekommen, das sollte ihm erstmal einer nachmachen. Ich könnte mich glatt in dich verlieben, sagte er zu seinem Gegenüber im Spiegel.
Aber der Schritt zur Vollendung sollte erst noch folgen, als er sich sein Gesicht vornahm. Das sollte von der Pflicht zur Kür werden. Zwar würde es länger dauern, aber die Zeit musste sich lohnen, sonst war alles umsonst. Das war der wichtigste Faktor für seinen Auftritt in der Öffentlichkeit. Da musste Filigranarbeit wie bei einem winzigen Uhrwerk geleistet werden – eine Herausforderung. Selbstredend hatte er zuvor oft geübt, machte jede Menge Selfies von sich. Er zeigte sie auch im Internet-Forum herum, wofür er viele Smilies erntete und aufmunternde Worte. Aber jetzt war Schluss mit lustig, der entscheidende Moment sollte unaufhaltsam näher rücken.
Doch was war das? Je länger er vor dem Spiegel stand, desto mehr begann er zu zittern, die ruhige Hand, die er für sein Gesicht so nötig brauchte, versagte ihm den Dienst. Lampenfieber für sein Vorhaben stellte sich ein. In seiner Polyester-Kleidung begann er auch noch langsam zu schwitzen. „So ein verdammter Mist, das kann ich absolut nicht gebrauchen“, stöhnte er. Was tun? Er griff nach dem Deo und pumpte sich einen eiskalten Schwall unter beide Achselhöhlen. Das verschaffte ihm merkliche Erleichterung und senkte seine Körpertemperatur auf ein verträgliches Maß.
Er schnaufte tief durch, als er sich endlich beruhigt hatte. Lass dir Zeit, sagte er sich. Eigentlich hätte er jetzt einen Schnaps vertragen können, aber gleich mit Alkoholfahne unterwegs - ein NoGo!
Jetzt die Krönung des Ganzen, passende Schuhe. Da besaß er eine große Auswahl und hatte sich schon am Vorabend nach zwei Stunden endlosen Anprobierens das richtige Paar ausgesucht. Sie drückten zwar etwas und waren relativ eng, aber sahen wahnsinnig elegant aus.
Der Blick in den Spiegel verriet ihm, dass er seiner Wunschvorstellung erstaunlich nahegekommen war. Er zupfte sich noch die Haare zurecht und dann passte es.
Endlich würde er sich überwinden, nach langem Kampf mit sich selbst. „Hütchen, Schühchen, Täschchen passend …“, hieß es in dem Lied. Jedes noch so winzige Detail stimmte, darin war er Perfektionist. Den Anderen würde jede Unstimmigkeit sofort auffallen. Im Geiste stellte er sich ihren heimlichen Spott vor, den er im Vorübergehen ernten würde. Hinter seinem Rücken würden sie garantiert den Kopf schütteln. Aber das sollte ihm egal sein. Er musste sein Ding durchziehen – hier und jetzt.
Der Zeitaufwand hatte sich gelohnt, das Ergebnis war perfekt. Tipps holte er sich aus dem Internet, wie er für sein Vorhaben „Hand an sich legen konnte“, wie er scherzhaft zu sich meinte. Erfahrungsberichte und Selfies von Gleichgesinnten stärkten seinen Mut, es ihnen gleich zu tun.
Aber Eines hatten sie gemeinsam, nämlich Herzklopfen und Lampenfieber am Anfang ihres Outings, eben so wie er jetzt. Es war ein Ausprobieren, eine Weichenstellung für die Zukunft, die ihm Hoffnung auf innerliche Befreiung versprach. Was Andere über ihn denken würden, verdrängte er. Ein Augenblick des Glücks war viel wahrscheinlicher. Er musste an ihre „Genormten Gehirne“ denken, unfähig, sich aus dem Hamsterrad der Gewohnheiten zu befreien, jemals sie selbst zu sein. Nur er würde das schaffen, darauf war er stolz.
Ein vorsichtiges Grinsen huschte über sein Gesicht, als ihm dieser Gedanke kam. Nein, er wollte nicht zu ihnen gehören, nie und nimmer.
Dennoch trübte sich seine Stimmung kurz ein, als er daran dachte, wenn ihn jemand wegen seines Andersseins ansprechen und ihn sogar beschimpfen könnte. Bleib cool, redete er sich ein, während er im Flur der Wohnung zwanzig Mal auf und ab tigerte. „Hey, mach mich nicht an“ oder „Lass mich gefälligst in Ruhe, Alter“, würde er mutig zu ihnen sagen, auch wenn sie ihn mit „schwul“, „abartig“ oder „pervers“ beschimpfen würden.
Egal, der Abend und die anschließende Nacht, würden ihm gehören und er würde es ausleben.
Er hatte die Türklinke in der Hand, als sich wiederum ein neuer Zweifel einschlich. Was mache ich da, ich muss verrückt sein, flüsterte er. Er setzte sich ächzend auf den Stuhl in der Diele und versuchte, an nichts zu denken, den Kopf leer zu kriegen und sich zu entspannen. Er zählte bis zwanzig, dann, nach einigen Minuten hatte er sich beruhigt. Entschlossen stand er auf, zog die enge Lederjacke an und ging nach draußen.
Als er auf dem Gehsteig vorm Haus stand, wusste er: Es würde definitiv das erste Mal sein, dass er in Frauenkleidung in der Öffentlichkeit unterwegs wäre und niemand könne ihn davon mehr abhalten. Er hatte eine Bühne betreten, die alleine ihm gehören sollte. Oh, wie schön ist Panama!
Er erinnerte sich: In dieser Zeit spielte er lieber mit gleichaltrigen Mädchen, denn bis zu einem bestimmten Alter ist man weder Fisch noch Fleisch. Rein äußerlich unterschied er sich damals kaum von ihnen, seine langen blonden Haare waren schon immer sein ganzer Stolz. Wollte seine Mutter mit ihm zum Frisör, kam es für ihn einer Katastrophe gleich. Sie einigten sich dann auf eine Kürzung um höchstens einen Zentimeter.
Sein Gesicht erschien sehr weichgezeichnet und seine Körperstatur war kleiner und schwächlicher als bei den meisten männlichen Altersgenossen. Das führte dazu, dass man sich vor allem in der Schule regelmäßig lustig über ihn machte und hinterher rollten bittere Tränen über seine Wangen. Er hasste den Sportunterricht und seine Noten bildeten den Beweis dafür.
Dann folgte die Pubertät, die ihn brutal und ohne, dass er es eigentlich wollte, in sein zukünftiges männliches Leben zurückwarf. Während andere Jugendliche stolz feststellten, dass ihnen endlich zaghaft Barthaare im Gesicht wuchsen und sie damit dem weiblichen Geschlecht gegenüber damit prahlen konnten, sorgte das bei ihm nur für weitere Frustration. „Lass dir endlich deine langen Haare schneiden“, drängten ihn die Eltern unnachgiebig, „sonst hält man dich noch für schwul.“
Und er selbst? Er fühlte sich nicht schwul, das wusste er ganz genau. Jemals mit einem Mann etwas anzufangen, wäre für ihn der Horror gewesen, igitt! Die Haare blieben weiterhin sein ganzer Stolz. Betrachtete er sich aber im Spiegel, kamen ihm Zweifel, auf welche Seite er tatsächlich gehören würde. Innerlich zerrissen ging er damit durchs Leben. Einerseits wollte er dazugehören, fühlte sich als Jugendlicher an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Andererseits … er schien fraglos überfordert damit.
Sein Äußeres sprach Bände, hatte jedoch auch den Vorteil, dass er sich etwas Jungenhaftes bewahren konnte. Vom Verhalten her gab er sich krampfhaft männlich, spätestens jedoch, wenn es ums Handwerkliche ging, war es vorbei. Da traute er sich zu wenig zu.
Als junger Erwachsener war es zu seinem Traum geworden, endlich eine Frau kennenzulernen, er redete sich ein, er müsse dazugehören, sich keine Blöße geben. Aber war er ehrlich zu sich selbst? Gut, er hatte dann tatsächlich zwei Ehen hinter sich gebracht. Aber die waren krachend gescheitert. Warum? Da war diese allgegenwärtige, immer stärker in ihm drängende „Neigung“, wie es seine erste Ehefrau nannte, als sie ihn dabei ertappt hatte. Er schämte sich, denn - war es denn abartig, war es gar pervers, wie er da so vor ihr stand? Sie rannte in jenem Moment davon, in ein anderes Zimmer, sperrte sich ein. Lautes Schluchzen war zu hören. Er stand vor ihrer Tür, hilflos und zitternd, unfähig, nur ein Wort zu sagen. Dennoch war ihm in diesem Moment klar: Nur wenige Mitmenschen brachten Verständnis auf, aber sie gehörte nicht dazu. Hinterher drohte sie, ihn zu verlassen, wenn er sich nicht sofort von einem Psychologen behandeln ließe.
Schweren Herzens begab er sich in entsprechende therapeutische Behandlung, vielleicht hatte sie ja recht, dass es eine Krankheit sei, die man auf Dauer heilen könne. Immerhin erfuhr er dort, dass man auch damit leben könne, wenn man sich in der Ehe arrangieren würde. Das versuchten Beide – aber es scheiterte einfach. Irgendwann ließen sie sich scheiden.
Seine zweite Ehe war ein Spiegel dessen, was er vorher erlebt hatte. Auch die ging wegen fehlender Toleranz zugrunde. Aber wollte er das alles überhaupt noch?
Er war neugierig auf sein zweites Ich geworden, wollte sich völlig neu kennenlernen, es führte bei ihm sogar zu einer neuen Körperlichkeit. Und so verriet er niemandem sein Geheimnis, brauchte sich dadurch keine Rechenschaft sich selbst gegenüber ablegen. Was für ein wunderschönes Gefühl war das plötzlich. Vor allem, wenn er die Rolle tauschte, und es war nichts Anderes als ein Rollenspiel, steigerte es doch endlich sein Selbstwertgefühl ins Unermessliche und führte ihn hin zum Glück. Eines Tages würde er es ihnen zeigen, wer er wirklich war. Dann, ja dann könnte er endlich zu dem stehen, was schon immer in ihm existiert hatte. Diese innere Befreiung ließ ihn tief durchatmen. Dennoch, den letzten radikalen Schritt in diese bestimmte Richtung würde er sich vorerst aufsparen. Da müsste er vorher mit sich ins Reine kommen. Außerdem hatte er ziemliche Angst, wenn er daran dachte, was damit auf ihn zukommen könnte. Er hatte sich ausgiebig informiert, las Fachzeitschriften, recherchierte im Internet. Ein gravierender Eingriff in den Körper mit möglicherweise nicht zu verachtenden Komplikationen. Andererseits, je früher man es über sich ergehen lassen würde, desto besser wären die Erfolgsaussichten, hinterher gesund zu bleiben und endlich das Leben führen zu können, das man immer heimlich herbeigesehnt hätte.
Außerdem war es ein Selbstfindungsprozess. Der hatte sich bis jetzt lange hingezogen, Depressionen hatten sich nicht selten dazu gesellt und für einen Schwebezustand gesorgt, der ihn ab und an verzweifeln ließ. Dann verstärkt unsanfte Landungen in der Realität, weil er das Innere nach außen kehren wollte, ungefähr wie man einen Mantel auf links drehen würde, es aber nicht konnte. Der innere Kampf, sich endlich in einem anderen und richtigen Erscheinungsbild zu präsentieren, Neuland zu betreten, wurde zu einem übermächtig wachsenden Bedürfnis. In ihm schlummerte die zweite Person, die massiv ihr Recht forderte und ihn an den Rand der Persönlichkeitsspaltung brachte. Vor seinem geistigen Auge sah er sie, wie sie mit angezogenen Knien und nackt irgendwo am Boden seines Körpers saß und manchmal hemmungslos weinte. Und als er sie hörte, musste er schluchzend mit einstimmen. Es war zur Hölle geworden, für ihn und für sie. „Es muss, es muss, es muss sein - ich kann es nicht mehr länger wegsperren“, schrie er manches Mal verzweifelt daheim.
Es musste endlich etwas geschehen, zumindest äußerlich. Er würde vorsichtig agieren, am besten zuerst an einem Montagabend nach Einbruch der Dämmerung. Andere, die er über ein Internet-Forum mit Gleichgesinnten kennengelernt hatte, erzählten, wie glücklich sie hinterher waren und dass sie dieses geile Gefühl ab jetzt nie mehr missen wollten. In der Nacht wäre es für einen Anfänger wie ihn ideal, da würde er weniger auffallen.
Am frühen Nachmittag begann er eines Tages mit der Vorbereitung, denn es würde Zeit in Anspruch nehmen, da machte er sich nichts vor. Seine Erscheinung sollte gepflegt und keinesfalls schrill wirken. Nur nicht auffallend, durchschnittlich eben. Er würde sich Mühe geben und wenn man im Vorbeigehen in der Dunkelheit nicht direkt in sein Gesicht sähe, könnte es klappen.
Als Erstes stieg er in die Badewanne und versuchte, für sich die nötige Entspannung zu erreichen. Denn relaxed musste er sein, das war unbedingte Voraussetzung.
Es verwendete ein dezentes Parfüm, sollte es am Hals brennen und rote Flecken nach sich ziehen, würde er das schon mit Puder in den Griff bekommen. Ein Parfüm konnte man zudem unauffällig an dezenten Stellen des Körpers platzieren.
Es folgte die Wahl der angemessenen Kleidung, ein Thema für sich. Er ging äußerst selbstkritisch vor. Sollte daran nur das geringste Detail unangenehm auffallen, konnte er das Ganze gleich in die Tonne treten. Sein Kleiderschrank verfügte Gott sei Dank über einen großen Spiegel, was die Sache ungemein erleichterte und den Zeitaufwand reduzierte. Routiniert kontrollierte er sein Aussehen von allen Seiten. Ja, das sah nicht schlecht aus.
Jetzt blieb nur noch sein Kopf. Da halfen zwar nur künstliche Haare, aber Hairstyling auch auf diese Art wollte gelernt sein und er hatte deshalb oft vor dem Badspiegel geübt, sodass es ihm immer leichter von der Hand ging. Das Ergebnis fiel seiner Meinung nach sehr zufriedenstellend aus. Ohne fremde Hilfe von einer Friseurin hatte er es hinbekommen, das sollte ihm erstmal einer nachmachen. Ich könnte mich glatt in dich verlieben, sagte er zu seinem Gegenüber im Spiegel.
Aber der Schritt zur Vollendung sollte erst noch folgen, als er sich sein Gesicht vornahm. Das sollte von der Pflicht zur Kür werden. Zwar würde es länger dauern, aber die Zeit musste sich lohnen, sonst war alles umsonst. Das war der wichtigste Faktor für seinen Auftritt in der Öffentlichkeit. Da musste Filigranarbeit wie bei einem winzigen Uhrwerk geleistet werden – eine Herausforderung. Selbstredend hatte er zuvor oft geübt, machte jede Menge Selfies von sich. Er zeigte sie auch im Internet-Forum herum, wofür er viele Smilies erntete und aufmunternde Worte. Aber jetzt war Schluss mit lustig, der entscheidende Moment sollte unaufhaltsam näher rücken.
Doch was war das? Je länger er vor dem Spiegel stand, desto mehr begann er zu zittern, die ruhige Hand, die er für sein Gesicht so nötig brauchte, versagte ihm den Dienst. Lampenfieber für sein Vorhaben stellte sich ein. In seiner Polyester-Kleidung begann er auch noch langsam zu schwitzen. „So ein verdammter Mist, das kann ich absolut nicht gebrauchen“, stöhnte er. Was tun? Er griff nach dem Deo und pumpte sich einen eiskalten Schwall unter beide Achselhöhlen. Das verschaffte ihm merkliche Erleichterung und senkte seine Körpertemperatur auf ein verträgliches Maß.
Er schnaufte tief durch, als er sich endlich beruhigt hatte. Lass dir Zeit, sagte er sich. Eigentlich hätte er jetzt einen Schnaps vertragen können, aber gleich mit Alkoholfahne unterwegs - ein NoGo!
Jetzt die Krönung des Ganzen, passende Schuhe. Da besaß er eine große Auswahl und hatte sich schon am Vorabend nach zwei Stunden endlosen Anprobierens das richtige Paar ausgesucht. Sie drückten zwar etwas und waren relativ eng, aber sahen wahnsinnig elegant aus.
Der Blick in den Spiegel verriet ihm, dass er seiner Wunschvorstellung erstaunlich nahegekommen war. Er zupfte sich noch die Haare zurecht und dann passte es.
Endlich würde er sich überwinden, nach langem Kampf mit sich selbst. „Hütchen, Schühchen, Täschchen passend …“, hieß es in dem Lied. Jedes noch so winzige Detail stimmte, darin war er Perfektionist. Den Anderen würde jede Unstimmigkeit sofort auffallen. Im Geiste stellte er sich ihren heimlichen Spott vor, den er im Vorübergehen ernten würde. Hinter seinem Rücken würden sie garantiert den Kopf schütteln. Aber das sollte ihm egal sein. Er musste sein Ding durchziehen – hier und jetzt.
Der Zeitaufwand hatte sich gelohnt, das Ergebnis war perfekt. Tipps holte er sich aus dem Internet, wie er für sein Vorhaben „Hand an sich legen konnte“, wie er scherzhaft zu sich meinte. Erfahrungsberichte und Selfies von Gleichgesinnten stärkten seinen Mut, es ihnen gleich zu tun.
Aber Eines hatten sie gemeinsam, nämlich Herzklopfen und Lampenfieber am Anfang ihres Outings, eben so wie er jetzt. Es war ein Ausprobieren, eine Weichenstellung für die Zukunft, die ihm Hoffnung auf innerliche Befreiung versprach. Was Andere über ihn denken würden, verdrängte er. Ein Augenblick des Glücks war viel wahrscheinlicher. Er musste an ihre „Genormten Gehirne“ denken, unfähig, sich aus dem Hamsterrad der Gewohnheiten zu befreien, jemals sie selbst zu sein. Nur er würde das schaffen, darauf war er stolz.
Ein vorsichtiges Grinsen huschte über sein Gesicht, als ihm dieser Gedanke kam. Nein, er wollte nicht zu ihnen gehören, nie und nimmer.
Dennoch trübte sich seine Stimmung kurz ein, als er daran dachte, wenn ihn jemand wegen seines Andersseins ansprechen und ihn sogar beschimpfen könnte. Bleib cool, redete er sich ein, während er im Flur der Wohnung zwanzig Mal auf und ab tigerte. „Hey, mach mich nicht an“ oder „Lass mich gefälligst in Ruhe, Alter“, würde er mutig zu ihnen sagen, auch wenn sie ihn mit „schwul“, „abartig“ oder „pervers“ beschimpfen würden.
Egal, der Abend und die anschließende Nacht, würden ihm gehören und er würde es ausleben.
Er hatte die Türklinke in der Hand, als sich wiederum ein neuer Zweifel einschlich. Was mache ich da, ich muss verrückt sein, flüsterte er. Er setzte sich ächzend auf den Stuhl in der Diele und versuchte, an nichts zu denken, den Kopf leer zu kriegen und sich zu entspannen. Er zählte bis zwanzig, dann, nach einigen Minuten hatte er sich beruhigt. Entschlossen stand er auf, zog die enge Lederjacke an und ging nach draußen.
Als er auf dem Gehsteig vorm Haus stand, wusste er: Es würde definitiv das erste Mal sein, dass er in Frauenkleidung in der Öffentlichkeit unterwegs wäre und niemand könne ihn davon mehr abhalten. Er hatte eine Bühne betreten, die alleine ihm gehören sollte. Oh, wie schön ist Panama!