Das Gutachten

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Matula

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Der nachstehende Text ist keine Kriminalgeschichte. Das "Whodunit" wird nach einigen Sätzen mit Hilfe eines Polizeiprotokolls als Einleitung zu einer forensisch-psychiatrischen Untersuchung geklärt. Nur das "Why done it" bleibt (fast) bis zum Ende offen.


Gleich nach dem Frühstück steckte Charly, das ist der Justizwachebeamte, der mich mit Zigaretten versorgt, den Kopf zur Tür herein und sagte: "Frau Bartok, machen Sie sich fertig, der Doktor Prätorius ist schon da und wartet!"
"Aber wieso, wir haben doch halb neun ausgemacht?!", erwiderte ich empört, denn ich kann es nicht leiden, wenn man sich nicht an Vereinbarungen hält.
"Fragen Sie nicht lange, ziehen Sie sich an, er hat nicht ewig Zeit!"
Charly wurde immer sehr autoritär, wenn Dritte im Spiel waren, wie der Untersuchungsrichter, der Staatsanwalt oder wie jetzt, der Gerichtspsychiater. Ansonsten war er ein umgänglicher Typ. Irene, die die Zelle mit mir teilt, ließ ihren Dostojewski sinken und musterte mich.
"Du könntest den Pullover verkehrt herum anziehen, aber kämm Dir die Haare, sonst riecht er den Braten. Und denk daran, was wir besprochen haben."
"Ist gut!", rief ich, "Bis bald!"
Ich muss sagen, dass ich sehr nervös war. Charly führte mich in einen stark ausgeleuchteten kleinen Raum, wo der Doktor schon auf mich wartete. "Frau Bartok, die Angeklagte", sagte Charly, verbeugte sich und verließ ganz zackig das Zimmer.

Dr. Prätorius war mir auf Anhieb sympathisch, leider, wie ich heute sagen muss. Er war noch recht jung, vielleicht Mitte dreißig, jedenfalls noch keine vierzig. Ich hatte einen säuerlichen alten Herrn mit Glatze und Brille erwartet, keinen lässigen jüngeren Mann in Jeans und Sakko. Auf dem Tisch zwischen uns lag Papier, ein Stift, ein Tonbandgerät und meine Gerichtsakte.

"Nun lassen Sie uns zurück an den Anfang gehen", sagte er freundlich und öffnete den Akt. "Sie haben laut Polizeibericht vom 19. März, am 18. März dieses Jahres Ihre Wohnungsnachbarin, Frau Rosa Komarek, 74, getötet, indem Sie ihr einen Plastiksack über den Kopf gestülpt und zugebunden haben. Einige Stunden später haben Sie die Tat dem zuständigen Polizeikommissariat gemeldet. Für das Opfer kam jede Hilfe zu spät. - Soweit die Fakten. Wollen Sie mir erzählen, wie es dazu gekommen ist?"
Ich hatte den Eindruck, dass Dr. Prätorius ernsthaft an meiner Geschichte interessiert war und wollte ihm alles so ausführlich wie möglich schildern.

"Also eigentlich hat alles damit begonnen, dass mich Gino am Ende des Sommers gekündigt hat. Gino gehört die Boutique, in der ich fast fünf Jahre gearbeitet habe. Sie heißt 'Gino 2 Go' und verkauft sehr teure Sachen. Gino heißt eigentlich Kurt, aber er nennt sich Gino, weil das besser zu ihm passt. Er ist ein ziemlich verrückter Typ, der ein paar Semester Kunstgeschichte studiert und in Italien gelebt hat. Seit damals hat er Beziehungen zu italienischen Modedesignern. Mir hat von den Sachen kaum etwas gefallen, aber ich hab sie ihm alle verkauft. Ich war wirklich gut. Ich rede den Frauen so lange zu, bis sie nicht mehr aus können und zur Kreditkarte greifen. Ich verkaufe jedes noch so geschmacklose Fähnchen - und umgetauscht wird nichts. Bei den jungen Mädchen war ich nicht so streng, aber eine ältere Frau muss doch wissen, was ihr steht und was nicht. Da war ich unerbittlich.

Im dritten Jahr habe ich hin und wieder mit Gino geschlafen, obwohl er eine Freundin hatte und ich mit Patrick zusammen war. Es ist einfach so passiert, es hatte keine Bedeutung. Heute denke ich mir, dass es nicht so gut war, das Private und das Geschäftliche zu vermischen. Gino hat mir viel mehr gezahlt als in der Branche üblich ist. Aber ich war ja auch wirklich ein Verkaufstalent. Jedenfalls habe ich begonnen, meine Wohnung renovieren zu lassen und neue Möbel gekauft. Nichts Billiges, alles vom Tischler und vom Tapezierer. Es hat ein Vermögen gekostet, vor allem das Piano, aber mit meinem Gehalt war es ganz leicht, einen Kredit zu bekommen.

Dann ist Patrick arbeitslos geworden und hat die meiste Zeit bei mir gewohnt. Ich wollte nicht kleinlich sein, sondern so großzügig wie Gino. Also hab ich ihn durchgefüttert und nichts dafür verlangt. Meinem Budget hat das nicht so gut getan. Im August haben wir uns getrennt. Er hat sich über meine teuren Anschaffungen geärgert und immer genörgelt, dass ich mein Geld nicht zusammenhalten kann. Irgendwann ist es mir zu bunt geworden, und er ist ausgezogen.

Anfang September hat mich Gino gekündigt. Er hat behauptet, dass er sich mein Gehalt nicht mehr leisten kann. Das war natürlich gelogen. Wahrscheinlich hat seine Freundin herausgefunden, dass wir ein Verhältnis hatten und hat ihn vor die Wahl gestellt. Darum sage ich ja rückblickend, dass es ein Fehler war, das Geschäftliche mit dem Privaten zu verbinden. Man muss das immer auseinanderhalten. Finden Sie nicht?" - Dr. Prätorius machte nur "mh-mh" und bedeutete mir, weiterzuerzählen.

"Also war ich plötzlich arbeitslos, hatte keine Ersparnisse, aber einen Haufen Schulden. Mit der Bank hätte ich vielleicht verhandeln können, aber nicht mit den Handwerkern. Die wollten ihr Geld auf der Stelle sehen und haben mich regelrecht bedroht. Wahrscheinlich hätte ich meinen neuen Wagen verkaufen sollen, aber ich hänge sehr an meinen Sachen. Was einmal mir gehört, das gebe ich nicht mehr her. Das wäre so, als ob ich ein Kind weggeben würde. Ich habe zwar kein Kind, aber ich denke mir, dass es sich so anfühlen müsste."

"Sie waren also in akuter Geldnot", stellte Prätorius fest. "Gab es so eine Situation schon einmal in Ihrem Leben?" - Irene hatte mir geraten, auf Zwischenfragen begriffsstutzig zu reagieren. Also tat ich so, als ob ich die Frage nicht verstanden hätte. Er wiederholte sie, ließ aber davon ab, als ich mich wieder dumm stellte. - "Wir werden in der zweiten Sitzung darauf zurückkommen", sagte er, "fahren Sie jetzt bitte fort."

"Ja also ... wo war ich? Bei meinen Schulden, die mir über den Kopf gewachsen sind. Irgendwann ist mir eingefallen, dass mir eine Nachbarin erzählt hat, dass die Komarek ihre Ersparnisse daheim aufbewahrt. Angeblich viel Geld, zigtausend Euro, hat sie gesagt, in einer Blechdose im Kühlschrank. Mir ist das Bild nicht mehr aus dem Kopf gegangen: soviel Geld gleich nebenan in einem Kühlfach! Das hat mich ganz unruhig gemacht. Wenn ich in der Nacht aufgewacht bin, habe ich gleich daran denken müssen. Soviel Geld für eine alte Frau, die es gar nicht mehr braucht! Kinder hat sie ja keine gehabt, nur von einer Nicht war einmal die Rede, aber die hat sich nie blicken lassen. Einmal hat sie gesagt, dass sie mir ein paar Sachen vererben wird, Geschirr und Bettzeug. Auch Kleider wollte sie mir schenken. 'Schauen Sie, sind die nicht schön? Das war noch eine Eleganz! Schade, dass sie Ihnen nicht passen. Heute sind die jungen Leute so groß und breitknochig.' - Damals habe ich noch nicht gewusst, dass sie soviel Geld bunkert und mir nur gedacht: Ach, behalt doch dein altes Zeug, wer braucht das schon."

"Hatten Sie öfter Kontakt zu Frau Komarek?" wollte Prätorius wissen.
Die Frage war mir unangenehm, weil ich mich nicht so gern an das Davor erinnern wollte. Ich redete ein bisschen herum, aber diesmal ließ er nicht locker. "Was ist so schwierig an dieser Frage, Frau Bartok? Waren Sie bei ihrer Nachbarin manchmal zu Besuch? Oder haben Sie sie eingeladen?"

"Nein, nein, das heißt, ich war höchstens zwei oder dreimal bei ihr. Wir haben uns meistens am Gang unterhalten, weil sie mir ja immer aufgelauert hat, um mich nach meinen Männern zu fragen. Bevor ich Patrick kennengelernt habe, war ich mit einem gewissen Walter zusammen. In den war sie ganz verschossen. 'Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre', hat sie gesagt, 'müssten Sie sich vor mir in Acht nehmen!' - Zwanzig Jahre, so lächerlich! Walter war damals siebenundzwanzig! Sie war einfach nicht bei Trost. Er hat ihr manchmal die Einkaufstasche hinaufgetragen, so wie er seiner Großmutter die Fenster geputzt hat. Und dieses dumme Weib ..."

"Und hat sie sich auch in Ihren neuen Freund ...", Prätorius warf einen Blick in seine Notizen "... Patrick verliebt?"

"Nein, der ist ihr ausgewichen, weil ich ihn gleich gewarnt habe. Das hat ihr gar nicht gepasst. 'Der Herr Patrick ist ein ganz Scheuer', hat sie gesagt, 'den muss man erst aus der Reserve locken. Ich wette, der besorgt's Ihnen nicht so gut wie der Herr Walter. Hab ich recht?' - Wenn sie so dahergeredet hat, war mir zum Kotzen. Ich bin ihr dann übers Maul gefahren, aber sie hat das leider nicht übel genommen. 'Den Herrn Walter habe ich oft bis in mein Schlafzimmer lachen gehört, vom Herrn Patrick hört man nicht einen Mucks. Schieben Sie ihm ein Taschentuch in den Mund, wenn Sie mit ihm vögeln?' - Solche Fragen hat sie mir gestellt. Manchmal hab ich sie einfach stehengelassen."

"Ist es so, dass Sie älteren Menschen ihre Sexualität übelnehmen?", wollte Prätorius wissen. Und wie er die Augenbrauen bei dieser Frage hob, war klar, dass die Antwort nur "Aber nein!" lauten konnte. Stattdessen sagte ich:

"Schauen Sie, mir ist es egal, was die Alten treiben, solange sie dabei unter sich bleiben. Nur uns Junge sollen sie mit ihrer Schmachterei und ihren Liebesnöten verschonen." Ich war froh, dass mir das "uns" eingefallen war und hoffte, dass sich Prätorius mit gemeint fühlte. "Sie als Psychologe sehen das wahrscheinlich anders. Sie müssen die Menschen ja so nehmen, wie sie sind - im Naturzustand. Ich muss das nicht. Ich erwarte, dass sich ein älterer Mann mir gegenüber wie ein Vater benimmt, und eine alte Frau wie eine Großmutter. Es hat doch jeder seine Rolle zu spielen, finden Sie nicht?"

Dr. Prätorius legt den Kopf schief und seufzte. "Ich fürchte, einen 'Naturzustand' des Menschen gibt es nicht, Frau Bartok."

"Na, ich meine, so wie die Wilden früher gelebt haben. Walter hat mir einmal von einem Indianerstamm in Südamerika erzählt, ich glaube in Paraguay. Die erschlagen ihre alten Frauen und begraben sie gleich, auch wenn sie noch am Leben sind. Man bricht ihnen das Genick oder durchbohrt sie mit einem Speer. Die alten Männer setzt man aus und überlässt sie ihrem Schicksal. Das meine ich mit 'Naturzustand'."

Prätorius blickte mich ungläubig an. "Aber da handelt es sich um Nomadenstämme mit ihren ganz eigenen Gesetzen und Notwendigkeiten. Das darf man nicht verallgemeinern. Lassen Sie uns doch lieber über Ihr Bild von einer Großmutter sprechen. Wenn ich Sie recht verstehe, hat sich Frau Komarek hauptsächlich für Ihr Liebesleben interessiert, während Sie mit wachsenden finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Haben Sie ihr jemals davon erzählt oder sie um Geld gebeten?" - Die Frage war mir wieder unangenehm und zeigte auch, wie wenig sich Prätorius die alte Komarek vorstellen konnte.

"Nein, um Geld habe ich sie nie gebeten, auch nicht um andere Dinge. Sie hat natürlich bemerkt, dass ich die Wohnung renovieren lasse. Ihre war ja gleich vis-à-vis und bei mir war dauernd die Tür für die Handwerker offen. Manchmal hat sie den Kopf hereingesteckt und gesagt: 'Na, da wird aber aufgehaust! Möchte wissen, wer das alles bezahlen wird.' - Ich glaube nicht, dass sie mir Geld geborgt hätte oder gar geschenkt. Sie wollte nur hin und wieder bei sich daheim ausmisten und dann ist ihr das alte Klump eingefallen. Sie war eine Mischung aus neugierig, geil und niederträchtig."

"Also in Ihren Augen alles andere als eine Großmutter", stellte Prätorius fest und blätterte in seinen Aufzeichnungen. "Gut, dann erzählen Sie jetzt bitte, was sich am 18. März ereignet hat."

"Der 18. März war ein Samstag. Am Samstag sind viele Nachbarn nicht daheim. Daher habe ich mich für diesen Tag entschieden. Ich kann sagen, dass ich schon Mitte Februar entschlossen war, mir das Geld von der Komarek zu holen, weil mir das Wasser bis zum Hals gestanden ist. Da habe ich auch gleich mit den Vorbereitungen begonnen. Der Plan war, sie heraus zu läuten und gleich zu knebeln und an einen Küchensessel zu binden. Nachdem sie viel kleiner und schmächtiger war als ich, wusste ich, dass das kein Problem sein würde. Allerdings wollte ich unbedingt vermeiden, dass sie mich erkennt, weil ich sie ja nicht töten wollte. So bin ich auf die Idee gekommen, mich als Mann zu verkleiden. Ich habe mir den Oberkörper und die Arme bandagiert, einen alten Trainingsanzug von Walter angezogen und eine Hexenmaske aufgesetzt, darüber eine schwarze Schimütze. Für die Füße hatte ich ein Paar Sportschuhe, die Patrick bei mir vergessen hat. Mit mehreren Socken übereinander haben sie ganz gut gepasst. Obwohl ich mit der Hexenmaske nicht glücklich war, wollte ich nichts Neues kaufen, um der Polizei keine Hinweise zu liefern. Sie hätten ja sonst alle Fachgeschäfte abgeklappert und irgendwer hätte sich womöglich erinnert. Eine Ausnahme musste ich bei den Handschuhen machen, weil ich normalerweise keine trage. Also hab ich gefütterte Lederhandschuhe gekauft. Die durften nicht zu groß sein, weil ich die Komarek ja fesseln wollte. Dafür braucht man Fingerspitzengefühl, sozusagen. Anfang März war dann alles beisammen. Ich hab es wieder und wieder anprobiert und vor dem Spiegel überprüft."

"Das war tatsächlich sehr viel Aufwand", sagte Prätorius, und ich bildete mir ein, eine gewisse Anerkennung aus diesem Satz herauszuhören.

"Ja, meine Vorbereitung war top! Sie hätten meinen Bizeps sehen sollen! Später daheim hätte ich dann alles verpackt und irgendwo am anderen Ende der Stadt in eine Mülltonne geworfen; nur die Maske wollte ich verbrennen."

"Aber was hätte mit Frau Komarek geschehen sollen, nachdem Sie das Geld an sich genommen und die Wohnung verlassen hatten? Irgendwer hätte sie finden müssen, ehe sie stirbt, mit dem Knebel im Mund."

"Ja, aber das war einfach, weil jeden Montag Morgen eine Nachbarin bei ihr vorbeischaut und sie fragt, ob sie ihr vom Einkaufen etwas mitbringen soll. Es ist die Nachbarin, die mir vom Geld im Kühlschrank erzählt hat. Die hätte sicher gleich die Polizei geholt, wenn die Komarek nicht geöffnet hätte, Viel heikler war der Punkt, wie ich in meine Wohnung zurückkehren konnte, ohne dass sie mich hört. Ich habe mir alles mögliche überlegt, bis mir der Dachboden eingefallen ist. Der wird seit Jahr und Tag nicht benutzt und ist von unserem Stockwerk aus direkt zugänglich. Also habe ich dort Kleider deponiert, die ich nach dem Überfall anziehen wollte, falls mich doch jemand sieht. Aber das war ziemlich unwahrscheinlich. Eine halbe Stunde später wäre ich dann in meine Wohnung gegangen."

"Solche Verkleidungen kennt man aus Opern und Lustspielen, aber selbst dort sind sie nicht überzeugend", meinte Prätorius. "Die Gefahr, von Ihrer Nachbarin erkannt zu werden, war doch erheblich. Wäre es nicht viel einfacher gewesen, sie oder jemanden aus Ihrer Familien um ein Darlehen zu bitten?" Ich wurde ein bisschen wütend, weil er wieder mit dieser Frage daherkam.

"Herr Doktor, es wird Sie vielleicht überraschen, aber in meiner Familie hat niemand Geld, das er verleihen könnte. Im Gegenteil, jeder hat Kredite laufen, auch meine Mutter, Und was die Frau Komarek betrifft, habe ich Ihnen ja gesagt, dass unser Verhältnis nicht das beste war. Sie hat sich nie für mich interessiert. Es ging immer um Walter und später um Patrick. - Manche Frauen werden auch im Alter nicht mütterlich und manche Männer wollen statt Geld lieber ihren alten Samen verschenken."

Prätorius machte sich ein paar Notizen, dann forderte er mich auf, das Ende der Geschichte zu erzählen.

"Also, um es kurz zu machen: ich habe am Abend bei ihr geläutet, als sie schon vor dem Fernseher gesessen ist, weil sie ja tagsüber immer gleich am Türspäher war, wenn sie meine Wohnungstür gehört hat. Sie hat gleich aufgemacht, misstrauisch war sie nicht. Ich hab sie wortlos am Genick gepackt und ihr ein Knäuel Papiertaschentücher in den Mund gestopft. Das hab ich vorher an mir selbst ausprobiert. Sie war so überrascht, dass sie nur leise geschnauft und mit den Augen gerollt hat. Dann hab ich sie in die Küche gedrängt und an einen Sessel gebunden, mit einer Wäscheleine. Dabei gab es ein kleines Gerangel."

"Hatten Sie keine Sorge, dass sie bei diesem Vorgang zu Schaden kommen könnte?", wollte Prätorius wissen. "Immerhin war sie Mitte siebzig und wahrscheinlich nicht mehr ganz gesund."

"Nein, die Sorge hatte ich nicht. Ich habe ihr sogar noch eins von ihren Geschirrtüchern um den Mund gebunden, falls sie die Papiertaschentücher hinunterwürgt. Ich hätte ihr die Augen verbinden sollen, aber daran habe ich leider nicht gedacht. Ich war mir meiner Sache sehr sicher. - Dann kam eine richtig filmreife Szene: ich bin zuerst in ihr Schlafzimmer und hab dort alle Kästen und Schränke aufgerissen und durchwühlt. Sogar die Matratze hab ich vom Bett geworfen. Sie hat mich dabei von der Küche aus beobachtet. Ich hab mir gedacht: Ja schau nur! Jetzt hast du endlich deinen Herrenbesuch. Dann bin ich ins Wohnzimmer und hab dort alles durcheinandergeschmissen. Dabei bin ich auf ihre Schmuckschatulle gestoßen, aber die hab ich ihr gelassen. - In der Küche, bevor ich zum Kühlschrank wollte, ist mir dann ein schwerer Fehler passiert. Während unserer Rangelei hat sich die untere Tür der alten Küchenkredenz geöffnet, ohne dass ich es bemerkt habe. Schuld war sicher die Maske. Sie schränkt das Gesichtsfeld ein. Jedenfalls bin ich mit dem Schienbein voll gegen diese Tür geknallt und habe vor Schmerz aufgeschrien. Im nächsten Augenblick war mir klar, dass ich mich dadurch verraten hatte und die Komarek jetzt wusste, wer ich war."

"Das müssen Sie mir näher erklären", unterbrach mich Prätorius. "Wieso dachten Sie, dass Ihre Nachbarin Sie nun erkannt hatte? Ein Schmerzensschrei ist doch eher unspezifisch, oder haben Sie dabei geflucht, so etwas wie 'Verdammt!' oder 'Scheiße!' gerufen?"

"Ich glaube nicht. Es war einfach ein Schrei, aber sie hat mich plötzlich so wissend angeschaut. So, wie sie mich immer angeschaut hat, so boshaft und hinterhältig. Ich kann das schwer beschreiben. Es gibt doch Leute, die immer Hintergedanken haben. Man redet mit ihnen und spürt gleich, dass sie nicht denken, was sie sagen, dass sie sich insgeheim über einen lustig machen. Die Komarek war so jemand. Ich war für sie nur eine kleine dummer Verkäuferin. Das konnte ich immer in ihren Augen lesen."

Dr. Prätorius legte seinen Stift beiseite und sah mich prüfend an. "Sie haben also aus der Art und Weise wie Frau Komarek Sie angeschaut hat, den Schluss gezogen, dass Sie jetzt überführt sind. Ist das richtig?"

"Ja, das ist richtig. Ich habe kurz überlegt, ob ich mir jetzt die Maske vom Gesicht reißen soll und ihr sagen, dass alles nur ein Scherz war und sie mir nicht böse sein soll. Aber dann hab ich mich anders entschieden. Ich wusste, wo sie alte Plastiksäcke aufbewahrte, weil sie mir einmal einen geborgt hat. Ich bin also zum Vorzimmerschrank und hab einen roten ausgesucht, auf dem 'Wurst und Fleisch von Firma Weiss' stand. Den hab ich ihr von hinten übergestülpt und ihn im Nacken zugebunden. Ich war froh, dass er nicht durchsichtig war. Danach bin ich gleich in meine Wohnung gegangen, weil ich ihr Herumzappeln nicht sehen wollte."

"Und das Geld? Haben Sie das Geld gar nicht mitgenommen?"

"Nein. Ich hab es völlig vergessen. Wahrscheinlich war mir schon zu diesem Zeitpunkt klar, dass ich zur Polizei gehen würde, was ich ja auch ein paar Stunden später getan habe. Die Beamten sind sofort losgezogen, aber sie war natürlich schon tot. - Nachdem der Sack zugebunden war, hatte ich das Gefühl, alles erledigt zu haben. Merkwürdig war das schon."

Prätorius nickte. "In Ihrer Akte steht, dass Sie bei Ihrem Geständnis ruhig und gefasst wirkten. Wie denken Sie heute über die ganze Sache? Bedauern Sie, was geschehen ist?"

Die Frage war mir sehr unangenehm, weil ich sie als Einladung zum Lügen verstand. Irene hatte mir geraten, hin und wieder in Tränen auszubrechen, am besten sei haltloses Weinen, aber ich schaffte es nicht, mich in die richtige Stimmung zu versetzen.

"Heute denke ich, dass ich einen großen Fehler gemacht habe. Ich hätte mich wahrscheinlich entschuldigen sollen. Andererseits glaube ich nicht, dass sie damit zufrieden gewesen wäre. Sie wäre wahrscheinlich zur Polizei gegangen und hätte mich wegen Körperverletzung angezeigt. Sicher hat sie ein paar Blutergüsse gehabt. Die alten Leute kriegen ja gleich blaue Flecken, wenn man sie anrührt. Also so gesehen ..."

"Ich möchte am Ende dieser Sitzung noch ein kleines Experiment machen", sagte Prätorius und legte seine Aufzeichnungen beiseite. "Rufen Sie sich bitte die Situation mit der Kredenztür in Erinnerung. Versuchen Sie, den Schmerz an Ihrem Schienbein nachzuempfinden und schreien Sie so, wie Sie in der Wohnung der Frau Komarek geschrien haben."

Ich hielt das für ein idiotisches Experiment, aber ich gehorchte. Er schaltete das Tonband ein und ließ mich mehrere Male aufschreien. Dann musste ich mir die Schreie wieder und wieder anhören. "Merken Sie, wie schwer es ist, so einen kurzen Ausruf einer Person zuzuordnen? Noch dazu, wenn man bedenkt, dass Frau Komarek wahrscheinlich wirklich glaubte, einen Mann vor sich zu haben? Im schlimmsten Fall hätte sie auf die Idee kommen können, dass hinter der Verkleidung eine Frau steckt, aber sie hätte allein durch diesen Aufschrei nicht erraten können, um welche Frau es sich handelt."

Ich zog es vor, ihm nicht zu widersprechen, aber überzeugen konnte er mich nicht. - Irene hat mir später große Vorwürfe gemacht, weil ich mich nicht an ihre Anweisungen gehalten habe. Sie war in Bezug auf psychiatrische Gutachten sehr versiert, weil sie schon zum dritten Mal an ihrem Arbeitsplatz ein Feuer gelegt hat. Aber man kann sich eben nur bis zu einem gewissen Grad verstellen. Mir liegt das einfach nicht.

In der zweiten Sitzung hatte ich es mit einer Psychologin zu tun. Dr. Prätorius war leider erkrankt. Sie stellte mir nur wenige Fragen, ließ mich aber alle möglichen Tests absolvieren, auch den Rorschach-Test, von dem mir Irene erzählt hatte. Ich versuchte, soviel Absurdes wie nur möglich aus diesen Tintenklecksen herauszulesen, aber ich hatte gleich das Gefühl, dass mich die Psychologin durchschaute.

Einige Wochen später begann mein Prozess. Er dauerte viel zu lange, weil mein Anwalt unbedingt einen Totschlag herausholen wollte. Zwischendurch wurde das Gutachten in Anwesenheit der Richter und der Geschworenen zur Verlesung gebracht. Dr. Prätorius bestätigte mir volle Zurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt. Was sonst noch darin stand, habe ich vergessen.
 
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Aufschreiber

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Hallo Matula,

der Text liest sich gut. Was mir ein bisschen fehlt, ist eine größere Dynamik. Also die Punkte, an denen die Protagonistin sich sorgt, ertappt fühlt, rätselt, ob ihr Verhalten Sinn ergibt, ... Es liest sich nicht schlecht, aber mein "Spannungslevel" steigt nicht.

Vielleicht könnte man die Interaktion noch eindrücklicher machen, so nach dem Motto:
"Sein Augenlid zuckte kurz. In mit knallte der Gedanke hoch: 'Jetzt hat er dich geschnappt...' Aber im nächsten Moment war er wieder unbeteiligt, ganz der Profi ..."

Ist vielleicht nicht wichtig, würde mir aber gefallen, wenn es mehr Einsicht in die Person gäbe. Es ist mir nicht wirklich klar, ob sie denn eine "Unzurechnungsfähigkeit" wirklich erreichen will.

Nur so ein paar Gedanken.

Beste Grüße,
Steffen
 
Hallo Matula,

du hast einen schönen Schreibstil. Liest sich alles flüssig, es gibt keine Längen, es passt alles.

Ein paar Textstellen:

"Hatten Sie keine Sorge, dass sie bei diesem Vorgang zu Schaden kommen könnte?" KOMMA wollte Prätorius wissen.
Die alten Leute kriegen ja gleich blaue Flecken, wenn man sie anrührt. Also so gesehen ...".
Kein Punkt nach dem Gänsefüßchen.
Da könnten noch mehrere wörtliche Reden betroffen sein.

Ich hielt das für ein idiotisches Experiment, aber ich gehorchte. Er schaltete das Tonband ein und ließ mich mehrere Male aufschreien. Dann musste ich mir die Schreie wieder und wieder anhören. -"Merken Sie,
Was sollen denn die vereinzelten Bindestriche zwischen Geschehen und wörtlicher Rede?

"Aber wieso, wir haben doch halb neun ausgemacht?!" KOMMA erwiderte ich
Was mich ein wenig wundert ist, dass der Dr. ihr sozusagen durch das "Nachspielen" beweist, dass die Alte durch den Aufschrei gar nicht wissen könnte/sollte, dass es sich um ihre Nachbarin handelt. Ist das in der Realität so? Ist das nicht eher Sache der Ermittler bzw. Verteidiger?

Du hast dich entschlossen, das Gutachten/die Gespräche in den Vordergrund zu stellen.
Finde ich auch in Ordnung, allerdings geht für mich – ähnlich wie es @Aufschreiber sagt - dadurch die Spannung verloren.
Du sagst schon direkt am Anfang, dass die Alte ermordet wurde, dass Bartok die Mörderin ist, dass sie das Gespräch hat und wohl auch später verurteilt wird. So gibt es also keine Klimax, keinen Spannungsaufbau, alles wird "im Nachgang" lediglich "nacherzählt".

Mein Tipp wäre hier, erst während des Gutachten mit der Sprache rauszurücken, dass Bartok die Alte am Ende auch tatsächlich umgebracht hat, das am Anfang offen oder ein wenig schwammig zu lassen.

Wenn es aber meine Geschichte wäre, hätte ich sie im Live-Geschehen geschrieben, also ohne das Gutachten. :)

Was ich mich die ganze Zeit gefragt habe: Was ist eine Kredenztür? Ist das der Wortschaft einer etwa 30-Jährigen? Ist das eine Art Durchreiche? Aber wieso stößt sie dann mit dem Schien (? Schienbein?) dagegen?

Gerne gelesen.

Liebe Grüße, Franklyn
 

Matula

Mitglied
Guten Abend Steffen,
guten Abend Franklyn Francis,

es tut mir leid, dass Euch der Text nicht in Atem gehalten hat, aber ich wollte keinen Krimi verfassen, sondern eine forensische Erstexploration beschreiben, bei der es im Hintergrund um die Frage Strafvollzug oder Maßnahmenvollzug geht. Daher muss zu Beginn das Polizeiprotokoll als Sachverhaltsdarstellung vorgelesen werden.
Die Protagonistin ist, wie viele Delinquenten, in puncto Zurechnungsfähigkeit zwiespältig. Zum einen gibt es den kriminellen Dünkel (hier die akribische Vorbereitung), zum anderen die Hoffnung auf ein mildes Urteil. Ihre Strategie ist halbherzig, weil sie um ihre nicht verminderte Zurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt weiß und von der Justiz - wie zuvor von Frau Komarek - nichts geschenkt haben will. Die Konfrontation der Protagonistin mit ihrem Irrtum betrifft die Schuldfrage und wäre in der psychiatrischen Untersuchung jedenfalls aufzugreifen.
Aber vielleicht ist das Thema zu entlegen. Vielleicht wäre es besser gewesen, den Konflikt zwischen wohlhabenden Alten und von Armut bedrohten Jungen in den Vordergrund zu rücken.

Ich danke Euch herzlich für die Durchsicht und werde gleich die überflüssigen Zeichen beseitigen.

Ach ja: eine "Kredenz" ist ein Küchenschrank, wie man ihn in vielen österreichischen Haushalten noch findet. Man bewahrt dort Geschirr, Töpfe und Besteck auf. Wer keine Einbauküche hat, hat idR eine Kredenz. Man kann sie auch heute noch im Fachhandel erwerben.

Einen schönen Abend und liebe Grüße,
Matula
 

Aufschreiber

Mitglied
Hallo Matula,

vielen Dank für Deine Erläuterung! Diese Aspekte waren mir tatsächlich unbekannt und ich hätte sie nie in Erwägung gezogen. Erschiene es Dir sinnvoll, Deinem Text irgendeinen erklärenden Einleitungsteil voranzustellen? Ich meine, das könnte hilfreich sein.

Wie auch schon Franklyn schrieb, ist Dein Schreibstil gut und schön. Nur bleibt die Idee der Leserschaft verschlossen, ohne Deine Hinweise.

Beste Grüße,
Steffen
 
Hallo @Matula

danke für deine Rückmeldung.

Die forensische Erstexploration ist dir gelungen, es gibt keinen Grund, dass es dir leid tut.

Ihre Strategie ist halbherzig,
Ja, das kam sehr gut rüber.

Ich meine, ich habe solche Situationen schon öfter in Filmen gesehen, da war zuvor meistens auch klar, wie die Sachlage aussieht (Tat, Täter etc.)
Es wäre eine ganz andere Geschichte, wenn du offen lässt, ob sie tatsächlich den Mord begangen hat oder ob die Alte mit dem Leben/Schreck davon kam.

Danke auch für die Erläuterung der Kredenz. Österreich also, soso ... :)
Freue mich auf weitere Geschichten von dir. Ich stöbere mal eine wenig bei dir herum.

Schönen Tag und
liebe Grüße aus dem Westen Deutschlands, Franklyn
 

Matula

Mitglied
Grüß Dich Steffen,

so, jetzt ist alles klar! Krimileser müssen im einschlägigen Forum suchen.

Herzliche Grüße,
Matula
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Matula,
der Text war wieder elegant geschrieben. Jetzt kann man eigentlich schon sagen: "Wie gewohnt"

Für mich schafft dein Text größtenteils was er sich vornimmt. Das why dunnit war mehr als genug Motivation, um weiter zu lesen. Eine Reserveportion Neugier erzeugst du ja auch noch mit der Frage, was es mit Irene auf sich hat.

Trotzdem könnte man den Spannungsbogen auch nach meiner Meinung noch verbessern. Für mich ist der gelungene Höhepunkt ihre Erkentniss, dass der Schrei sie wohl nicht verraten hätte. Platt gesagt, geht mir die Geschichte danach noch zu lange weiter. Das hat beim Lesen dann kaum noch Spaß gemacht.
Ich schließe mich auch an, dass das Tonexperiment des Doktors etwas bemüht wirkt. Zu ihrer Erkentniss kannst du die Erzählerin auch durch weniger Aufwand kommen lassen.

Die vorangestellte Erklärung spricht mich nicht so an. Ich fühle ich mich da zu sehr an die Hand genommen. Worauf ein Text hinausläuft, will ich als Leser selber erschnüffeln.
Wenn, dann würde ich die versuchen, diese Gebrauchsanweisung "in universe" zu vermitteln. Vielleicht als Gedanken der Protagonistin ganz am Anfang, irgendwie in Richtung: "Alle wissen sie doch, dass ich es getan habe. Warum müssen sie noch weiter nach dem warum bohren?"
Das ist zumindest meine Meinung. Weiter oben hast du das Gegenteil zu lesen bekommen. Mit Feedback Wirrwar muss man als Autor halt leider leben.

Aber vielleicht ist das Thema zu entlegen. Vielleicht wäre es besser gewesen, den Konflikt zwischen wohlhabenden Alten und von Armut bedrohten Jungen in den Vordergrund zu rücken.
Bei entlegenen Gebieten lohnt sich doch gerade die Erkundung.
Vielleicht war der Text anders gemeint, aber mir hat gerade gefallen, dass du keine zwingenden Begründungen für den Mord gegeben hast. Es läuft darauf hinaus, dass es ein dummer Affekt war, ein Schamgefühl, eine Überforderung. So ticken Menschen. Das Thema lohnt sich zu ergründen.

Viele Grüße
lietzensee
 

Matula

Mitglied
Grüß Dich lietzensee !

Vielen Dank für Dein freundliches Feedback. Beabsichtigt war zu zeigen, dass Prätorius versucht, Bartok mit der Realität zu konfrontieren und damit scheitert ("Ich zog es vor, ihm nicht zu widersprechen, aber überzeugen konnte er mich nicht."), weil Bartok den Mord vor sich selbst rechtfertigen können muss. Andernfalls wäre er eine sinnlose Tat gewesen, die die Kohärenz ihrer Persönlichkeit in Frage stellen würde - und von tieferreichenden Motiven möchte sie nichts wissen. - So gesehen ist es keine Geschichte über eine Erkenntnis, und das Ende notwendig, weil man ja erklären muss, wohin das Gutachten geführt hat.
Wahrscheinlich muss man entlegene Themen ausführlicher abhandeln.

Herzliche Grüße,
Matula
 



 
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