Das gestorbene Kind

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Der Vater des toten Kindes ist ein sehr großer Mann.
Schmal, fast hager schlackern seine langen Gliedmaßen im rauen Lebenswind, aber jetzt nicht, denn jetzt sitzt er.
Was für eine Tragödie, wenn so etwas passiert, was passiert ist. Es ist passiert.
Die Dramatik aus den eigenen Büchern hat den Schriftsteller eingeholt, hat sich platt auf diesen Schreiber draufgesetzt, der sein Geld mit den Tragödien anderer macht, wenn er die Tragödien nicht einfach aus der Luft heraus erfindet.
Da sitzt er nun, der Vater, dem jüngst das Jüngste weggestorben ist.
In seinem akkurat angepassten Anzug in Schwarz wirkt er wie aus der Zeit gefallen.
Wenn man ihn so ansieht, er könnte auch von Wilhelm Busch gezeichnet sein, und nur das schreckliche Unglück überdeckt die schlaksige Komik eines Lehrer Lämpel, was man aber ohnehin nicht über einen frisch verwaisten Vater denken darf und aufschreiben schon gar nicht.
Das Glas mit den Eiswürfeln, der komplette Tisch, seine Frau, das noch lebende Kind, alles ist in ein trauriges blaues Licht getaucht. Es ist deutlich bedrückend, hier beizusitzen.
Wenn der Vater spricht, hält er sich intuitiv an irgendwas fest, und überraschend fest ist auch seine Stimme. Das bläuliche Glas dreht er unschlüssig in seiner Hand, als würde er am Inhalt schwer zweifeln.
Frau und Kind scheinen keine Sprechrolle zu haben, aber ehrlich gesagt, ich wüsste auch nicht, was zu sagen wäre.
Aber dringend sollte man etwas sagen, damit einen die kreischende Stille nicht erstickt.

Man möchte ausbrechen aus der Situation.
Gleichzeitig schäme ich mich, denn am wenigsten ausbrechen kann der Vater selbst.
Die Mutter schon gar nicht, deren Augen rot und leergeweint sind. Das verbliebene Kind wirkt nur leer. Statisten in schwarz, dunkelgraue Puppen, die jemand gedankenlos aus dem Regal geholt und vergessen hat.
Sie bleiben noch festgeklebt an diesem unglücklichen Tisch, während alle anderen später wieder in ihre eigenen Tragödien eintauchen werden, welche mit Sicherheit vorerst viel seichter sind.
Weil keine Wortlaute kommen, drängt es mir plötzlich nach einer Bewegung, und in der erstbesten, die mir einschießt, greife ich nach dem Heftchen auf dem Tisch, das ich für eine Speisekarte halte.
Es ist keine.
Verblüfft starren mich grotesk leere Seiten an, als wäre neben den Worten auch das ganze Essen ausgegangen; als solle nichts in den Mund hinein- oder hinausgehen.
Aber irgendwas muss man doch immer in sich hineintun oder aus sich befreien, deshalb wende ich mich verschämt an meinen Tischnachbarn, was das mit dem Heftchen auf sich hat, aber der weiß auch nichts.

Na, da hab ich vielleicht was losgetreten.
Der Vater fühlt sich sogar bemüßigt, aufzustehen.
Das Glas hält er immer noch in der Hand, und die Eiswürfel klirren, als er damit in meine Richtung zu schwenken scheint.
„Liebe Familie, Freunde“, hebt er an, und ich kann mich schwerlich entscheiden, ob diese Stimme besoffener klingt als sie traurig ist. Natürlich dankt sie uns für unsere Anwesenheit in dieser düsteren Stunde dankt.
Ich weiß ja, dass es nicht fair ist, aber ich bin dennoch enttäuscht, dass da nichts anderes von ihm kommt als es in dieser Situation auch von jedem anderem kommen würde.
Immerhin ist er der Mann der großen Worte, die er kreativ und treffsicher in Bücher zu schreiben weiß.
Nun also doch nur das gängige Blabla: „einander beistehen … unvorhersehbares Schicksal … kostbares Leben … Eltern, Kinder, Liebe … Tod“
Die ganz Großen hat er im Repertoire, aber er würfelt sie nicht neu zusammen, was aber auch zu viel verlangt wäre.
Das ist nun mal nicht der Ort und nicht der Moment, um kreativ zu würfeln.
Ein Vater spricht, und kein Sprachkünstler, und doch, das kreide ich ihm an, künstelt er angestrengt vor sich hin.
Es ist nicht wirklich echt, was er sagt, und es tut mir wahnsinnig leid, dass er nicht mal jetzt echt sein kann. Für alle Beteiligten tut mir das auf einmal wahnsinnig leid.
Was der Vater nicht tut, wäre so viel größer.
Es wäre so viel größer, wenn er sein Glas an die Wand schmisse, wenn er seinen Kopf auf den Tisch knallte oder ihn zwischen die Beine steckte und auf dem Boden wimmerte wie das eine Kind, das nicht mehr wimmern kann.
Der Vater reißt sich zusammen, und reißt sich damit kräftig auseinander, und mir zerreißt es das Herz, das alles.

Meine ausschweifende Gedankenabschweifung allerdings rächt sich sogleich.
Ich hätte wohl doch besser zuhören sollen, denn auf einmal sehe ich mich äußerst unerwartet mit der allgemeinen Aufmerksamkeit konfrontiert.
Im Ernst, alle Augen sind auf mich gerichtet, dass ich mich fragen muss, ob ich mich irgendwie danebenbenommen hätte.
Aber mir dämmert nichts, weil ich außer Sitzen ja doch nichts getan habe und mit Sitzen nichts anderes als die anderen auch.
Trotzdem bohren sich völlig unverfroren die Blicke in mein rotwerdendes Gesicht, ohne dass es dafür eine Erklärung gäbe, und so schaue ich mäßig verdutzt auf meine Mitmenschen zurück, als wären sie gehirnamputierte Zombies nach einer Alien-Invasion, bei der ich zufällig vergessen wurde.
Der Vater spricht immer noch.
„Vielleicht erinnert ihr euch persönlich an eine Begegnung mit unserem geliebten Sohn“, an dieser Stelle bricht der Stimme ein wenig die Festigkeit weg, zu konkret sind die Bilder und Gedanken, die das soeben Gesagte heraufbeschwört, „bestimmt haben viele von euch Adrian kennenlernen dürfen.“ (Rückblickend ein Privileg, das sich auf die betrübliche Kürze des jungen Lebens stützt.)
Immer noch weiß ich nicht recht, was Sache ist und was an mir wäre, dass es mich auf den unverhofften Präsentierteller gehievt hätte.
Der Vater ist aber auch noch nicht fertig. Die Stimme holt sich neuen Schwung.
„Schreibt auf, was euch spontan in den Sinn kommt, eine Anekdote, eine Geschichte, einen Witz…“
(appellierend)
Und ergänzend: „Adrian war ein fröhliches Kind…“
(als würde das irgendwas erklären)
(Pause)
„…und von dir, mein Freund, werter Kollege“ - der Vater holt aus und deutet nun unmissverständlich direttissimo auf meine Person - „erwarte ich natürlich etwas...“
Was genau er sich von mir erwartet höre ich schon nicht mehr, das Blut rauscht mir zu laut in den Ohren; aber ich glaube auch gar nicht, dass er seine Erwartungen noch weiter ausgeführt hat.
Wenigstens fange ich nun an zu verstehen, was es mit der ganzen Glotzerei auf sich hat.
Ich halte nämlich immer noch eins von diesen Heftchen in meiner Hand, die der Vater offenbar als makabre Totenbücher ausgelegt hat, um seinen Sohn durch unsere Worte wiederauferstehen zu lassen.
Als hätte ich es geahnt, habe ich als erster danach gegriffen, und nun soll ich als wesensverwandter Wortakrobat auch noch die fachfremden Laien durch den Sprachdschungel anführen.
Au scheiße.

Ich wage nicht, das Heftchen nun wieder auf den Tisch zu legen.
Nach dem offensichtlichen Verständnis der Umsitzenden gehört es doch gerade in meine schreibgewohnte Hand.
Das Papier ist dünn und sehr glatt, teuer bestimmt, und die ausgelegten Bleistifte würden mit Sicherheit darauf verschmieren.
Eingeschlagen sind die Heftchen in einen wenig festen Karton, auf dem verschiedene Grautöne wie schmutziges Wasser ineinanderfließen, also recht stilvoll, nichts anderes zu erwarten.
Nicht mehr alle gaffen, aber ich habe das untrügliche Gefühl, dass man darauf spitzt, ich möge mein erstes Wort endlich aufs Papier bringen.
Das ist erst mal ordentlich Druck, und Gift fürs Schreiben, der Vater weiß das natürlich.
Und doch will dieser augenblicklich eine Geschichte von mir, eine Andekdote, einen Witz.
Als könne ein Witz die Lage der allumfassenden Traurigkeit entreißen, nicht mal in hundert Jahren.
Die Mutter schaut auf die Heftchen wie man sonst auf haarige Spinnenbeine schaut, das verbliebene Kind schaut nur weg.
In seinem angezogenen Aufzug schaut auch der Vater ebenfalls wie etwas ziemlich Spinnenbeiniges aus, das fällt mir jetzt ein, und auch, dass das klägliche Schwarz der väterlichen Anzugshose nur noch mattmüdes schimmert.

Adrian war ein fröhliches Kind:
Das hatte der Vater grad eben gesagt, mit Nachdruck, als wären nicht alle Kinder von Natur aus fröhlich, oder als wäre das Fröhliche dieses bestimmten Kindes alleinig und vor allem sein persönlicher Verdienst gewesen.
Ich weiß nicht wirklich, ob Adrian ein fröhliches Kind war, oder ob man ihn schon gegen seine kindliche Natur erzogen hatte, und ich weiß auch nicht, ob der Vater etwas Solches von seinem Sohn mit Sicherheit zu sagen weiß.
Nur selten habe ich den Vater in Begleitung seiner Kinder getroffen, und wenn, dann sekundierten ihn seine Abkömmlinge eher als bedeutungsloses Zubehör, während man mit gebotener Ernsthaftigkeit die alten Bücher, die neuesten Artikel und die verschiedene Politik thematisiert hat.
Ehrlich, ich wusste noch nicht mal, dass das eine Kind ein Adrian war, und von Fröhlichkeit ist mir auch nicht viel aufgefallen, oder dass eine derartige Gefühlslage für den Vater nachdrücklich eine Rolle gespielt hätte.
So bleibt Adrian für mich nur ein Kind; und alles, was ich über Adrian mit Gewissheit sagen kann, ist, dass er nun ein gestorbenes Kind ist.
Die Kinder, die sich sonst so kenne, leben alle noch.
Auch das ist Teil des Dramas und will partout keinen Weg durch den Bleistift finden.

Indes kommen mir nur bitterböse Ungedanken hoch.
Ich meine, was will denn der Vater bitteschön mit unseren billigen Erinnerungen, welche zwangsläufig nichtssagend sind?
Will er sie einsammeln und abdrucken und verkaufen? Ein wortgewordenes Mahnmal zum Andenken an seinen Sohn erschaffen?
Oder will er eine Leere ausfüllen, die daher rührt, dass er sein eigenes Kind kaum gekannt hat - ein Umstand, der ihn nun als endgültige Entscheidung in die verdammte Ewigkeit begleitet?
Reicht es ihm nicht, dass ihm ein Adrian weggestorben ist, dass er sich mit unseren unbeholfenen Denkmälern später aus der sicheren Distanz selbst zu Tränen rühren muss?
Will er gar unsere weinerlichen Schriften als Produkt einem Markt zu Grabe tragen, fallen ihm keine eigenen mehr ein?
Noch nicht mal an Radiergummi hat er gedacht; Korrekturen muss ich wohl überschreiben, und dass das ein unleserliches Kauderwelsch wird, ist klar.
Dicke, heiße Tränen von irgendjemand werden die Buchstaben zu einem ähnlichen grauen Brei zerreiben, der sich schon über den gesamten Einband zieht.
Ich setze den wirklich akkurat angespitzten Bleistift auf, und minutenlang bleibt das so, ziemlich eingefroren.
Ganz wie mein momentanes Allgemeinbefinden übrigens, das kann man wohl sagen.

Adrian war ein fröhliches Kind, das schreibe ich schließlich,
und:
jedes Wort an diesem Satz ist eine einzige Tragödie.
Der letzte Punkt, welcher wohl voreilig einen Schluss markieren soll, zerfasert sich dabei ungewollt zu einem sehr langen Unterstrich.
 

Maribu

Mitglied
Hallo Dichter Erdling,

"Das verstorbene Kind" hat mir sehr gut gefallen!
Ich musste den Text allerdings mehrmals lesen,
um zu verstehen, was du damit ausdrücken willst.
Er ist ja auch phylosophisch.
Dass ich ihn nicht sofort verstanden habe, liegt wohl
daran, dass du ein Dichter und ich ein Autor bin!

Lieben Gruß
Maribu
 



 
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