Das Geheimnis des Liebesschreins

GerRey

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Nachdem ich gestern gegen 17:30 zu Bett gegangen war, las ich noch ein wenig im Roman des Literaturnobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez “Erinnerung an meine traurigen Huren”, konnte aber nicht mehr lange die Augen offen halten, sodass ich mich, nach ein paar gelesenen Seiten, schlafen legte, nachdem ich seit Mitternacht auf gewesen war. Ich erwachte dann zwanzig Minuten nach zwei Uhr morgens, hatte also fast neun Stunden geschlafen, und fühlte mich frisch und ausgeruht. Wann zuletzt das so gewesen war, wusste ich nicht zu sagen. Während meiner Nachtdienstzeit, die ich jetzt abrupt durch letztendliche Kündigung hinter mich gebracht hatte, schlief ich maximal fünf Stunden. Und wenn es doch einmal vorkam, dass ich sechs oder sieben Stunden schlief, fühlte ich mich hinterher wie gerädert.
Es war zwar ein bisschen seltsam, um zwei Uhr morgens aufzustehen, ins Bad zu gehen, sich zu rasieren und zu duschen - aber das war es auch, wenn man das - wie ich bisher - gegen fünfzehn Uhr nachmittags tat. Bei der Rasur - ich rasiere mich nur nass - überlegte ich, ob ich meine Haare und den Bart wieder wachsen lassen sollte. Vielleicht wie früher, in den alten Rockerzeiten?
Während das warme Wasser - nach einer kurzen, bewusst herbeigeführten Kaltwassereinlage - wieder auf mich herabrieselte, kam mir plötzlich unter der Dusche in den Sinn, mein Rory Gallagher Shirt heute anzuziehen. Wie und was und warum kann ich nicht sagen. Der Gedanke war einfach da. Das Shirt hatte ich lange nicht getragen - aber Rorys Musik hörte ich nach wie vor, am liebsten live. Wann hatte ich ihn das letzte Mal live vor seinem Tod gesehen? Es muss Ende der Siebziger im Konzerthaus gewesen sein. Da sah man noch nichts von der Alkoholkrankheit, die ihn später so aufgedunsen aussehen ließ. Da waren wir alle noch spritzig und rockig unterwegs. Ich musste dieses Shirt heute unbedingt anziehen, um seiner zu gedenken. Also kramte ich in meinen Schränken danach - nackt wie ich war, nachdem ich mich abgetrocknet hatte.
Im Schlafzimmer, das ich seit J. mich vor mehr als zwei Jahren verlassen hatte, nicht mehr zum Schlafen nutzte, waren die Vorhänge aufgezogen. Dennoch machte ich Licht, da das Schlafzimmer in den Garten hinaus geht und zwischen der dahinterliegenden Gasse und meinem Grundstück noch ein Haus mit Garten dazwischen liegt. Außerdem - wer sollte jetzt, nach zwei Uhr morgens dort herumlaufen, in mein erleuchtetes Fenster schauen und mich nackt beobachten?
Ich fand das Shirt in einem Hängeschrank - gebügelt, zusammengelegt und mit anderen gestapelt. Aber daneben, in der Ecke zwischen dem Stapel Shirts und einer Trennwand, war auch noch etwas Anderes - etwas Dunkles, lila Glänzendes, an das ich mich im ersten Moment nicht erinnern konnte.
Eine Unterhose - ein Geschenk aus der Zeit mit J., wie mir langsam dämmerte. Es ist unzweifelhaft eine männliche Unterhose (zuerst hatte ich gedacht, es wäre eine Badehose). Der Stoff aber ist dünn und weich wie bei einer Damenunterhose, dunkles Rot (fast dunkelbraun) und alle zwei Zentimeter dünne, schwarze Querstreifen - aber durchsichtig wie bei einem Strumpf. Das war wohl ihre Vorstellung von Erotik.
Ich bewahrte Teile ihrer Unterwäsche in einem kleinen, holz-geschnitzten Schrein auf, der einmal irgendwo eingelassen gewesen sein muss - in einen Schrank oder eine Mauer, vielleicht? Ich hatte diese Antiquität am Flohmarkt gekauft, ohne recht zu wissen, was ich damit anfangen sollte. Die Vorderfront ist etwas grob mit dem Messer geschnitzt - wie die Schnittführung zeigt. Den schmucklosen Korpus überdeckt der verschnörkelt und teilweise floral durchbrochen geschnitzte Rahmen, das Türchen darin - 22 x 15,5 cm - hat in seiner Mitte einen von oben nach unten verlaufenden konischen Ausschnitt, dessen schmales Ende unten, sowie das breitere oben gebogen sind. Darin zeigt sich eine Art geschnitzter Blume, die jedoch eine Blüte hat, die eher an ein Eichenblatt erinnert. Früher mag die Auslassung mit einem roten Tuch innen abgedeckt gewesen sein (Spuren davon finden sich an der Rückseite des Türchens). Die alten Beschläge und das kleine Schloss sind aus dünnem Blech, ebenfalls mit Schnörkel verziert; leider fehlt der Schlüssel.
Das Innere des Korpus ist ebenfalls schlicht, und in zwei Fächer unterteilt: Hierin deponierte ich die erotische Kriegsbeute, die ich J. im Spiel abgenommen hatte und die von Zeit zu Zeit wieder geleert wurde. Als J. vor mehr als zwei Jahren ging, nahm sie alles mit. Dennoch ist darin noch ein Beutegut verborgen, das zwischenzeitlich hereinkam und nicht mehr von ihr stammt - um den Brauch nicht ganz zu vergessen und dem Schrein seinen Sinn zu belassen, gespendet (erbeutet) von einer schönen, eleganten Frau, die nicht nur für die Idee zu gewinnen war. Sie war - eigentlich eine Zufallsbekanntschaft (ihre Mutter war ein paar Jahre jünger als ich und befreundet mit einem Mädchen, das damals sehr in mich verliebt war; darauf hatte sie mich am Gartentor angesprochen, ob ich ihr von ihrer Mutter und der Zeit von damals erzählten könnte). Das Verhältnis mit dieser Erscheinung aus der Frucht eines Leibes, den ich nie begehrt hatte - zumindest soweit ich mich zurück erinnere -, war kurz und prickelnd.
Manchmal gehe ich hin und öffne den Schrein. In dem cremefarben Spitzenhöschen hängt noch der Duft der Schönen, für die ich “Der Kuss des Harlekins” damals schrieb und ihn ihr überließ, und frage mich, ob die einstige Besitzerin mich in dieser Sentimentalität mit ihr verbunden bleibend sah und manchmal - vielleicht ebenso eine Regung verspürend - daran dachte, wie ich hier stünde, die Finger in dem weichen Stoff, der im Vorderteil mit Spitze besetzt ist, und daran meine Erinnerung an sie auffrischte und mich fragte, was es sowohl für mich als auch für sie zu bedeuten habe - etwas, das die Realität nicht zu fassen vermochte, etwas, wie eine stillschweigende Übereinkunft, ein Geheimnis, das zwischen uns lag und vergessen werden sollte, außerhalb der Stille dieses Schreins. Aber in dem Schrein ist auch noch etwas Anderes.
Als ich eines Tages meinen Schreibtisch aufräumte, nachdem mich J. verlassen hatte, fand ich einen alten Bilderrahmen wieder, in dem das erste erotische Foto meiner Sammlung steckte. Ich hatte es unter einem Konvolut Fotos, das ich vor langer Zeit ersteigert hatte, gefunden, und es hatte mir so gut gefallen, dass ich beschlossen hatte, solche Dinge zu sammeln. Es war ein Kleinod, gerade mal 9 x 6 cm groß, schwarzweiß, aus der Zeit der späten Vierziger oder Anfang der Fünfzigerjahre des vorigen Jahrhunderts. Eine Frau, in der zweiten Hälfte der Zwanziger, liegt - nackt, bis auf das dunkle Band ihrer Armbanduhr - auf einer Couch; unter ihrem Rücken ein Polster. Ihre Arme sind abgewinkelt - die rechte Hand scheint auf der im Dunkel liegenden Armlehne der Couch zu liegen, die Linke ist in ihrem dunklen, schulterlangen Haar. Sie blickt nach oben - in einer Art Verzückung, mit einem Lächeln im geschminkten Mund, das die Zähne zeigt. Sie hat eine füllige Brust, ebensolche Hüften, ohne dick oder mollig zu sein. Ihr linkes Bein steht angewinkelt auf der Sitzfläche der Couch; das rechte geht über die Sitzfläche hinaus auf den Boden außerhalb des Bildausschnitts. Zwischen den offenen Beinen zieht sich trichterförmig, volles, buschiges Schamhaar. Im rechten Drittel des Bildes sieht man die kauernd sitzende Gestalt eines Mannes in einem Anzug. Sein Kopf - das Gesicht auf das Geschlecht der Frau gerichtet - ist in Kniehöhe ihres linken, aufgestellten Beines. In beiden Händen hält er eine Weinflasche, deren Öffnung im dünnen, länglichen Flaschenhals bereits zwischen den Schamhärchen verschwunden ist.
Natürlich war diese Aufnahme gestellt; man hatte sie wohl “unter der Hand” in einschlägigen Etablissements angeboten, wie ich annehme; soziologisch gesehen, ein interessantes Zeitdokument.
Ich ging dann auf den Flohmarkt, um mir einen passenden Rahmen zu suchen. Sollte ich einen Prunkrahmen nehmen? Das wäre vielleicht für einen Puff angebracht. Ich nahm ein schlichtes Ding, 14 x 9 cm. Der Bildrahmen ist schwarz, dünn und aus Eisen, in das ein wellenförmiges Muster geprägt ist. Hinter Glas war ein Goldpapier, das wahrscheinlich auf Käufer aufmerksam machen sollte. Der Hinterteil ist aus alter, ausgeleierter Pappe, die mit umgebogenen Metallzähnchen an dem Rahmen gehalten wird. Er hat eine Öse zum Hängen und einen Steher aus selber Pappe wie der Hinterteil des Rahmens. Dieser ist aber schon so beschädigt, dass er kaum noch seinen Zweck erfüllt. Ich setzte das Foto einfach auf das Goldpapier und stellte den Rahmen auf meinen Schreibtisch (als J. in mein Leben trat, verbannte ich das Bild in eine Schreibtischlade).
Jetzt hat es seinen Platz im oberen Fach des Liebesschreins, während im Fach darunter immer noch die köstliche Liebe dieser wohltuend interessierten Frau nachglüht.
 



 
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