Das Flüstern des Harmattans

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d-m

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Nun brüllten die Dromedare den ganzen Abend lang.
Vor drei Wochen waren sie mit ihnen aus Adel Bagrou losgezogen. Die Tiere hatten sich mit Leichtigkeit an die Strapazen der Reise gewöhnt. Täglich ertrugen sie die Reiter gleichmütiger auf den eng gezurrten Kamelsatteln, Dutzende Kilometer über glühend heißen Sand, weiter nach Norden. Die Méharistes hielten Ausschau mit ihren Ferngläsern, aber niemand von ihnen konnte sagen, wo genau die Grenze der Republik Mali verlief, sie hielten sich an die wenigen Wegzeichen, meist in Form von gedrungenen Felsformationen oder Akaziengrüppchen, die in ehemaligen Flussbetten standen.
Das Land war flach und karg, hie und da wuchsen verstreute Tamarisken. Büschel von Trockengras dienten den Méharistes zum Anfeuern, sonst fehlte jegliche Vegetation. Die Dromedare bewiesen in der Wüste den entscheidenden Vorteil gegenüber einem Fahrzeug: Sie wirbelten keine Staubwolken auf, die kilometerweit zu sehen wären.
Morgens mussten sie nur noch kurz eingelaufen werden und sie fühlten sich offensichtlich wohl bei ihrer Aufgabe. Aber irgendetwas beunruhigte sie. Sobald der Horizont im tiefen Sahara-Rot ertrank und sich darauf die Dunkelheit wie ein perlenbesetzter Vorhang über das Land senkte, lief ein Zittern durch die Tiere. Zeitweise sprang diese Nervosität auf die Männer über.
Abdelaid schlang sich wie die anderen Méharistes in weißes Segeltuch. Lose getragen hielt es die ärgste Hitze des Tages ab, wickelte er es eng um seinen Körper, schützte es nachts vor der Kälte. Trotz dieser zusätzlichen Schicht über der Uniform suchte er die Nähe des Feuers. Sie lagen auf ihren Fellen und rauchten nigrischen Tabak in kurzen Blättchen, der fast schwarz war und auf der Zunge nach gebrannter Melasse roch. Niemand konnte ein Auge zutun. Alles Zureden war vergebens. Die Tiere ließen sich mit den Rufen der Männer nicht beruhigen. So standen die Méharistes auf, zwangen die Dromedare in die Knie und banden sie fest.
Mamoudou zuckte mit den Achseln.
„So habe ich sie noch nie erlebt“, pflichtete Cheikh bei.
„Der Mond trägt einen Schleier. Vielleicht ein Omen“, überlegte Abdelaid.
„Versucht zu schlafen. Wir können im Moment nichts für sie tun. Laut den aktuellen Berichten hat sich die Al-Qaida bis weit hinter die malische Grenze zurückgezogen.“
Also würden sie warten, bis die Sterne verblassten und unter dem zartmorgendlichen Violett des Himmels Tee in einer birnenförmigen Kanne kochen. In dieser Jahreszeit sank das Thermometer nachts bereits gegen null Grad.
„Denkst du oft an deine Frau?“, fragte Cheikh.
„Nein. Nicht mehr.“ Mamoudou hustete trocken.
„Das ist gut. Du solltest nicht zu viel nachdenken, so wie Abdelaid.“
Der würzige Duft von brennendem Akazienholz schwebte zwischen den Männern. Sie hatten noch zwei Bündel und mussten sparsam damit umgehen. Die Verpflegung war einfach. Eine Handvoll Nüsse, Datteln und etwas getrockneter Fisch aus Nouakchott. „Sprichst du ein bisschen Wolof für uns, Abdelaid?“, fragte Mamoudou und blickte in die Flammen. Seine Augen waren wässrig und die Falten auf der Stirn erinnerten an ein ausgetrocknetes Bachbett.
„Nein, ich bin zu müde. Ein andermal vielleicht.“
„Dein Vater war Senegalese, da wette ich fünfhundert Khoums drauf.“
„Ich würd’s dir sagen, wenn ich’s wüsste.“
„Kein Maure spricht so komisches Arabisch wie du. Das ist doch kein Hassania.“
Da lachten sie und Abdelaid lag auf seinem Schaffell, beobachtete den heller werdenden Himmel und dachte nach.

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Er wurde auf dem Erzzug zwischen Eisenstaub und Wüstensand geboren.
Seine Mutter stammte aus dem Herzen von Tiris Zemmour. Sie verkaufte Tabak und Tee auf den schwankenden Hochbordwaggons, die von den drei Dieselloks durch die Einöde gezogen wurden. Le Train, wie er schlicht genannt wurde, verband die Minen in Zouérat auf einer über siebenhundert Kilometer langen Strecke durch die Sahara mit der Küstenstadt Nouadhibou im Süden. Die Lebensader und das Haupttransportmittel für viele Menschen dieser unwirtlichen Gegend. Sie fuhren gerne auf ihm mit, wohlwissend, dass er den Reichtum des Landes zum Hafen transportierte, wo all das Erz in die Welt hinaus verschifft wurde und nichts außer dem Staub zurückblieb, für diejenigen, die danach wieder auf ihm saßen.
Schon aus weiter Ferne waren seine schwarzen Dieselrußfahnen zu erkennen. Die Menschen in den Dörfern gerieten in freudige Aufruhr und eilten ihm entgegen, wenn er weit entfernt am Horizont auf sie zuschnaufte. Wie oft Abdelaid zwischen Zouérat und Nouadhibou hin und her gereist ist, kann er heute nicht mehr schätzen.
Das ohrenbetäubende Rattern des Zuges ging bei seiner Geburt in Fleisch und Blut über und irgendwann wurden die Vibrationen so vertraut, dass er sich seltsam weich und schwerelos fühlte, wenn er von dem Ungetüm herunterkletterte. Die Waggons warfen selbst dann noch kühlenden Schatten, wenn die Sonne im Zenit stand. Bei den seltenen Haltestellen klopften die Reisenden den Staub aus der Kleidung und setzten sich hin, um etwas auszuruhen oder in gedämpfter Lautstärke miteinander zu plaudern, während emsige Verkäufer in bunten Obergewändern vor ihnen auf und ab wuselten.
Manchmal schickte ihn die Mutter für eine oder zwei Wochen in die Schule und sobald er arbeiten konnte, verdiente er sein Geld als Gleisbauer. Die schwere Ladung und der grobkörnige Sand setzten den Gleisen so zu, dass sie alle paar Monate ausgetauscht werden mussten. Aufgrund der langen Strecke gab es immer genug zu tun und er gewöhnte sich rasch an die schwere Arbeit. Abgeplatzte Schienenteile lagen wie Granatsplitter unter der Wüstensonne.
Mit siebzehn Jahren war er kräftig für sein Alter und dachte daran, in der Mine in Zouérat anzuheuern. Er hatte von Reisenden gehört, wie gefährlich die Arbeit dort sei und dass manchmal auch Leute zu Tode kamen, aber der Verdienst sprach für sich. Außerdem konnte er doch nicht sein ganzes Leben auf dieser eisernen Schlange verbringen.
Bevor er die Mutter über seine Pläne in Kenntnis setzen konnte, geschah ihr ein folgenschweres Unglück. Für einen Moment unachtsam beim Überqueren der Waggons, blieb sie mit dem Fuß an einer Kante hängen und fiel mitsamt ihren Waren vom fahrenden Zug.
Er stand auf, streckte seine Arme aus, um die Balance zu halten, und blickte ihr nach, obwohl er ihren Körper neben den Gleisen schon längst nicht mehr ausmachen konnte. Der Fall hätte sie nicht getötet, wurde Abdelaid berichtet, aber er wusste auch so, dass sie verloren war. Trotzdem fragte er nach, immer wieder, aber niemand hatte sie seitdem gesehen oder etwas von ihr gehört. Hätte er damals doch nur den Mut gehabt, ihr hinterherzuspringen. Stattdessen starrte er die restliche Fahrt leer in die Wüste hinaus und grübelte, was jetzt aus ihm werden sollte. Erst später machte er sich Vorwürfe. Das Gefühl, sie für immer im Stich gelassen zu haben, hallte Jahre nach. Selbst dann noch, als das Rattern des Zuges längst in ihm verebbt war.

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Es war früher Vormittag, als sie die Dromedare losbanden. Die Tiere blieben noch eine Weile liegen, während die Temperatur auf dreissig Grad Celsius kletterte und Cheikh den Tee in kleinen Gläsern hin und her goss. Sobald sich auf dem Getränk die vor dem Sand schützende Schaumschicht gebildet hatte und er sicher war, dass die Aromen sich entfalten konnten, reichte er es den Méharistes weiter.
„Danke. Uh, kochend heiß. Das ist gut für den Kopf“, sagte Abdelaid.
„Dann solltest du mehr davon trinken“, lachte Mamoudou. „Hast du etwas schlafen können?“
„Nein. Aber ich bin nicht müde.“
„Ich auch nicht. Wieso kratzt du dich ständig an der Brust?“
„Eine alte Wunde. Ist nie richtig verheilt.“
Cheikh ließ aufsitzen. Seit heute Morgen trug Mamoudou den Karabiner geschultert und hustete noch öfter als sonst. Abdelaids Gewehr war hinter ihm quer über den Tierrücken gebunden, so dass er nicht ständig mit ihm in Kontakt kommen musste. Trotz seiner Ausbildung bei der Armee hatte er sich nie an die Anwesenheit von Waffen gewöhnt.
Nach einer Weile nahmen sie ihre Käppis ab und wickelten sich hellblaue Stofftücher um die Köpfe und die verschwitzten Nacken. Sie waren noch nicht lange unterwegs, da zeichnete sich am Horizont eine Gruppe Dattelpalmen ab, die im Hitzeflimmer miteinander zu tanzen schienen. Cheikh streckte seine Hand in die Luft und sie zügelten ihre kleine Karawane. Aus einer Satteltasche nahm er das Fernglas, schirmte sich gegen die Sonne ab und blickte hindurch.
„Was siehst du?“, fragte Mamoudou.
„Das ist einer der Brunnen. Aber dahinter ist noch was anderes“, sagte Cheikh.
Ein Entwicklungsprojekt der Europäischen Union hatte die Wasserlöcher mit elektrischen Pumpen und Solarpanels ausgestattet. Es war Aufgabe der Méharistes, die Funktion der Pumpen zu überprüfen. Aber da niemand wirklich genau wusste, wie sie repariert werden konnten, verzeichneten sie die Ausfälle lediglich auf einem Notizblock.
„Was meinst du damit?“
„Staubwolken.“
„Kommen sie näher? Ein Fahrzeug?“
„Nein.“
„Vielleicht der Harmattan“, sagte Mamoudou.
„Um diese frühe Jahreszeit?“, zweifelte Abdelaid. „Das ist ausgeschlossen.“
„Gewöhn dich dran. Es ist unaufhaltsam. Ich wäre nicht überrascht, wenn sich der Scirocco und der Harmattan vereinten und die Kinder dieses Landes dauerhaft in einem Sandsturm leben müssten.“
„Das glaube ich nicht.“
„Wartet. Da ist noch etwas. Ein Funkeln. Ein Blinken im Sonnenlicht.“
„Hör auf, ein Geheimnis draus zu machen. Wir sehen nichts.“
Abdelaid und Mamoudou sassen nebeneinander in ihren Sätteln und blickten angestrengt zwischen den Tüchern hervor. Außer wabernder Luft lag da vorne nur die einsame Stille des Wüstenbeckens.
„Doch, ein Fahrzeug. Aber es bewegt sich nicht. Es steht einfach dort unter den Palmen, als hätt’s jemand vergessen. Da ist niemand.“
„Oder sie verstecken sich.“
„Wir sollten nachsehen.“
„Hast du die Staubwolke vergessen?“, hakte Mamoudou nach.
„Cheikh?“
„Wir reiten näher.“

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Nach dem Tod seiner Mutter wollte er nichts mehr mit dem Zug zu tun haben.
Mit einem jungen Arbeitssuchenden aus Nigeria schlug er sich durch bis in die Vororte der Hauptstadt. Die Verständigung gestaltete sich schwierig und es war folglich mehr eine Zweckgemeinschaft. In Nouakchott lernte Abdelaid einen Mann kennen, der ihm versprach, aus ihm würde ein guter Reiter werden und dann könne er vielleicht zur Armee gehen. Außerdem versicherte er ihm, würde er für seine Ausbildung aufkommen, er besäße einen großen Hof im Süden und zweihundertzwanzig Dromedare. Er stellte sich als Syid Demba vor.
Abdelaid konnte sich nicht an dem glänzenden Meeresteppich sattsehen, an dessen Stränden sie mit dem Geländewagen entlangfuhren. Er erinnerte ihn an die Wüstennächte, wenn der Himmel sein prachtvolles Sternenzelt aufspannte. Erst später bemerkte er, dass sie die Grenze zum Senegal überquert hatten. Als sie ankamen, stand dort ein hohes Gebäude mit Veranda, die sich auf lange, weiße Säulen und verzierte Torbogen stützte. Auf Abdelaid wirkte das, als hätte man zwei Häuser übereinandergestapelt. Eine steinerne Treppe führte hoch zum Eingang.
Das Reiten lag ihm sofort im Blut und Syid Demba kümmerte sich gut um ihn. Abdelaid quartierte er im unteren Teil des Hauses ein und das zuvor seltsam anmutende Gebäude offenbarte bald seine Vorzüge: Es war großzügig bemessen und gemütlich eingerichtet. Syid Demba hatte eine Handvoll Angestellte, deren Wohlergehen ihm nicht so nahe ging. Sie waren dunkler als Abdelaid und selbst als Syid Dembas Frau, die ihn an eine knorrige, ebenholzfarbene Kartoffel erinnerte.
Sie mussten in einem schmucklosen Häuschen aus Brettern abseits des Hauptgeländes schlafen und kümmerten sich tagsüber um die Herde. Abends waren ihre Hände wund vom Striegeln der Tiere. In den Wintern lagen sie mit dem Rücken an den Steinwänden, um die darin gespeicherte Wärme aufzunehmen. Da ließ Abdelaid sie manchmal drinnen schlafen.
Syid Dembas Tochter Najya feierte ihren neunten Geburtstag. Aus ihr war ein hübsches Mädchen mit dunklen Augen und glattschwarzem Haar geworden, nur eine Hasenscharte verunstaltete ihr ansonsten so liebliches Gesicht. Abdelaid beobachtete, wie es von seiner Mutter mit fetthaltiger Kondensmilch gefüttert und immer dicker gemacht wurde. Mit zwölf musste sie mehrere Liter verteilt über den Tag trinken und er fragte sich, wie sie das durchhalten konnte und ob sie Schmerzen hatte.
Es kam der Tag, da sagte ihm Syid Demba, seine Tochter sei nun bereit zu heiraten und ein Kind zu empfangen. Aber Abdelaid hegte keinerlei leidenschaftliche Gefühle für das gepeinigte Mädchen. In ihm war nichts außer einer ganzen Sandbank voller Mitleid, die sich bis obenhin anstaute und die er ihm am liebsten vor die Füße gekippt hätte. Also verweigerte er sich höflichst und Syid Demba baute sich drohend vor ihm auf. Zumindest so drohend, wie es ein alter, gebrechlicher Mann, dem beim Zetern die Spucke vom Mund herunterlief, bewerkstelligen konnte.
Er schrie ihn an, dass die Dunklen gefälligst nicht ins Haus gehörten, das hätte er schon lange bemerkt und ihm ausreden wollen, das seien keine Maghrebiner und schon gar nicht seine Freunde. Und was denn eigentlich sonst mit ihm alles nicht in Ordnung wäre, fragte er ihn. Ob’s da unten vielleicht Probleme gäbe, mit dem Ding zwischen seinen Beinen.
So lernte Abdelaid von Syid Demba etwas, das ihm kein Anderer hätte besser beibringen können. Nämlich dass er nicht länger an einem Ort leben wollte, wo eine Willkürlichkeit wie dunklere Hautfarbe über jemandes Gesellschaftsrang entschied. Er musste dringend weg. Die Atmosphäre wurde immer unangenehmer. Seine Hausherren behandelten ihn jeden Tag mit wachsender Abschätzigkeit, Essensrationen wurden wahllos gestrichen und sie bezahlten ihm nur noch einen Bruchteil seines Lohns. Abdelaid wartete nicht, bis sie zwischen ihm und ihren Arbeitern keinen Unterschied mehr machten.
Die armen Leute aus dem Bretterhaus halfen ihm, als er eines Nachts das Dromedar sattelte. Als Dank für ihre Freundschaft hinterließ er ihnen einen Anteil seiner Ersparnisse, wenn auch nur einen kleinen, weil Syid Demba all die Jahre geizig gewesen war. Nicht ohne sie davor zu warnen, das Geld vor ihm und seiner Frau zu verstecken, aber am besten würden sie’s einfach nehmen und schleunigst verschwinden. Dann winkte Abdelaid ihnen zu und ritt fort von Syid Dembas Hof, zurück zur Grenze nach Mauretanien.

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„Wieso ist deine Frau gestorben?“, fragte Abdelaid.
„Sie bekam die Masern. Zumindest sagte das der Arzt. Sie unterrichtete an der Universität, weißt Du. Da gab’s auch Weiße damals. Vielleicht hatte sie’s von denen. Ist lange her.“
„Ich traf nie eine. Eine zum heiraten, mein ich.“
„Tut mir leid.“
„Ich frage mich manchmal, wo mein Haus mit den hellblau angestrichenen Türen und Fenstern steht, von dem ich ständig träume, und wo meine Kinder geblieben sind. Als würde ich über ein Leben nachdenken, das ich nie gelebt habe. Und das niemals mir gehören kann.“
„Du bist Méhariste geworden.“
„Seid mal still“, unterbrach Cheikh. „Etwas mehr Konzentration bitte. Verschiebt eure Lagerfeuergespräche auf später.“
Nachdem sie die Umgebung intensiv mit dem Fernglas abgesucht hatten, ritten sie die letzten paar hundert Meter bis zum Brunnen. Stiegen ab und banden die Tiere fest. Unter den Dattelpalmen stand ein weißer Jeep mit platten Reifen. Auf seiner Motorhaube prangte ein rotes Kreuz in einem Kreis, eine Tür stand offen und auf dem Beifahrersitz lag ein Rucksack. Das Fahrzeug war nicht lange verlassen, im Fußraum fanden sie eine angebrochene Flasche Wasser, deren Inhalt noch frisch aussah. Vor dem Wagen im Staub lag ein Schuh. Musste von einem Ausländer stammen, die Leute hier trugen mit Nägeln beschlagene Sandaletten. Am Horizont ballten sich die Staubwolken bedrohlich auf, verdichteten sich zu einer riesigen Faust, die bald über die Senke hinwegdonnern würde.
Mamoudou hustete und spuckte in den Sand.
„Der ist vom Croix Rouge. Ist von drüben gekommen. Schaut euch um, vielleicht finden sich Kampfspuren.“
„Wieso hat die Person ihren Schuh verloren?“, murmelte Abdelaid.
„Vielleicht wurde er absichtlich dort platziert und sie beobachten uns. Wägen ab, wann sie zuschlagen sollen.“ Mamoudou blickte dem Sandsturm entgegen. Noch war keinerlei Bewegung in der kochenden Luft, aber die ockerrote Wand kam mit jeder Minute näher. Er nahm den Karabiner von der Schulter und ging um das Fahrzeug herum.
„Hier hinten sind mehrere Abdrücke im Sand. Keine weiteren Spuren. Keine Hülsen, kein Blut, nichts. Sie haben den Fahrer mitgenommen.“
Cheikh bückte sich und untersuchte die Reifen. „Die wurden von irgendwas aufgestochen. Der Gummi ist völlig zerschlissen.“
Aus den Schatten unter dem Wagen erschien eine Hand, gefolgt von einem Arm. Die Hand wollte Cheikhs Knöchel packen, aber er reagierte instinktiv. Er drückte mit seiner Sandale die tastenden Finger in den Sand, verlagerte sein Gewicht und zielte mit dem Karabiner unter das Fahrzeug. Als nichts weiter geschah und auch niemand protestierte, lockerte er seinen Fuß.
„Komm raus!“
Darauf folgte keine Reaktion.
„Zeig dich, verdammt.“
Wieder nichts. Also packte er den Arm, bemerkte, dass Blut an ihm klebte, und zog einen Mann mittleren Alters unter dem Wagen hervor, mit sandverkrustetem Haar und Bart, ein verschwitztes, kurzärmeliges Hemd und weiten Stoffhosen am Körper. Auf Brusthöhe saß ein fransiges Loch im Stoff. Abdelaid fand, es sah aus wie eine der Blumen mit den tiefroten Blütenblättern, die er mal in Küstennähe gesehen hatte. Das war damals, auf einem Ausflug mit Syid Demba. In einem anderen Leben.
Der fremde Mann war von heller Hautfarbe und schien kurz vor dem Tod. Mit scheinbar letzter Kraft brabbelte er einen fremdartig artikulierten Wortschwall, während ihm Blut aus den Mundwinkeln tropfte, das kleine Krater im Sand zurückließ. Aber etwas verstanden sie alle. „Al-Qaida“, sagte er.
Den Rest verschluckte der nun aufbrausende Wind. Irgendwo peitschte ein Schuss. Innerhalb Sekunden waren sie umgeben von flirrendem Rot.

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Und so meldete sich Abdelaid bei der Armee in Nouakchott.
Erst verlangten sie einen Pass, aber mit ausreichend Durchhaltewillen und vielleicht auch etwas Glück nahm ihn ein alter Ausbilder der französischen Fremdenlegion unter seine Fittiche. Er gab an, ein Waise aus Zouérat zu sein, weil Terroristen seine Eltern umgebracht hätten, und er fühle sich deshalb der mauretanischen Armee verpflichtet, wolle bei der Landesverteidigung helfen und sonst wüsste er ja nicht recht wohin.
Houssan war gezeichnet vom Wüstenleben und vom Krieg und er lehrte ihm die Handhabung einer AK-47. Sein monatelanges Überlebenstraining, dessen Grundlage sich stark an der nomadischen Lebensweise orientierte, absolvierte Abdelaid mit Wissbegierigkeit. Obwohl er einige der wichtigsten Regeln bereits kannte, lernte er von Houssan doch, dass der Teufel in den Details lag und diese Kniffe im Ernstfall entscheidend sein konnten.
Dass er ein geübter Reiter war, machte sich nun bezahlt, wenn er mit den Männern auf die Missionen loszog, in dieses riesige, ungewisse Land hinaus. Dabei floss auch etwas Geld in seine Taschen, aber das nahm er höchstens als angenehmen Nebeneffekt wahr. Er kaufte sich Tabak oder mal eine Macadamia-Schnitte beim Bäcker, wenn sie in einer größeren Stadt ankamen.
Einmal ritten sie zum Guelb er Richat hinaus. Houssan erklärte, die ringförmigen, konzentrischen Stufen des riesigen Kraters seien selbst aus dem All zu sehen und dienten dort als Orientierungspunkt für Astronauten. Im Ausland sei er als das Auge der Sahara bekannt. Es sei einer der heißesten Orte der Welt und wenn sie hier zweiundsiebzig Stunden überlebten, wäre ihr Training vorerst abgeschlossen. „Der Harmattan kommt“, sagte er ihnen noch. „Hört ihr das? Im Guelb er Richat solltet ihr vor dem Schlimmsten geschützt sein.“
Tags wurde es fast fünfzig Grad heiß. Die Hitze machte den Männern schon nach den ersten Stunden zu schaffen und sie verkrochen sich unter ihrer kakifarbenen Kleidung. Bei ihnen befand sich auch ein junger Berber. Er war es, der die Kontrolle verlor.
Zitternd und mit den Zähnen klappernd, als wäre ihm kalt, stolperte er am Morgen des zweiten Tages kopflos im Krater herum. Die anderen unternahmen nichts, um den Burschen zu retten, aber Abdelaid konnte nicht noch einmal jemanden sterben lassen. Er verfolgte ihn, rief ihm zu, er solle stehen bleiben. Der andere antwortete ihm nur in einem fremdartigen Kauderwelsch. Abdelaid wurde zornig und brüllte ihn an, dass er hier sein Leben lassen würde, das sei es doch nicht wert und es gäbe bestimmt viele Leute, die ihn vermissen würden, wenn er jetzt nicht kehrtmachte. Aber da war er verschwunden.
Abdelaid rief weiter nach dem Jungen, bis seine Stimmbänder so trocken waren, dass er nicht mehr Schlucken konnte vor Schmerzen. Lief den Krater ab, kämpfte sich über den Sand, der immer weicher zu werden schien. Schließlich sah er etwas vor sich liegen, erst erkannte er den Gegenstand nicht, dann sah er, dass es sich um einen Schuh des Burschen handelte. Er kniete sich hin, nahm ihn an sich und da drückte ihn von hinten etwas grob zwischen die Schulterblätter. Bevor Abdelaid realisierte, was geschah, zog der Bursche am Abzug und ein Schuss rollte durch den Guelb er Richat.

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„Er ist getroffen!“, schrie Mamoudou. Cheikhs Antwort bestand aus unverständlichen Flüchen. Abdelaid spürte ein Brennen in der Brust, wie ein Buschfeuer, das sich bis in die Wirbelsäule ausbreitete. Er begriff nicht, was passiert war und ob er noch auf seinen Füssen stand oder schon am Boden lag. In der Luft tanzte und wirbelte der rote Sand.
Der Schuh, dachte er, ich habe einen Schuh gefunden. Er gehört dem Berberjungen! Ich darf ihn nicht sterben lassen, habe es ihm doch versprochen. Niemand darf mehr sterben, das habe ich mir selbst geschworen, aber da liegt nur dieser tote, weiße Mann, den kenne ich nicht, den habe ich noch nie zuvor gesehen, was macht der plötzlich hier? Aber am wichtigsten: Wo ist der Junge? Er ist nicht mehr Herr über sich selbst und wird hier draußen sterben, im Guelb er Richat!
Und er stellte sich vor, wie er nach oben schwebte, hoch bis über die Wolken, hinauf zu den Astronauten in ihren Raumschiffen, die dieses Naturwunder, das Auge der Sahara, zur Orientierung nutzten, und da flog einer in der Schwerelosigkeit und Abdelaid fühlte sich wie damals, wenn er vom Zug hinunterstieg und der Andere trug einen dickgepolsterten Anzug, aus dem ein Schlauch hing und er zeigte nach unten und sprach in perfektem Wolof: „Houston, wir haben unsere Position falsch eingeschätzt. Da unten tobt ein ganz schöner Sturm.“
Irgendwo peitschte ein Schuss. Abdelaid stürzte zurück zur Erde und schlug ungebremst im Wüstensand auf. Er streckte die Arme aus, um sich vorwärts zu ziehen, doch seine Finger waren taub und bekamen nichts zu fassen außer feine Körner. Mit tränenden Augen krallte er sich in den heißen Untergrund, schaufelte Sand beiseite und wühlte immer tiefer, grub hinab, auf der Suche nach diesem Leben, wo er ein Haus mit hellblau angestrichener Türe besaß, in dem seine Frau mit den Kindern wartete. Bis er eine Grube ausgehoben hatte, und in ihr drinlag, wie in einem Grab. Er wollte einschlafen, aber da erschien ihm das uralte Antlitz von Houssan unter dem Sand.
Als dieser sich erhob, rieselte ihm der Staub vom bandagierten Gesicht und von der Uniform, eine lebende Mumie, die sagte, das Training sei jetzt abgeschlossen, er solle seine AK-47 niederlegen und woanders hingehen, denn zum Töten sei er ja nicht gemacht und hätte nicht mal diesen Jungen umlegen können. Vielleicht wären ja die Méharistes etwas für ihn, dort würden nämlich alte, unbrauchbare Männer gerne angenommen, damit sie wenigstens noch irgendeinen Zweck erfüllten.
Aber er habe doch einen Zweck gehabt, protestierte Abdelaid. Er hätte anderen Menschen helfen wollen, deshalb sei er ja auch zur Armee gegangen, nur die Mittel dazu wären halt manchmal ein Problem gewesen, und außerdem seien Syid Dembas Arbeiter vielleicht mit dem Geld abgehauen und heute freie Leute. Vor ihm schoss das riesige Haus mit der Veranda und den weißen Torbögen aus dem Sand, aber es stand auf dem Kopf und alle die schönen und bequemen Möbel purzelten in die Wüste.
Syid Dembas Arbeiter setzten sich lachend darauf, klopften auf den Polstern herum, dass der Staub in schwarzen Wolken stob, schwärzer noch als sie selbst, genau so schwarz wie der Eisenstaub, von dem ihm ständig die Nase lief, und Syid Dembas Frau, die knorrige Kartoffel, rannte im Kreis und wusste weder ein noch aus. Der alte Syid Demba selbst stand da wie angewurzelt, mit verbittertem Mund und schmerzgezeichneten Augen und er streckte die Hände nach ihm aus und sagte: „Meine Tochter ist sehr einsam, weil du sie nicht geheiratet hast.“ Hinter ihm schnappte Najya quäkend nach Luft.
Doch Abdelaid hörte gar nichts mehr, weil er in dem Geländewagen vom Croix Rouge an der Küste entlangfuhr und aus dem Fenster sah, hinunter auf das Meer aus Sternen, denn er verließ den Senegal, fuhr hoch nach Nouakchott, wo er nach dem Jungen aus Nigeria sehen wollte und ob dieser vielleicht am Hafen Fische räucherte. Er war jedoch nirgends zu finden und Abdelaid verlief sich in dem Labyrinth aus Bretterbuden, bis er am Bahnhof stand, wo die riesige Erzschlange Dieselfahnen in den Himmel schnaufte und es blutrote Blütenblätter aus ihren Schornsteinen regnete.
Abdelaid bestieg das eiserne Ungetüm und bemerkte, dass seine Hände geschrumpft und weniger sehnig geworden waren. Am Bahnsteig gingen Händler in langen Gewändern auf und ab und boten Pickel und Schaufeln feil. Als der Zug anrollte, rannten sie ihm scharenweise hinterher und schrien ihm nach: „Geh und arbeite in der Mine, kleiner Abdelaid.“
Auf einem der Waggons saß seine Mutter und sie lachte über das ganze Gesicht und sie zeigte ihm, wie toll sie über den schwankenden Zug balancieren konnte, ohne dass sie herunterfallen würde, das sei doch ganz leicht und er müsse keine Angst haben.
Irgendwo peitschte ein Schuss.
Abdelaid krümmte sich zusammen und fiel in den Staub. Blickte dem ratternden Zug hinterher, bis er die Silhouette seiner Mutter nicht mehr sehen konnte und die eiserne Schlange am Horizont verschwunden war. Aber da wusste er, sie war auf dem Zug und ihr würde es gut gehen.
„Haben wir alle erwischt?“, fragte irgendjemand in gebrochenem Arabisch.
„Der hier lebt noch“, antwortete ein anderer, nah und doch ganz weit weg.
Abdelaid wollte schreien, aber er schluckte nur Staub. Das Letzte, was er hörte, war das Flüstern des Harmattans und das entfernte Gebrüll der Dromedare in seinem Zentrum.
 
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Michele.S

Mitglied
Wirklich ausgezeichnet geschrieben, hat was poetisches. Für eine Kurzgeschichte aber etwas zu ausführlich, zu detailliert, wie ich finde. Viele werden wahrscheinlich nicht die Geduld haben, die Geschichte bis zum Ende zu lesen.

Viele Grüße
Michele
 

d-m

Mitglied
Hallo Michele,

Merci für die freundliche Zuschrift. Ja, das kann wohl ein Problem sein, bei längeren Texten in unserer schnelllebigen Zeit ...
Da freut mich dein Feedback umso mehr :) Danke Dir sehr fürs Lesen.

Liebe Grüsse,
d-m
 
Zuletzt bearbeitet:

petrasmiles

Mitglied
Da kann ich mich meinen Vorrednern nur anschließen - wirklich großartig geschrieben. Ich finde besonders wichtig, dass man gerade in einer Zeit, in der man meint, alles muss nach westlichen Werten ausgerichtet sein, eine Idee davon bekommen kann, wie anders Menschen miteinander leben und ihre eigenen Werte entwickeln aufgrund dieses anderen Alltags. Vor allem der Schluss ist poetisch, wenn den Sterbenden der Gedanke tröstet, dass seine Mutter in Sicherheit ist. Darin, und ich fürchte nur darin, liegt die Universalität aller Menschen und ihrer Werte.
Sehr gerne gelesen - und zu lang, na ja. Wer nur Appetithäppchen verdauen kann, soll halt ein Haus weiter gehen :)

Liebe Grüße
Petra
 

d-m

Mitglied
Lieber Patrick,

danke Dir! Dein Beitrag geht runter wie Öl ;) Habe mich sehr darüber gefreut.

Liebe Petra,

auch Dir ganz herzlichen Dank für's Lesen der Geschichte. Schön, das Du das Ende poetisch findest, das habe ich sehr gerne gelesen. Auch deine Ausführungen bezüglich der Werte: Da kann ich nur zustimmen! Wenn ich an der Stelle aber auch erwähnen möchte, dass Abdelaid - der Prota hier - natürlich schon auch mit westlichen Werten ausgestattet ist (bspw. seine Haltung gegenüber der modernen Sklaverei auf Syid Dembas Hof), damit man da als LeserIn etwas besser nachfühlen kann.

Schöne Grüsse an euch beide!
d-m
 



 
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