Das Fest der heiligen Helene

Belial

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Da mein Chauffeur mich mit der Aufmunterung zurückließ, die rustikale Ländlichkeit des oberen Südtirols zu erkunden, und versprach, alsbald mit einem geeigneten Ersatzrad zurückzukehren, blieb mir nichts weiter über als eine Bleibe in dem nahegelegenen Posthotel zu suchen. Da in diesen schönen Winkeln unseres Landes nicht nur fehlender Akzent, sondern auch Kleidungsstil mich umgehend als Fremden zu erkennen gab, vermochte ich an der Rezeption nicht den touristischen Fallen zu entgehen. So bezog ich zwar ein überteuertes Zimmer, mit immerhin fließend Wasser und Ofen, konnte dem überaus zudringlichen Besitzer des Hotels jedoch nicht abschlagen, gegen Entgelt noch eine kleine Mahlzeit in der bereits zur Ruhe gekommenen Gaststätte zu mir zu nehmen. Über die hiesige Küche sei gesagt, dass sie vornehmlich zu munden neigt. Vor allem die Nachspeisen, allen voran die Mehlspeisen, nehmen einen besonderen Platz ein. Als ich zu fragen wagte, welch köstliche Frucht mir diese unerwarteten Gaumenfreuden eines frugalen Mahles bescherte, wich die sonst übliche Reserviertheit gegenüber Städtern aus dem Gebaren meines Gastgebers und mir wurde in überschwänglichen Worten von der Pala Birne berichtet. Ob es Schicksal oder Glück war, vermag ich heute nicht mehr zu sagen, jedenfalls folgte alsbald eine Einladung zu der morgen stattfindenden heiligen Messe zu Ehren der heiligen Helene, dereinst Führsprecherin dieser holden Frucht und heute Schutzpatronin über diesen güldenen Flecken Erde. Sodann hieß es für mich, nach einem deliziösen Digestivum, das Bett aufzusuchen, um früh morgens der Einladung nachkommen zu können.

Ich war immer voll der Bewunderung über das strebsame, ländliche Leben, so auch an diesem Morgen, als ich feststellen musste, um halb sechs morgens bereits zu den Spätaufstehern zu gehören. Die gestern noch verwaist wirkende Gaststube war nun Zentrum des dörflichen Patriachats. Lediglich dem Umstand, im feudalen Venedig einem Dinner beigewohnt zu haben, verdanke ich, zu diesem von mir unterschätzen Festakt nicht unpassend gekleidet erschienen zu sein. Obgleich natürlich meine Aufmachung nicht mit der trachtenreichen Garderobe der ansässigen Bevölkerung zu vergleichen ist. Auf meine Frage, ob es denn schon Frühstück gäbe, wurde ich sogleich belehrt, dass zu solch hohen Feiertagen die Ehrung der heiligen Helene sowie der Segen unseres Herren wichtiger sei. Weiters wurde, wie mir später durch den Wirten übersetz wurde, das Fehlen eines geeigneten Ansteckstraußes an meinem Hut festgestellt. Mir wurde versichert, es sei unmöglich, der Messe beizuwohnen ohne einen ‚Piirnstraißl‘ zu tragen. Mein ohnedies schon exzentrisches Auftreten würde für genug Aufsehen sorgen; dass sich Städter nicht zu kleiden wissen sei allgemein bekannt, aber das Fehlen des ‚Piirnstraißl‘ wäre nun doch ein zu großer Eklat, der nicht geduldet würde. Wieder war es der Wirt, der mir aus meiner Misere verhalf und mir, unter allgemeinem Murren, einen solchen Ansteckstrauß zukommen ließ. Wie sich später herausstellen sollte, war es der Piirnstraißl einer seiner verstorbenen Söhne, der „oben geblieben war“, soviel konnte ich der Geschichte des missmutig dreinschauenden Dorflehrers entnehmen, welcher es übernahm, mir die Geschichte hinter diesem Strauß zu erklären.
Allerdings beschlich mich zuweilen der Verdacht, er würde von einem der Birnbäume reden und nicht dem sich majestätisch in der Morgensonne erhebenden Berg.
Über den Piirnstraißl selber ist zu sagen, dass er eine knotige Form hat. Das alte Holz, so wurde mir berichtet, sei vom ersten Birnbaum des Tales, von der heilige Helene mit ihren eigenen Händen gepflanzt. Die drei darum geflochtenen Bänder seien in den Farben des Stadtwappens und sollten demutsvoll an die Heilige Dreifaltigkeit erinnern. Das Wappen der Stadt ist auf ein kleines Messingschild geprägt, welches sich schützend vor die Bänder und das darin verborgene Holz stellt, diese aber nicht vollständig abzudecken vermag.
Als ich dies alles nun in stiller Bewunderung betrachtete, entfiel es meiner Aufmerksamkeit, dass sich die Stube auf ein unsichtbares Zeichen hin zu entleeren schien und alsbald alles zur Kirche hinströmte. Gewahr wurde ich diesem Umstand erst durch das plötzliche und geräuschvolle Einsetzen einer Blasmusikkapelle. Hastig verließ ich nun die Stube, um mich auf einer Gasse wieder zu finden, durch die bereits eine munter spielende Marschkapelle zog, vorbei an geschmückten Fenstern hin zu beflaggten Durchhäusern. Mit der ureigenen Präzision Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte langer Tradition fand jeder Mensch seinen Platz und fügte sich in den festlichen Umzug ein, der dem einer Armee um nichts nachzustehen schien. Da mein geneigter Führer und Gastgeber nicht ausfindig zu machen war, blieb es mir überlassen, einen geeigneten Platz in diesem Umzug zu finden. Da es mir als zutiefst unpassend erschien mit der Kapelle zu marschieren, wartete ich zunächst zu, nicht zuletzt in der Erwartung, in größerer Entfernung dem Klangspiel besser lauschen zu können. Der Kapelle folgte eine Gruppe junger Pimpfe, die zweifelsohne wesentlich jünger als ich waren. Auch diesen wollte ich mich nicht anschließen. Allerdings verursachte mein unschlüssiges Verhalten langsam Aufsehen, sowie die Tatsache, dass ich am Rand des Geschehens stand, ein Privileg, das dem Photographen vorbehalten zu sein schien. Da nun hinter dieser Gruppe junger Burschen eine Schar junger Frauen mit kunstvoll geflochtenen Blumenkränzen in den Haaren folgte, besann ich mich auf eine andere Strategie und umrundete das Wirtshaus eiligen Schrittes. Hier traf ich auf einen anderen Teil des Umzuges. Die einherschreitenden Männer waren eher meines Alters, wenn auch bei weitem nicht so bürgerlich gekleidet, so dass ich mich auf geradewohl neben einen dicklichen Mann mit Glatze und Schnurrbart gesellte, der knapp hinter dem Mann marschierte, der sich im späteren Verlauf als der Bürgermeister entpuppen sollte. Die vor uns gehenden Fahnenträger straften mich zwar mit missbilligenden Blicken, doch war ich das nun an diesem Morgen schon gewohnt. Auch schien es sich zu bewahrheiten, dass meine trachtenferne Garderobe Unwillen auf mich zog. Der Umzug nahm einen verschlungenen Weg durch die Gassen der Stadt, und nicht nur einmal musste die penibel geachtete Viererreihe aufgegeben werden, um durch eine schmale Gasse zu kommen.
Ob die Wahl meines Platzes weise war erschien zunehmend fraglich. Mir wurde langsam gewahr, dass ich nicht wie ursprünglich angenommen ans Ende des Umzuges gekommen war, sondern vielmehr an den Anfang. In den breiteren Gassen erhielt ich einen guten Blick auf die nicht allzu weit vor mir getragenen Kirchenwürden, auch war der altbekannte Geruch von Weihrauch von meiner Position nun gut wahrnehmbar. Jedenfalls schien ich die Ordnung nicht mehr in hohem Maße zu stören, denn auch die missbilligenden Blicke der kuchentragenden Matronen nahmen merklich ab- vielleicht auch nur deshalb, weil ich knapp hinter dem Bürgermeister einherschritt.

Die ersten Sonnenstrahlen tauchten alles in ein sanftes Licht und machten den Ort wohl schöner als er eigentlich war. So wand sich der prächtige Zug durch die engen und durchaus malerischen Gassen, bis er an den Stufen der örtlichen Pfarrkirche Halt machte. Auf ebendiesen Stufen hatte eine ältliche und eher säuerlich dreinblickende Klosterschwester mit beeindruckender Haube die örtliche Kinderschar bereits militärisch akkurat und natürlich nach Geschlecht getrennt aufgereiht. Da standen nun die Knaben mit exakt gescheiteltem Haar, leuchtend weißen Hemden und ebensolchen Strümpfen und kurzen Lederhosen, zwei Schritt davon getrennt die Mädchen in ihren hellblauen Dirndln mit den weißen Schürzen, die langen Haarsträhnen zu sauberen Zöpfen geflochten, geschmückt mit leuchtend blauen Seidenmaschen. Einige von ihnen trugen bunten Blumensträuße in ihren Händen, Wiesenblumen, wie ich erkennen konnte, welche sie mit wacklig unsicherem Hofknicks den örtlichen Honoratioren übergaben, welche diese mit dem ureigenen überlegenen Lächeln des alternden Würdenträgers entgegennahmen. Zwischenzeitlich hatte sich die Klosterschwester zwischen Knaben und Mädchen positioniert und gab nun verhalten ein Zeichen. Was nun folgte war allerliebst: Zwei der Kleinsten, je ein Knabe und ein Mädchen traten vor und begannen mit leicht leiernder singender Stimme eine wohl barocke Ballade vorzutragen, in welcher das Leben, Wirken und das glorreiche Sterben der heiligen Helene besungen wurden. Nach je 4 Strophen setzen die beiden ab und die gesamte Kinderschar stimmte ein kurzes, aber ergreifendes Loblied auf die große Heilige an, wiewohl gar einige den rechten Ton nicht trafen. Als endlich nach vielen Strophen auch die Himmelfahrt und Apotheose der Schutzpatronin feierlich vorgetragen und auch die letzten Töne des Lobgesangs aus Kinderkehlen verklungen waren, hob der Bürgermeister seinen Stab, und wie Mose dereinst die Fluten des Meeres teilte er die Schar der Kinder, die nun rechts und links des Portals ein Spalier bildeten, durch welches wir alsdann in die dämmrige Halle der Dorfkirche schritten, wo ich mir wohlweislich meinen Platz ganz hinten wählte. Auch schienen die folgen Personen einem genauen Plan zu folgen und in eben diesen festlichen Hallen wurde mir, dem bescheidenen Beobachter, die örtliche Hierarchie vorgeführt. In den ersten Reihen nahmen die hohen Ämter wie etwa der Bürgermeister, Arzt und wohl wohlhabendsten Bauern Platz. Ihre Frauen saßen nach guter christlicher Sitte auf der anderen Seite des Mittelganges. Rabauken wurden direkt neben die Väter gesetzt, die Bibel jederzeit griffbereit. Zu meiner Verwunderung nahmen die Matronen mit den Kuchen keinen Platz ein, sondern begnügten sich mit einem Stehplatz nahe dem Eingang. Eine kleine Gruppe Nonnen nahm an den Seiten Aufstellung und überwachte die sich in freudiger Erwartung befindliche Gemeinde mit Argusaugen. Mit dem Eintreten der Ministranten wurde es schlagartig ruhig. Als der geschätzte Hochwürden eintrat, hätte man eine Stecknadel fallen hören, so denke ich. Die nun folgende Messe möchte ich als sehr besonders beschreiben. Da ich denke, dass jedem guten Christenmenschen der Ablauf einer Messe nur zu gut im Gedächtnis liegt, werde ich mich hier auf die Besonderheiten beschränken.
Allen voran möchte ich zugeben, über die Wunder der heiligen Helene bisweilen nichts oder nur Bruchstücke gehört zu haben. Ich sah mich immer als einen gläubigen Mann, der das Buch der Bücher aufmerksam studiert hat, allerdings ist mir die heilige Helene bisweilen vollkommen entfallen. Was mir umso mehr vor Augen geführt wurde, da der Priester eine feurige Rede und Lobeshymne auf besagt Heilige zu führen wusste. Es verwundert, dass nur ein kleines Kloster zurückblieb, um ihrer zu erinnern, sollte sich an diesem Flecken Erde doch zumindest ein Wallfahrtsort befinden, wenn nicht sogar die Wunder der heilenden Birne weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt sein. Durchbrochen wurde diese ergreifende Predigt durch zahlreiche Gesänge. Ein paar waren mir geläufig, viele jedoch nicht. Das aufliegende Liederbuch vermochte mir an dieser Stelle vortreffliche Dienste zu leisten.
Höhepunkt dieser ungewöhnlichen Messe war zweifelsohne, als die Reliquie der heiligen Helene gezeigt wurde. Der sonst in einem Schrein verwahrte Oberschenkelknochen befand sich in einer kleinen, reich verzierten Seitenkapelle. Zahlreiche Fresken und Ornamente kündeten die ausgesuchte Besonderheit dieses kleinen Nebenbauwerkes, welches im Stile etwas jünger als das Gotteshaus schien. Eine Vielzahl an Kerzen und Lichter vollendeten die Erhabenheit. Die Reliquienmonstranz stellte sich als ein ungeheuer filigran gearbeiteter gläserner Kasten mit Vergoldungen dar. Die an den Ecken befindlichen Rahmenteile erschienen als Birnenbäume, die hoch und schlank aufragen, um mit ihren vier Kronen den Deckel zu gestalten. Auf dem Deckel, gearbeitet wie Blattwerk, thronte eine Büste der heiligen Helene, aufgebahrt zu ihrer letzten Ruhe. Eine gütig und doch zugleich streng gedrein blickende Jungfrau, welche auf ihrem Schoß eine Birne trug. Die goldene Birne, welche durch ein steinbesetztes Kruzifix geziert wurde, schien überproportional groß und seltsam unförmig, was dem Gesamtbild der Reliquie jedoch nicht abträglich war. Die Seiten der Monstranz bestanden aus kristallenem Glas mit sakral anmutenden Ätzungen, in welchem sich die zahlreichen Kerzen wundersam spiegelten. Entlang des Bodens kündete eine Schrift: “Sancti fructus voluptatis eden“ auf der anderen Seite vollendete sich dieser Schriftzug durch „Mortales, humiliter suscipe“. Innen selbst nun ruhte der Oberschenkelknochen der heiligen Helene auf ein edles Samtkissen gebettet, welches durch goldene Stickereien geziert wurde. Der Knochen selber erschien in dunkler Farbe und war vollständig erhalten. Selbst die gestrengen Nonnen vermochten nicht den Blick abzuwenden, als die Monstranz von zwei Würdenträgern, ich vermute Bauern, welche sich um die Gemeinde besonders verdient haben, zum Altar getragen wurde. Der ergreifendste Moment schließlich war, als dem Bürgermeister und dem Arzt gestattet wurde die Monstranz zu küssen. Soweit ich der Rede, in diesem urtümlichen Dialekt gehalten, folgen konnte, erwies sich der Bürgermeister als würdig, da er in seinem nun 30jährigen Schaffen eine goldene Ära für diesen Ort einleitete, dem Arzt hingegen wurde diese Ehre zu teil damit er weiterhin, auch durch heilige Hilfe, sein Werk so unermüdlich und mustergültig fortführen könne.
Gegen Ende der Messe war es nun an der Zeit die zahlreichen Kuchen, welche die in fast ausschließlich schwarz gekleideten Frauen mitgebracht hatten, zu segnen. So gleich die Frauen gekleidet waren, bis hin zur schwarzen Spitze an den hohen Kragen, so unterschiedlich waren die Kuchen. Fast schien es, als würde diese Gruppe einen Wettstreit über dieses Backwerk führen, und so wäre es sicher auch, würde nicht die Ehrung der heiligen Helene im Vordergrund stehen. Diese Segnung vollzog der Priester mit einer Hingabe, welche ich nur in den kleinen dörflichen Gemeinden kenne. Mit insatiablen Eifer wurde jeder einzelne Kuchen gesegnet und durchaus wohlwollend kommentiert.
Irrtümlich dachte ich an dieser Stelle zuerst, die Messe hätte ein Ende gefunden, wurde allerdings am verlassen der Kirche durch eine der Klosterschwestern gehindert und so vor einem größeren Fauxpas bewahrt. Wieder nahm der Festzug Form an und unter Lobgesängen der Kinder galt es nun die allermeisten Birnbäume, zunächst rund um das Städtchen, zu passieren. Vor jedem größeren Baum hielt der Festzug, und der Priester sprach ein paar Worte zu jedem Baum, bevor dieser durch Weihwasser gesegnet wurde. Als nun die Mauern des Städtchens einmal umrundet waren, schritt man nun einen Hügel hinauf. Auf der weitläufigen Wiese, welche sich nun ziemlich am höchsten Punkt befunden haben dürfte, wurden nun die letzten Bäume gesegnet. Ein uralter Birnbaum, vermutlich wirklich von der heiligen Helene höchstselbst gepflanzt, bildete den erhabenen Abschluss. Der hiesige Schützenverein ließ es sich nicht nehmen, mit archaisch anmutenden Vorderladern einen dreifachen Salut auf die heilige Helene zu schießen.
Zelte mit offenen Seiten waren wohlüberlegt und nach Sitte aufgestellt worden. Der Priester verkündete nun das Ende der Messe und entließ seine Herde in die weltlichen Freuden eines Festes, wohl mit der Mahnung nicht über die Stränge zu schlagen, denn auch die heilige Helene sei bescheiden gewesen. Die Männer tippten sich, einen Segen murmelnd, an das Piirnstraißl und verließen die Reihen. Die Kapelle schwenkte um und stimmte beschwingtere Musik an. Der Geruch von Bier, Feuer und gebratenem Schwein verdrängte zunehmend die Gerüche des Weihrauchs. Zu meiner Verwunderung waren die Matronen nun gesammelt in einem Zelt und gaben den Bewohner Gelegenheit, das Backwerk zu verkosten. Leider muss ich an dieser Stelle Zeugnis ablegen, dass ich nicht in der Lage war, mir ein Stück zu besorgen, ohne dem Gefühl zu erliegen, mit der Wahl eines bestimmten Kuchens mindestens fünf andere Bäckerinnen vergrämt zu haben. Die Kinder, nun ihrer Pflichten entbunden, spielten und balgten sich rund um die Zelte. Es wurde reichlichst aufgetragen. Nicht nur vorzügliche Spanferkel wurden kredenzt, sondern eine gewaltige Menge weiterer mir nur wenig bekannter Köstlichkeiten, so dass ich nur zu dankbar nach kurzer Zeit ein paar Gläser des klaren und kräftigen Birnenschnapses zu mir nahm. Zu meiner Freude gesellte sich zu dieser Zeit auch wieder der Wirt zu mir. Vielleicht war seine Zunge schon durch den Genuss von Schnaps gelockert oder ich war ihm ans Herz gewachsen, in jedem Fall schien er es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, mir noch ein paar Details dieses Festes zu erläutern. So erfuhr ich, dass ich den Fehler gemacht hatte von zwei rivalisierenden Familien Kuchen zu essen. Der Wirt zeigte sich glücklich, dass dieses Jahr offensichtlich keiner der Buben und Jünglinge es gewagt hatte, faule Birnen auf die Kuchenträgerinnen zu werfen. Ein Streich, welcher zweifelsohne durch die Bewohner von Hinterstein am Kogel, einem Nachbarort, ins Leben gerufen wurde. Da ich meine Neugier nicht in Zaum halten konnte, fragte ich natürlich, wie es dazu kam, dass die Hintersteiner so schändlich in diese Tradition einzugreifen geneigt waren. Hier schien ich einen wunden Punkt getroffen zu haben, denn es bedurfte einer Menge guten Zuredens und ein paar Gläser des vollmundigen Schnapses, bis der Wirt bereit war mir dieses düstere Geheimnis der Geschichte der Birnenprozession erzählen wollte.
Vor vielen Jahren war die Birnenprozession bis hinter den Hintersteiner Kogel gepilgert und hatte auch dort die Bäume gesegnet, bis eines schicksalshaften Tages die Hintersteiner nicht bereit waren die Prozession passieren zu lassen. Über die Gründe ist man sich nicht sicher, es wird aber zweifelsohne mit der Reliquie zusammenhängen. Seit diesem Tage herrscht Erbfeindschaft zwischen den beiden Orten, und es soll schon mehrfach versucht worden sein bei Nacht und Nebel die ältesten und ehrwürdigsten Birnbäume umzusägen. Selbst der Methusalem an Baum, unter dessen Schatten wir gerade standen, sollte schon mehrfach Ziel eines solchen abscheulichen Angriffs geworden sein. Allerdings bis zum heutigen Tage ohne Erfolg. Dass damit die Frage nach dem ältesten noch lebenden Baum ebenfalls ungeklärt blieb, schien den Wirten besonders zu ärgern. Auch ereiferte er sich darüber, dass die Hintersteiner nun selbst ein Birnenfest zelebrieren würden, was natürlich nur ein müder und bedauernswerter Abklatsch dieses Festes sei. Die Kapelle, so schien es mir, ereiferte sich in ihrem Spiel und wurde immer lauter und gewagter. Auch schien es mir nach dieser Geschichte, dass der Wind gelegentlich eine zweite, leicht andere Melodie zu uns trug.
Später an Nachmittag stieg der Bürgermeister auf ein wackeliges Podest, um eine Ansprache zu halten, nicht ohne zu erwähnen, dass nun auch Städter diesem Feste beizuwohnen schienen. Eine Reihe Blicke lastete schwer auf mir, als er diese Worte laut verkündete. Bis zum heutigen Tag ist es mir unmöglich einzuschätzen, ob diese Erwähnung eine Ehrerbietung oder Beleidigung darstellte. Jedenfalls folgte eine lange Danksagungsrede, welche jeden Bewohner einzuschließen schien und besonders den Priester hervorhob. Mit der Geschwätzigkeit eines Kommunalpolitikers nahm sein Redefluss kein Ende. So schloss die Rede auch einen Rückblick auf das vergangene Jahr ein und bot reichlich Anregungen für die kommenden Zeiten. Der Lehrer tat nach einiger Zeit wiederholt ein Zeichen, bis der Bürgermeister frohgemut verkündete, dass es nun an den Reigentanz gehe.
Für diesen sehr speziellen Tanz wurden nun Frauen, Männer und Kinder ausgewählt und anschließend um den altehrwürdigen Baum versammelt. Lange weiße, schwarze und rote Bänder waren in den Baum gehängt worden und spielten verführerisch im Wind. Jeder der Teilnehmer nahm nun ein Band und wartete auf das Einsetzen der Kapelle. Ein großer Teil der restlichen Einwohner nahm ebenfalls einen Platz um den Baum ein. Was nun folgte, vermag ich zu meinem tiefsten Bedauern nicht im Detail wieder zu geben. In einem komplizierten Tanz, welcher jedoch zu großer Heiterkeit führte, wurden die färbigen Bänder nun um den Stamm dieser mächtigen Birne gewoben, die anderen Einwohner tanzten in einer Art ausgelassener Polka um die Tänzer mit den Bändern herum. Dieses magische Schauspiel dauerte sicher gut eine Viertelstunde, bis schließlich der gesamte Stamm bedeckt war und die Enden verknotet wurden. Wie unter Hypnose betrachtete ich das Spektakel und ließ sogar meine Pfeife fallen. Nicht zu Unrecht stolz betrachteten die Bewohner ihr Werk. Dieser würdevolle Umschlag wurde nun durch zahlreiche Gaben erweitert. Kinder steckten wohl in der Schule angefertigte Zeichnungen und Gedichte in die Bänder, Männer und Frauen kleinere Gaben oder Fürbitten. Es folgten weiter kleinere Ritualien, derer ich mich nicht mehr genauer zu entsinnen vermag, bis langsam die Dunkelheit Einzug hielt und ein gewaltiges Feuer entzündet wurde. Als ein Teil des Feuers heruntergebrannt war, wurde die Glut verteilt und, mit den Mutigsten beginnend, rannt wohl jeder einmal über diese infernale Hitze. Selbst ich als Städter und offenkundiger Außenseiter musste mich diesem heidnisch anmutendem Feuerlauf unterziehen. Ich hoffe, nie im Leben wieder etwas derartiges zur allgemeinen Unterhaltung machen zu müssen. Es schien jedoch mit diesem Lauf über die glühenden Kohlen, dass viele der Vorbehalte hinwegschmolzen.
Zunehmend verschwanden mit der späten Stunde die Frauen und Kindern. Die Männer blieben über und so fand ich mich zu späterer Stunde zwischen einer Gruppe Bauern wieder, welche mir abwechselnd im Kartenspiel oder einem seltsamen Spiel, bei dem versucht wird, den Gegner mittels eines eingehakten Fingers sprichwörtlich über den Tisch zu ziehen, versuchten, mir Teile meiner Habe abspenstig zu machen. Mit einem gewissen Stolz kann ich nun zwei Kisten des Birnenschnapses sowie einen Gehstock mein Eigen nennen. Der Verbleib meiner Pfeife, meines Tabaks, meines Feuerzeuges und meiner Lesebrille, weiters meines Stecktuches, bleiben bis heute ungeklärt, denn meine abendlichen Zeitgenossen verstanden es hervorragend zu trinken und nur mit großer Mühe gab ich mir in dieser Sache keine Blöße.
Wie wir zurückkamen in die kleine Stadt vermag ich mich nicht mehr zu entsinnen. Es war jedenfalls schon sehr spät. In den Fenstern brannte kein Licht mehr, selbst die Tiere schliefen schon, und das Klappern der Kisten mit den Flaschen sowie die Geräusche unserer Schritte wirkten in dieser wohl friedlichsten Zeit der Nacht unanständig laut. An einer Kreuzung wurde ich mit den Kisten und mit einer vagen Andeutung, wie der schnellste Weg zu meiner Herberge wäre, schließlich im fahlen Licht einer Laterne zurückgelassen. So musste ich den letzten Teil meines Weges alleine zurücklegen. Vor dem Posthotel angekommen, wollte ich meinen Augen nicht trauen. Niemand geringerer als mein Chauffeur stand neben dem geschlossenen Eingang, bereits krank vor Sorge. Der Wirt, meinte er, sei bereits vor Stunden zu Bett gegangen und habe ihn vertröstet ich würde gleich nachkommen, mein Gepäck und Habseligkeiten seinen bereits gepackt und verladen worden. Ich murmelte eine Entschuldigung, denn die Völlereien des Tages lasteten schwer auf mir und meiner Zunge, fast schäme ich mich, wurde ich doch von meinem treuen Chauffeur abgeholt wie ein Kind von seiner sich sorgenden Mutter. Die Kisten wurden ebenfalls verladen und ich in den Font verfrachtet, und noch vor dem Morgengrauen rumpelten wir aus dieser kleinen Stadt am Fuße des Berges.

Stehen die Birnenbäume noch? Erinnert sich noch jemand der heiligen Helene außer der Schwestern in diesem kleinen Kloster? Wie lange bleiben die Bänder an den Bäumen? Diese und viele andere Fragen beschäftigen mich seit diesem Zeitpunkt. Auch konnte ich zu meinem aufrichtigen Bedauern nie das Piirnstraißl zurückbringen. Obwohl schon einige Zeit vergangen ist, seit ich der Ehrung der heiligen Helene beiwohnen durfte, denke ich gerne, wenn auch mit etwas Wehmut, an dieses Fest zurück, fest in dem Vorsatz, an ruhigeren Tagen wieder einen Besuch der kleinen Stadt zu wagen.
 



 
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