Das Gefühl, den eigenen Namen zu hören

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Chandrian

Mitglied
Das Gefühl, den eigenen Namen zu hören

I
stille ist ein bett aus keinen worten
mein mund spricht in scherben,
wir sind taub und ein verweinter gott
vergisst seinen namen

draussen bricht ein aufziehvogel
er schiebt seinen ton an die luft
die silben sind frisch, doch die klänge
riechen noch nach ur und wild.

wir haben sie zum eigenen elysium gemacht
wohltemperiert, vierhundertvierzig hertz
damit wir uns sehen.
damit die welt im innern doppelt steril ist.


II
die weite ist ein auge
und auf moosbewachsenen säulen
drehen sich die alten ihre stumpen
bis ein rücken mondweiss glänzt und aus der plazenta erde bricht

Im dunkelsten dunkel
tasten blinde nach dem blau
dieses blau ist das unsrer herzen
dieses blau gibt es nicht

die weite ist ein auge
und manchmal schreien die krumen leids,
aber du sprichst nicht die sprache der leidenden
du bist das kalb ohne mutter.


III
staub legt sich auf die rinde welt
im schatten werden grinsen zu fresken aus gelb und angst
die kunst des vergessens und weglächelns.
das gefühl, den eigenen namen zu hören.

bis wir nicht mehr können
weil wir uns nicht kennen
 

sufnus

Mitglied
Hi Chandrian,

an dieses zwischen frühcelanesker und thomasbernhardianischer Lyrik irrlichternde Werk (vielleicht noch mit einem Schuss Ernst Meister abgeschmeckt, womit das Namedropping aber ein Ende haben soll) hat sich bisher keiner rangetraut.
Kein Wunder, Du machst es einem an narrativen oder pointenbasierten Gedichten geschulten Leser nicht ganz leicht.

In Deinem Triptychon kreist die Sprache um die Sprachlosigkeit. Insofern ist irgendwie logisch, dass man nur schwer auf einen kurzen Nenner zu bringen kann, "was der Autor damit sagen will".

Die Sprachlosigkeit als Thema zeigt sich in Bildern wie dem "doppelt sterile[n]" Reden "in Scherben". Mit der doppelten Sterilität erstreckt sich diese Sprachlosigkeit nicht nur auf den Sprecher sondern auch auf den Adressaten dieses Sprechens.

Ich habe dabei von einem Triptychon gesprochen und ähnlich, wie man es bei dreigliedrigen Gemälden oder Altarbildern oft sieht, gibt es eine gewisse Symmetrie der beiden Seitenbilder (I und III), die beide das Thema der (dysfunktionalen) mündlichen Kommunikation verhandeln (im Teil III klingt dies mit der 4. Zeile an, die dem Gedicht auch den Namen leiht).

Demgegenüber steht im Mittelteil der Sehsinn im Vordergrund ("die weite ist ein auge", "tasten blinde nach dem blau"). Hierbei geht es meines Erachtens aber nicht um ein augenoptisches Problem, sondern um die Frage, welches Bild man sich von der Welt macht. Also um das Phänomen, dass wir auf Sprachbildern (hier sind wir also doch wieder beim Reden) basierend unsere Umwelt kategorisieren und rekonstruieren. Da die Sprache ihrer Funktion aber nicht gerecht wird, bleibt der Sprecher letztlich blind.

Dein Gedicht, wie ich es lese, ist der Versuch einer Beunruhigung. Die Suche nach den Worten hinter den Worten. Letztlich eine Suche nach der Welt, die sich immer wieder in beinahe naturnaiver, aber doch verwundeter Konkretheit ins Bild drängt.

Coole Sache!

LG!

S.
 

Chandrian

Mitglied
Hallo sufnus

Schön beschrieben und beobachtet.
Demgegenüber steht im Mittelteil der Sehsinn im Vordergrund ("die weite ist ein auge", "tasten blinde nach dem blau"). Hierbei geht es meines Erachtens aber nicht um ein augenoptisches Problem, sondern um die Frage, welches Bild man sich von der Welt macht. Also um das Phänomen, dass wir auf Sprachbildern (hier sind wir also doch wieder beim Reden) basierend unsere Umwelt kategorisieren und rekonstruieren. Da die Sprache ihrer Funktion aber nicht gerecht wird, bleibt der Sprecher letztlich blind.
Genau! Um das selbe Spiel mit dem Hörsinn durchzuspielen: Wir haben uns sogar auf eine Frequenz geeinigt (440 Hertz), um auch die Klänge zu vereinheitlichen und einzuordnen. Somit machen wirs uns natürlich einfach; Werbung, Radio sowie die allermeiste Musik schwingt in der gleichen Frequenz und wir haben uns daran gewöhnt. Da man die Welt aber nicht auf diese eine Frequenz reduzieren kann, ist man gleichermassen ohnmächtig. Dies als Ergänzung.
Die Beunruhigung ist, wie du gemerkt hast, zentral. Die Vorstellung, dass die Sinne (hier vor allem hören und sehen) verrückt spielen, ist mMn. ziemlich beunruhigend…

Vielen Dank für deinen Kommentar und für die Sterne :)

LG
Chandrian
 



 
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