Das Geheimnis der ukrainischen Puppen

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ThomasStefan

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Da stehen die beiden, inmitten von Bleistiften und Kugelschreibern: Zwei buntbemalte Holzpuppen, Mann und Frau darstellend. Die Figuren sind maximal daumendick. Zuerst meint man, es handele sich um Schreibwerkzeuge, aber das trifft nicht zu. Ihre Funktion bleibt zunächst ein Geheimnis. Äußerlich dominiert bei ihnen die Farbe Rot, aber auch Gelb und Schwarz findet sich, wenig Blau. Die Köpfe und Gesichter sind geschlechtsspezifisch ausgeführt: Die Frau ziert ein Kopftuch, der Mann besitzt ein flaches Hütchen und trägt einen altmodischen Schnauzer. Alle diese Accessoires sind nur aufgemalt, genauso wie die folkloristische anmutenden Joppen. In der Länge überragen die Püppchen ein wenig die benachbarten Stifte, mit denen sie zusammengepfercht in einem alten Kaffeebecher stehen. Sie blicken hinaus in eine fremde Welt, in die es sie zufällig verschlagen hat.

In meinen Besitz gelangten sie als Folge einer zufälligen Begegnung mit einem Lastwagenfahrer. Etwas verloren stand er, ein Mann zwischen fünfzig und sechzig Jahren, mitten auf einer vierspurigen Strasse neben dem Fahrerhaus eines riesigen LKWs und blickte immer wieder suchend hin und her. Ich war auf dem Weg zu meinem Hausarzt und sprach ihn an. „Vakzina“, kam es aus ihm heraus, er deutete auf eine Adresse auf einem verknitterten Zettel in seiner Hand. Nach und nach begriff ich: Ein osteuropäischer Fernfahrer war mit seinem Truck in die Innenstadt geschickt worden, um sich bei einer Impfstelle versorgen zu lassen. Abenteuerlich! Ich zeigte ihm für sein Riesengefährt eine mögliche Parkgelegenheit in einer Seitenstraße und beschrieb den weiteren Weg zur Impfstelle. Er nickte mir dankbar zu und bestieg sein Fahrzeug. Als ich kurze Zeit später mit meinem Rezept wieder aus der Praxis kam, lief er mir just in dem Moment entgegen. Er hatte glücklich, aber halt verboten eingeparkt und wollte sich zu Fuß auf den Weg machen. Da ich Zeit hatte, beschloß ich kurzerhand, ihn zu begleiten.

Während wir gemeinsam Richtung Innenstadt liefen, verständigten wir uns so gut es ging, redeten mit Händen und Füssen über alles Mögliche. Er sei, so erklärte er mir, ein ukrainischer Fahrer, der für eine polnische Firma Schwertransporter durch Europa lenke. Er solle und wolle die Gelegenheit nutzen für eine Corona-Impfung und sei dafür in einem Zentrum angemeldet. Es war Anfang Februar, noch vor Beginn des Krieges in der Ukraine, aber die russische Bedrohung wuchs von Tag zu Tag. Bei dem Stichwort Putin machte er ein ernstes Gesicht und winkte ab. Wir hatte beide noch Hoffnung, dass es glimpflich ausgehe.

Das Impfzentrum hatte geschlossen, öffnete erst nachmittags. Deshalb gingen wir zu einer großen Apotheke. Dort konnte man auch nicht helfen, aber dank russischer Sprachkenntnisse die Situation erklären. Ich schleppte ihn in eine Arztpraxis im Nebenhaus, die bekanntermaßen impfte. Eine volle Praxis, gequälte Gesichter der Helferinnen, in denen man lesen konnte: Was wollen die denn?! Der mir bekannte Arzt aber war sofort willig, zu helfen und zu impfen. Letztlich gab es doch keine Impfung, trotz verschiedener Telefonate: Die nötigen Papiere fehlten, kein Impfausweis und so weiter und so fort. Wahrscheinlich war alles im Vorfeld bereits organisiert und mit dem Impfzentrum abgesprochen worden.

Wir trollten uns und gingen zurück. Meine Enttäuschung war größer als die seine. Er sollte halt am Nachmittag nochmals das Zentrum aufsuchen, wahrscheinlich wieder mit seinem Truck vorfahren. Eine seltsame Art, Menschen in der Fremde loszuschicken. Doch womöglich wäre er dann wieder auf Tour, wie er andeutete, und es würde nichts werden. Er lächelte und zuckte mit den Schultern: Egal! Als wir uns vor seinem LKW verabschiedeten, wollte er mich so nicht gehen lassen, obwohl alles vergeblich gewesen war. Ich ahnte: Er wollte mir etwas schenken. Vielleicht eine kleine Flasche Wodka. Diese Minifläschchen hatte mir früher immer jemand, der in Polen gebürtig war, verehrt. Mein neuer ukrainischer Freund wühlte eine Weile in seinem Fahrerhaus herum und endlich präsentierte er mir freudestrahlend die besagten Holzpüppchen. Er lachte über das ganze Gesicht, konnte sich kaum einkriegen. Selbstredend durfte ich nicht ablehnen. Er grinste immer mehr, hielt mir die Puppen vor die Nase und zog plötzlich die vermeintlichen Kinderspielzeuge dank eines verborgenen Mechanismus in ihrer Mitte auseinander. Es sah aus, als könnten die Puppen die Hosen runterlassen - und dabei entblößten sie ein angedeutetes Geschlechtsteil. Er schüttelte sich vor Lachen, ich hielt die Luft an, war völlig perplex …und lachte schließlich mit. Er drückte mir das Holzpärchen als Geschenk in die Hand. Ich bedankte mich, hatte aber ein schlechtes Gewissen, da ich nichts erreicht hatte. Wir winkten uns zu und beschämt zog ich von dannen.
— Natürlich habe ich den Mann nie wieder gesehen. Ich hoffe, dass er doch noch geimpft wurde und darüber hinaus in Sicherheit ist, vielleicht irgendwo auf Tour durch Europa.

Inzwischen erleben wir diesen schrecklichen Krieg in der Ukraine und das Lachen ist uns vergangen. Mich beschleicht das Gefühl, meine Begegnung mit diesem Ukrainer könnte ein Synonym sein für unser Verhältnis zu seinem Land: Wir Deutschen freundlich-bemüht, aber letztlich erfolg- und hilflos, erstickt in Bürokratie. Der Ukrainer dagegen nickt und sagt: Okay, ich sehe selbst zu, wo ich bleibe, richtige Hilfe kommt offenbar nicht.

Das Puppenpaar steht still auf meinem Schreibtisch. Ihre derbe Kunst zeigen sie nicht. Gemeinsam hoffen wir auf bessere Tage.
 
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GerRey

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Hallo ThomasStefan!

Sehr gut erzählt; man kann dem Hergang folgen, ohne dass es langweilig wird, und wird dabei auch an die Tücken unserer modernen Welt erinnert.

Ich wünsche Dir noch viel Spaß mit Deinen Puppen: Es ist nicht immer schön, wenn man die Hose runter lassen muss - dafür aber echt. Vielleicht dachte sich das der Fernfahrer, als er Dir die Puppen übergab?

Gruß

GerRey
 

ThomasStefan

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Hallo GerRey!
Sorry für die etwas späte Antwort, aber wegen Ostern war es nicht eher möglich.
Danke für deine positive Bewertung und den Kommentar. Diese Story kann man sich kaum ausdenken, sie ist einfach passiert. Die besten Geschichte schreibt wohl das Leben. Die Puppen und ich, wir starren uns jeden Tag ratlos an, während der Irrsinn in der Ukraine weiter tobt.
Nach langer Zeit habe ich hier wieder mal was veröffentlicht. Werde mich jetzt umschauen und hier auch wieder kommentieren.
Gruß zum Feiertag, Thomas
 

ThomasStefan

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Vielen Dank, Doc, für dein Lob. Das ermuntert mich, nach einer langen Phase der Untätigkeit wg. Corona wieder zu schreiben.
LG Thomas
 

Aledi

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Hallo Thomas,

ich habe deine Geschichte gern gelesen. Sie ist sehr gut erzählt. Dein Schreibstil gefällt mir.

Liebe Grüße Aledi
 
Außer einem dicken Lob bleibt mir da nicht viel zu sagen: Eine gute, hintersinnige Geschichte, präzise, flott und mit Selbstbewusstsein erzählt.
(Ich hoffe, dies kommt nicht gönnerhaft herüber, denn so ist es in keiner Hinsicht gemeint: Ich fühle und fiebere immer mit dem Autor, den ich lese.)
Gruß, Gerold
 

ThomasStefan

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Hallo Gerold, danke auch für dein Lob. Ich freue mich ebenso über die breite Zustimmung, die ich im Bekannten- und Freundeskreis erfahre. Nur eine Freundin war nicht ganz einverstanden mit der angedeuteten totalen Hilflosigkeit. Okay.
Jetzt haben wir schon 100 Tage Krieg. Anfangs dachte ich, der Text wäre bald überholt. Und?!
Beste Grüße, Thomas
 



 
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