Das Haus

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Bei der folgenden Geschichte handelt sich um ein Phantasieprodukt des Autors, um reine Fiktion. Sollte es Ähnlichkeiten mit irgendwelchen realen Personen oder Ereignissen geben, so sind diese rein zufällig. Na ja, mag sein, dass irgendein Teil - wenn auch ganz bestimmt in keiner bösen Absicht – etwas mit der - oder irgendeiner - Wirklichkeit zu tun hat.


Das Haus

Die Frau steht vor dem Haus, einem im Flusstal sich hinstreckenden flachen Bau. Sie heißt Reina und das Haus gehört ihr. Viele kommen in diese Straße, zufällig oder absichtlich, halten, weil sie eine angenehme Person ist, fahren aus ihren farblosen Gedanken hoch und sprechen sie an. Einige verabschiedet sie gleich an der Tür, Handelsvertreter zum Beispiel, doch die meisten dürfen eintreten.

Alex steht auch da, doch er muss warten, bis sie ihn einlässt. Sie behandelt ihn nicht besser als die Anderen, die hierher gekommen sind. Sie macht bei ihren Besuchern allerdings schon deutliche Unterschiede. Bloße Bekannte lässt sie, wenn sie mit ihnen spricht, einfach im Vestibül stehen, das eigentlich nur der vordere, etwas weitere Teil des Flurs ist. Eher selten stellt sie solchen Besuchern Klappstühle hin, und falls doch, bleibt kaum jemand länger sitzen, denn die Haustür wird während der Unterhaltung nicht geschlossen, weil sonst dieser Eingangsbereich dunkel wäre, und selbst im Sommer weht durch die Öffnung stets unangenehm kühle Luft. Wer nicht frieren will, tut gut daran, einen Mantel zu tragen. Und weil es an den kahlen Wänden keine Garderobenhaken gibt, kommen die Leute gleich gar nicht auf die Idee, irgendwelche Kleidungsstücke abzulegen, und gehen bald wieder.

Erscheinen Nachbarn, bittet sie diese in den zweiten Raum, einen dämmerigen kleinen, wohltemperierten Salon mit einem dünnen Lichtschacht in der Decke, mit gepolsterten Bänken, welche denen, die sich auf ihnen niederlassen, einen festen Halt geben. Den scheinen die meisten zu brauchen, denn bei ihnen handelt es sich nur selten um glückliche Menschen. Häufig bleiben sie bis weit in den Abend, um Reina von den Bedrückungen ihres Lebens zu erzählen, sich bei ihr auszuweinen. Sie wollen, dass ihnen einer zuhört, die Tränen abtupft und ihre Last tragen hilft. Das tut Reina gern, denn sie ist ein mitfühlender Mensch, und alle schätzen sie für ihr aufmerksames Zuhören und ihre behutsame, unterstützende Art.

Folgt man dem Flur weiter, gelangt man links zur Tür der Küche, wo sie morgens meist nur ihren Kaffee macht, weiter kein Frühstück, und das Mittagessen fällt bei ihr entweder ganz aus oder besteht höchstens aus einem Salatblatt, denn sie möchte schlank bleiben, eine völlig unnötige Vorsichtsmaßnahme, denn sie würde bei ein paar Pfunden mehr oder weniger immer noch genauso hinreißend aussehen, schmal und groß, wie sie ist, mit ihrem lebendigen, ausdrucksvollen Gesicht. Gegen Abend duftet es manchmal von der Küche her verführerisch im ganzen Haus, denn sie ist eine Genießerin, lädt gern Tischgenossen ein und bereitet raffinierte Gerichte zu, woraus dann durchaus ein Vorspiel für mehr werden kann.

Gegenüber auf der rechten Seite liegt das Gästezimmer, in dem sie Verwandte oder Freunde unterbringt. Dort steht ein Kanapee, zum Schlafen oder um sich einfach auszuruhen. Das Fenster ist mittelgroß und lässt genug Helligkeit herein, dass man auch lesen kann, wenn man die Jalousien hochzieht.

Nicht alle, die sich hier aufhalten, wollen lesen. Einige setzen sich noch nicht einmal, so wie Alex, der mittlerweile in dieses Zimmer abgeschoben worden ist und darin auf und ab geht wie ein Panther in einem viel zu engen Käfig. Nur manchmal hält er an, sein Blick bleibt an den Kritzeleien hängen, mit denen die Wände bedeckt sind, und er fragt sich, wie viele Männer wohl schon vor ihm in dieser Kammer ausharren mussten. Er hatte bereits schon länger mit Reina in ihrem Schlafzimmer zusammen sein dürfen, doch dann sagte sie ihm, dass inzwischen ein zweiter Mann in ihr Haus gekommen sei, einer, den sie schon lange kenne und dem sie seinen gewohnten Platz auf ihrem Sofa und in ihrem Bett nicht vorenthalten wolle. „Ich liebe dich ja auch“, fügte sie hinzu, „aber jetzt ist er da und ich möchte dich bitten, dass du dich erst einmal ins Gästezimmer zurückziehst.“ Das tat er. Was blieb ihm denn auch anderes übrig?

Das gerade erwähnte Sofa steht im Wohnzimmer, das sich linker Hand an die Küche anschließt und durch zwei Fenster viel Licht bekommt, doch sind die Vorhänge meist zugezogen, weil Reina von Neugierigen in den gegenüber liegenden Häusern nicht beobachtet werden will, wenn sie mit guten Freunden da sitzt. Sie möchte auch nicht gesehen werden, wenn sie alleine ist, sich auf dem breiten, bequemen Polstermöbel einfach ausstreckt und die Füße hochlegt. Oder wenn sie dort einen Mann küsst.

Hat sie einen Liebhaber erst einmal zum Küssen auf ihre Chaiselongue gelassen, öffnet sie ihm gewöhnlich schon bald die Tür ins Zimmer am Ende des Flurs, in dem ein breites Bett steht und aus dem strahlendes Licht hervorbricht, weil eine Wand mit riesigen Fenstern und einer Glastür zur Sonne hin geöffnet ist und tagsüber meist unverhüllt bleibt. Auf dieser Seite gibt es nur ihren eingefriedeten Garten, keine anderen Häuser und außer Katzen keine Streuner, die hereinschauen könnten. Reina zieht höchstens am Abend die Vorhänge zu oder lässt die Rollläden herab, und dies auch nur dann, wenn sie am nächsten Tag ausschlafen will. Sie ist es gewohnt, die Fenster gekippt zu lassen, damit Luft hereinkommt, wenn sie schlafen geht, und sie steigt, von einem Hemdchen abgesehen, stets nackt ins Bett, egal, ob gerade ein Mann bei ihr ist oder nicht.

Einer der Männer, mit denen sie sich auf das Sofa und dann ins Bett legte, hieß Oswald. Sie liebte ihn und er durfte lange bleiben. Doch die Liebe war intensiver als alles, was sie davor erlebt hatte, und Reina wusste nicht wirklich, wie sie damit umgehen sollte. Ihre starken Gefühle für Oswald mischten sich irgendwann mit Unsicherheit, die zu einem vagen Unbehagen wurde und in eine Verwirrung mündete, bis schließlich ihre Seele heimlich begann, gegen den Liebeswahnsinn aufzubegehren. Musste sie, Reina, nicht davon wegkommen, damit sie sich selber nicht verlor? Ihre Gedanken gingen im Kreis und in die Irre, bis sie, als Oswald eines Tages nicht da war, einem ihrer Wohnungsnachbarn die Tür öffnete und ihn gleich danach auf ihr Sofa ließ und in ihr Bett. Das verschaffte ihr im Augenblick einen willkommenen Abstand zu Oswald, doch tat ihr dieser überstürzte Akt schon bald Leid. Sie erzählte ihm, was geschehen war, und sah, wie sehr sie ihn damit verletzt hatte, wie unsäglich er litt. Dabei war er doch immer noch der Mann, mit dem sie leben und Kinder haben wollte. Sie hatten dann trotz allem zwei Kinder und Oswald blieb bei ihr, doch es war nicht mehr wie vorher.

Im gleichen Jahr hatte sie bei einem einwöchigen Projekt viel mit einem Arbeitskollegen zu tun. Man kam sich näher und sie fand ihn unwiderstehlich. In diesen Theo verliebte sie sich, auch und vielleicht gerade, weil sie sich - anders als bei Oswald - nicht sicher sein konnte, dass er sie liebte. Er kam auf ihr Sofa und in ihr Bett mit, doch merkte sie bald, dass er sie zwar einerseits wollte, andererseits jedoch auch wieder nicht. Nach der gemeinsamen Projektwoche zog er sich bald für mehr als ein Jahr von ihr zurück und kam erst wieder, als er in seinem eigenen Bett gerade keine Partnerin hatte. So trieb er es über viele Jahre. Entschied sich nie wirklich für Reina, nie wirklich gegen sie und sie hatte Schwierigkeiten, damit zurecht zu kommen.

Nach Oswalds schlimmer Verletzung durch ihre Affäre mit dem Wohnungsnachbarn brachte sie es nicht über sich, ihm von Theo zu erzählen, und der machte sich immer mal wieder auf den Weg in ihr Haus, zu ihrem Sofa und in ihr Bett. Da sie an einen Ehemann und Kinder gebunden war, brauchte er nicht zu befürchten, dass sie ihn zu einer Entscheidung drängen würde. Das war ihm durchaus genehm, denn er mochte keine Entscheidungen. Weder Oswald noch die Kinder wussten von ihm und Reina. Das war ihm nicht unrecht, doch wäre er wohl nicht sonderlich beunruhigt gewesen, wenn sie etwas davon erfahren hätten. Er hatte genug damit zu tun, mit seinem eigenen Leben zurechtzukommen, da konnte er sich nicht auch noch um andere kümmern.

Nach Reinas Fluchten in die Arme anderer Männer blieb ein Riss in ihrer Beziehung zu Oswald, und sie hätte eigentlich schon bald merken müssen, dass da nichts mehr zu kitten war. Sie schloss jedoch die Augen, hoffte offenbar auf irgendeine Art von Wund- oder Wunderheilung und blieb noch viele Jahre mit ihm zusammen. Schließlich jedoch entwickelten sich die Dinge so, dass sie ihre Augen öffnete und dann keine andere Möglichkeit mehr sah, als sich von ihm zu trennen.

Sie liebte Theo noch und öffnete ihm sofort ihre Tür, als er wieder einmal zu ihr kam. Er allerdings benutzte sie bloß - wie die vorigen Male auch. Sie ließ sich davon nicht abschrecken, vielleicht wuchs sogar ihre Bewunderung für ihn, weil er unbeirrt genau der Mann blieb, der er immer gewesen war. Sie hatte freilich das Pech, dass sie ihm nicht Leid tat, wie sie da zu seinen Füßen herumkroch, und sie bekam von ihm diesmal ganz besonders schmerzhafte Tritte verpasst.

Sie litt, aber nicht besonders lange, denn da war Dieter, ein anderer Kollege, der sie schon seit einiger Zeit immer wieder angesprochen hatte und dessen Drängen sie jetzt nachgab. Sie lud ihn auf ihr Sofa ein und in ihr Bett. Dieter liebte sie nicht, begehrte sie nur, aber in ihrer damaligen Lage war ihr das eigentlich gleichgültig. So waren also mittlerweile für Oswald die inneren Türen ihres Hauses geschlossen, aber für zwei andere Männer offen, und es gab ein recht munteres Treiben in den letzten beiden Zimmern.

Einige Monate später stand dieser Alex vor ihrer Tür. Sie kannte ihn von ganz früher, als sie noch eine Jugendliche und er ihr Betreuer im Verein war. Über eine gemeinsame Bekannte tauchte er jetzt plötzlich wieder in ihrem Leben auf und schon nach kurzer Zeit verliebte er sich heftig in sie. Eine Zeitlang dachte sie, sie liebe ihn auch - und nur ihn - und sie erlebten eine wunderbare Zeit zusammen. Doch bald wurde ihr auch diese Beziehung zu eng und sie schnappte nach Luft.

Von Theo war sie nie wirklich los gekommen, und als er jetzt plötzlich wieder vor ihrer Tür stand, ließ sie ihn ein. So ganz gut fand sie das, wenn sie an Alex dachte, eigentlich nicht, doch kam es ihr nicht ungelegen, um diesem ganz deutlich zu zeigen, dass sie Abstand zu ihm haben wollte, und sie ließ in den nächsten Wochen Theo wieder auf ihr Sofa und in ihr Bett. Alex war verletzt und traurig, doch mochte er sie immer noch sehr. Es fiel ihm äußerst schwer, Reinas Zumutungen zu ertragen, doch zog er es am Ende vor, sich von ihr quälen zu lassen, statt sich von ihr zu trennen und zu riskieren, dass diese Trennung ihn mitten entzwei riss.

Theo zog sich dann mal wieder von Reina zurück und Alex hoffte auf den Frühling, die Zeit der Liebe. Würde Reina inmitten der blühenden Magnolienbäume und der nach dem Winter wieder erwachenden Natur nicht wie vordem seine Nähe suchen? Wonnemonat – na ja, so nannte man ja eigentlich erst den Mai. Jetzt war erst einmal März, und der hatte seine Tücken. „He/she is as mad as a March hare”, so verrückt wie ein Märzhase, sagten die Engländer, wenn eine Person völlig neben der Spur war, außer Rand und Band geriet.

Bitte, mein Hase, sagte Alex, bitte, doch er lächelte sie an, als er im Gras lag, weil sie ihn angesprungen und einfach umgeworfen hatte.

Während sie irgendwann später am Fenster stand, ihn, den Himmel und die Stadt anschaute, überkam sie fast so etwas wie eine Gewissheit, dass sie in dieser dreckigen Welt sich wohl doch einen ziemlich großen Rest an Reinheit bewahrt hatte, quasi ihrem Namen getreu, denn sie dachte, Reina bedeute „die Reine“. Sie wusste, dass er viel erlebt hatte und doch glaubte sie ihm, dass trotz allem auch er nicht schmutzig geworden war, und sie spürte, dass dies etwas Großes war, das sie miteinander verband.

Es war noch Nacht, als sie das Bett verließen. Sie nahm ihn an der Hand, führte ihn durch die Glastür ihres Schlafzimmers hinaus auf die Terrasse und dort standen sie und erlebten zusammen das Wunder einer neuen Morgenröte.

In diesen Tagen fing Reinas Haus an, heller zu werden als sonst, und selbst der nahebei vor sich hin stinkende trübe Fluss sah jetzt aus, als hätte er sein Wasser aus einer nach Frühling duftenden reinen Quelle auf einem nahen Berg geschöpft.
 



 
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