Das Glas

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Marcus Soike

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In der Klinik bin ich in Watte gepackt - aber soll die Watte nur den Spritzenstich vorbereiten?

Ich rieche das omnipräsente Desinfektionsmittel schon nicht mehr, höre nicht hin, wenn der bärbeißige Pfleger mal wieder über einen Fleck auf seiner weißen Tracht schimpft.

Nur die Augen schließen, dann geht es wieder in Richtung Stille. Dann ein Olbas-getränktes Tuch vor die Nase halten, weil der Zimmernachbar nicht duscht. Sockengestank kann laut werden: Das Naseninnere kriegt Haarausfall.

Zusätzlich braucht man vielleicht Ohrstöpsel.

Tage später.

Die tägliche Routine - eingestellt. Patienten - bedarfsmäßig ruhiggestellt. Wer sich nicht ruhigstellen lässt - ans Bett fixiert.

So sieht es aus für mich.

Komme in den Genuss von Stille, mein gewaltiger Ausraster vom Vortag muss Konsequenzen haben. Zwischen Anschnallen am Abend und Abschnallen am Morgen: Stille. Eine schmerzende Stille. Sie wird erlebbar durch den schmerzenden Lärm im Kopf. Über die Brücke zwischen Morgens und Abends zu gehen, heißt Spießrutenlaufen.

So wie zwischen Zeigefinger und Ringfinger, die über die Schultafel kratzen, das Gequietsche.

Die Nacht ist lang. Stille, Starre. Liege ich mich wund, oder ist das lediglich Verwesung?

Tage später. Ich bin wieder "entfesselt".

Ich igele mich unter meiner Bettdecke ein. Aber das lautstarke Geschehen draußen auf dem Gang dringt zu mir wie in Cinemascope. Es erschallen aufgeregte Rufe von Schwestern, es geht weiter mit hysterischem Kreischen mehrer Patienten, tiefe Stimmen folgen: Pfleger treffen ein, besänftigen hier, maßregeln dort.

Fällt alles in Scherben?

Die schrille Stimme einer Schwester: "Wieviele haben Sie davon eingenommen? Alle? Alle?" Man könnte mich fragen: "Wieviele Gläser haben Sie gesoffen?" Aber ich brauche nur ein einziges, trinke das nicht mal, komme trotzdem auf die andere Seite.

Die Selbstmordversuchende reagiert nicht; kurz vor einer allgemeinen Schockstarre heult der Stationsalarm los. Niemand redet jetzt mehr verständlich, zwischen Flüstern (zur Patientin mit der Überdosis?) und Schreien (zu den hysterischen Patienten, die später noch eine Spritze bekommen?) spielt sich nichts mehr ab. Der Alarm wird abgeschaltet: Der Arzt scheint eingetroffen zu sein, den Sprachfetzen nach zu urteilen: "Magen... Stabilisator... Dosis... Pupille..." Ringsum ist nun alles still: Sie hören einem Ohrenkino zu, das kreativ mit Stille, Stimme und Schockstarre spielt. Ich für meinen Teil steigere das ganze im Hintergrund zur Tragödie.

Ich erstarre unter meiner Bettdecke, wie ein Insekt, das mit Amoniak betäubt wurde oder aber unter Glas liegt. Der Arzt ist dabei, das Mädchen zurückzuholen. Er steht unter Stress. Macht sich Druck. Ich stehe unter Stress. Drücke auf das Glas. Draußen werden die Intervalle der Stille wieder kürzer: Vereinte Kräfte bringen das Mädchen ins Leben zurück. Bringen Scherben schon Glück, bevor sie existieren? Ich verstärke den Druck auf das Glas. Glas kennt zwei Zustände: Starr oder in Scherben. Dazwischen liegt ein Sekundenbruchteil. Ich mag das. Das Glas muss genau dann zerbrechen, wenn der Lärm draußen dies angemessen übertönt. Meine Hände sind durch die Bettdecke geschützt. Meine Bauchdecke nicht: Sie presst sich still und langsam dem Glas entgegen. Ich liege zusammengekrümmt, wie in der Stille und Wärme des Mutterleibes. Außer der Stille gibt es den lauten Vorgang, in diese Welt gepresst zu werden. Ich wähle den Mittelweg.

Bin erstarrt unter meiner Bettdecke, wie ein aufgespießter Schmetterling - Schon mal besser als eine zusammengekrümmte Raupe... der Augenblick Stille ist einzigartig, denn danach kommt nur noch ewige Ruhe.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Marcus Soike,

ich musste den Text zwar mehrfach lesen, um ihn komplett zu erfassen, aber dafür wurde er jedes Mal besser. :)

Gefühle des Prot hast Du gut eingefangen, auch die Stimmung in ihm und um ihn herum ...

Vielleicht könntest Du einige Absätze zu Beginn entfernen.

Viele Grüße

DS
 



 
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