Das gescheiterte Verständnis

Laiger

Mitglied
„ … und manchmal habe ich regelrecht das Gefühl, dass unsere Sprache ihre Funktion verliert.“

„Danke Thomas, das war sehr aufschlussreich. Der Nächste.“ Seine Bemerkung schien ehrlich. Allgemein fühlte ich mich ihm bereits sehr nah, er wirkte von Grund auf freundlich und einladend. Er führte wahrscheinlich den Beruf aus, für den er bestimmt war. Diese Überlegung beruhigte mich.

„Guten Abend, ich bin David“, sagte mein Sitznachbar, worauf das immer pünktlich folgende, monotone Raunen einsetzte. Über David dachte ich genau gegensätzlich.

„Ich zweifle oft an mir selbst, ich fühle mich einfach unwohl in meinem Körper, so als ob ich falsch abgebogen bin, und mein eigentlicher Pfad entfernt sich mit jedem Tag nur weiter von mir.“

Doch meine Einschätzung entwickelte sich ausschließlich aus dieser seiner Vorstellung der eigenen Person, es war somit keine Ahnung die mich beschlich, sondern vielmehr eine simple aurale Sinneswahrnehmung.

Auch bei ihm bedankte sich der Leiter. Nun sollten wir uns gegenseitig befragen. Wir waren alle etwas zögerlich, denn wir kannten uns noch nicht wirklich. Marvin fragte mich nach meinem Umfeld, und ich antwortete entsprechend kurz. Ich fragte Edwin, ob er bereits mit seinen Kindern darüber sprechen konnte, und er sagte, dass das die Anwälte zu entscheiden hätten. Eine sehr bedrückende Antwort, vor allem, weil ich deren Inhalt nicht verstand, und mich somit wieder meiner eigenen Dummheit konfrontiert sah.

Keiner der Anwesenden war perspektivisch gesehen hoffnungsvoll, doch es schien mir, als ob uns etwas verbinden würde. Meine Beschwerden führten nicht über das Unverständnis hinaus, dass mich überkam, wenn die Welt sich anders als von mir erhofft verhielt. Mich überkamen Fragen wie „Verliere ich meinen Halt in der Gesellschaft ?“, und ähnlich Bedrückendes. Die anderen aber hatten weitreichendere Sorgen: Kinder, die entrissen werden würden; kleine Brüder, die drohten zu entgleiten; Ehepartner, deren jetziges Ich sich von den gemeinsamen Erinnerungen distanzierte. Bei allen drohte eine konkrete Entfremdung. Und da begriff ich ihren Schmerz.

Danach war die Zeit vollends verstrichen und wir wurden in den Abend verabschiedet. Vor der Tür bildeten sich vereinzelt Grüppchen, deren Gespräche von Neuem und Altem handelten. Ich traute mich allerdings nicht, offen zu einer der Gruppen gehören zu wollen und verließ dementsprechend hastig die Menschen, die sich mir gerade noch anvertraut hatten.

Eigentlich war ich nur dorthin gegangen, um die Probleme meiner Mitmenschen spürbar vermittelt zu bekommen. Ich lebte in einer Stadt, in der niemand mit mir redete. Die Gebrechen der Menschen wurden für mich am deutlichsten durch den Fernseher und dessen Anschaulichkeit präsentiert. Die Farben spiegelten eine Hyperrealität wieder, die ich in der Außenwelt sehnlichst zu vermissen begann. Selbst Graffiti glichen nur noch einem Schatten ihrer digital aufgenommenen selbst. Ich empfand, dass alle möglichen Kombinationen des Menschseins bereits erfunden und in allen Variationen dargestellt wurden. Da fing ich an zu verstehen, dass eine Wandlung meinerseits herbeigeführt werden musste. Aus diesem Grund habe ich mich bei dieser wöchentlich stattfindenden Veranstaltung angemeldet.

Das nächste Treffen fand dementsprechend in der darauf folgenden Woche statt.
Der Leiter wies uns an, durch kleine einfach umzusetzende Ziele eine sukzessive Verbesserung der Umstände zu erreichen. Jeder von uns sollte also zuerst über die eigene Situation nachdenken, und dann unseren Lösungsvorschlag präsentieren. Falls jemand unschlüssig war, sollten wir alle im zweiten Schritt ein mögliches Ziel für die individuelle Situation des Teilnehmers überlegen.

Für mein Leben kam mir sofort eine Idee.
Ich muss für mich eine Freizeitbeschäftigung mit einer sozialen Komponente finden, um so auf lange Sicht gesehen zwangsläufig in Positionen zu geraten, in denen näherer Kontakt mit mir fremden Personen unausweichlich wird.
Das war sinnig.

Sprayen wäre ein mögliches Hobby gewesen, bei gemeinsamen illegalen Aktivitäten ist man bereits im Geiste vereint, die Freundschaft entwickelt sich dadurch zügiger.
Hierbei musste ich auch gar nichts weiter ausschmücken, die Beteiligten verstanden meine Intention und stimmten dem Plan zu.

Für die anderen hatte ich keinen passenden Ansatz parat, meine Lösung konnte leider auf keinen der ihren Umstände angewandt werden. Allerhöchstens David hätte davon profitieren können, auch bei ihm wäre ein Hobby empfehlenswert gewesen, doch vor allem für den Zweck der Beschäftigung, es hätte ihn abgelenkt von den Zweifeln.

So sprachen wir alle erneut im Kreis, und diesmal wurde sich aktiver ausgetauscht. Manche hatten alleine keine Antwort für sich gefunden, doch ihnen konnte immer ein Ratschlag entgegnet werden. So half man sich. Das Treffen neigte sich wieder dem Ende. Es wurde viel Tatendrang geschaffen. Vor dem Ausgang schaute ich allen ein letztes Mal in die Augen und verließ danach wieder zügig den Ort.

Da entschied ich mich, den weiteren Treffen nicht beizuwohnen. Dieses Gemeinschaftsgefühl zwischen allen Ansässigen war überwältigend. Aber gleichzeitig beschlich mich die Angst, unrechtmäßig in deren Leben einzutauchen. Ich wollte keine Verantwortung für ihr Schicksal spüren. Ich wollte den Moment der Hoffnung für mich festhalten, ohne dabei den Blick auf die zerstörerische Zukunft riskieren zu müssen. Manchmal erwische ich mich bei dem Gedanken, die mir besonders im Gedächtnis Verbliebenen aufzusuchen, und sie zu fragen, wie es ihnen über die Jahre denn erging.
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten