Das Gemetzel im Maisfeld

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Sie sagt, es sei früh kalt geworden, sie sei noch nicht daran gewöhnt, und tritt näher zu mir heran in den kleinen Sonnenfleck neben der Bushaltestelle. Die fremde Dame ist unauffällig, nicht groß und noch nicht wirklich alt.

Momentan gehe es ihr gar nicht gut, sagt sie dann, gerade jähre sich der Todestag ihres Mannes zum vierten Mal. Ich mache dazu die konventionelle Miene beiläufigen Bedauerns.

Es war auch zu schlimm damals, fährt sie fort – ein Jagdunfall, fürchterlich.

Ach, wie denn das …?

Er war doch ein erfahrener Jäger, war sogar im Fernsehen … Sie haben in Brandenburg ein Revier gehabt, da ist er mit einem jüngeren Jäger gewesen, und sie haben Wildschweine in einem Maisfeld aufgescheucht. Der andere hat auf ein Schwein geschossen und wurde selbst verletzt …

Ich frage nicht nach den Einzelheiten und sie erzählt gleich weiter: Mein Mann wollte ihm helfen, da kam der angeschossene Eber und hat ihn hier unten … Sie deutet mit der Rechten an, wie ihn die Hauer aufgeschlitzt haben.

Ja, da war alles anders geworden, von einem Tag auf den anderen. Denken Sie nicht, dass ich sonst wildfremde Menschen anspreche. Nur jetzt, in diesen trüben Tagen …

Ich vergegenwärtige mir die Szene damals im Maisfeld, drücke mein Entsetzen aus, so gut ich kann. Die Dame setzt das Gespräch fort und zeigt auf die Gebäude gegenüber – in einem davon wohne ich – und berichtet: Da zwischen den Häusern habe ich vor kurzem auch ein Wildschwein herumlaufen sehen. Ich habe beim Forstamt angerufen, aber es war wohl zu weit für sie bis zu uns in die Stadt. Am Ende ist es aus dem Gehege in den Rehbergen ausgebrochen …

Ach wo, sage ich, ganz sicher nicht. Das sind doch so alte Tiere … Und ich denke, sie hat es nicht wirklich verarbeitet. Ich kann mir Wildschweine bei uns noch nicht vorstellen, denn ich war Jahrzehnte weg, bin erst vor kurzem in die Stadt zurückgekehrt. Tatsächlich jedoch wird wenige Tage später ein wildes Schwein drei Menschen in einem Nachbarstadtteil attackieren. Nach einer Kollision mit einem Auto lief es mit verletzten Hinterläufen Amok, wird eine Zeitung schreiben. Berlin wird also wilder.

Nein, Schweine hier, unglaublich, sage ich. Und: Aber Füchse habe ich schon gesehen.

Ja, Füchse, die gibt’s natürlich … Lebhafter als vorher erzählt sie noch: Neulich saß einer vor einer Fußgängerampel und hat genau abgewartet und geschaut, bis es grün wurde, dann ging er rüber, stellen Sie sich das vor! – Jetzt lächelt sie beinahe.

Unser Bus kommt. Wir steigen ein und sind Fahrgäste wie andere, die stumm ihrem jeweiligen Ziel entgegenfahren.
 



 
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