Das Geschenk

joergheeb

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Sie war immer schon da, wenn er fünf, sechs, manchmal auch zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit aus dem Bus stieg und zum Bahnhofplatz hinüberblickte. An eine der Telefonkabinen gelehnt, das rechte Bein über Kreuz mit dem linken, stand sie da und las in einem Taschenbuch (meist ein blauer Suhrkamp-Band: Frisch oder Brecht oder Nooteboom); und wenn er dann angerannt kam – er rannte jedes Mal, weil jede Sekunde, die er ohne sie verbrachte, eine ungeheure Zeitverschwendung war –, sie umarmte und küsste, drückte sie ihn stürmisch an sich – stürmisch und so fest, dass er kaum mehr zu Atem kam – und flüsterte oder murmelte oder jauchzte ihm einen dieser Sätze ins Ohr, die so typisch für sie waren: „Ich glaube, ich mag dich ein bisschen ... ein bisschen sehr!“ oder „Wahrscheinlich sollte ich dir das nicht sagen, aber mir geht es gerade fast zu gut.“

Und er? Für ihn war alles ein einziges mächtiges Staunen, eine unbändige und herrliche Fassungslosigkeit: „Hä?! Wie kann das sein, dass sie ausgerechnet mich auf diese ungestüme Weise umarmt, ausgerechnet mir all diese wundervollen Dinge ins Ohr flüstert, jauchzt und murmelt? Sie muss doch wissen, dass sie um Welten zu schön, zu klug, zu gütig ist für mich.“ Er war nicht das erste Mal verliebt, aber es war das erste Mal, dass das Verliebtsein ihm als sprudelnder, schäumender Strom Herz und Seele flutete – alles viel zu viel und doch nie genug.

Und jetzt, während er sich daran erinnert, wie er an jenem einen Samstagabend beim Verlassen des Busses seinen Blick über den Bahnhofplatz schweifen ließ und sie nirgends entdecken konnte – nicht bei den Telefonkabinen und auch nicht am Kiosk, wo sie sich manchmal Kaugummis kaufte, oder vor einem der Loeb-Schaufenster –, fällt ihm auch das Geschenk für sie wieder ein, das er damals bei sich trug: eine Erstausgabe von Conrad Ferdinand Meyers „Gedichte an seine Braut“. Er hat das schmale Bändchen in derselben Nacht, kurz nachdem ihre Schwester ihn angerufen und ihm mitgeteilt hatte, Sonja sei tödlich verunglückt, ausgepackt und ins Bücherregal gestellt.


Er geht zum Bücherregal – es ist nicht mehr dasselbe, er hat sich vor einigen Jahren ein neues gekauft – und fährt mit den Fingern den Buchrücken entlang: Ringelnatz … Benn … Hölderlin … Celan … Rilke … Eichendorff … Trakl … C. F. Meyer, Gedichte an seine Braut.
 



 
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